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Der Himmel wird beben

Page 7

by Kiefer, Lena


  Das nannte man wohl Worst Case Scenario. Ich konnte förmlich sehen, wie alle in Maraisville aufstöhnten.

  »Vertraut er dir nicht?«, fragte ich.

  Knox hob die Schultern. »Ferro ist tot und Troy erst seit drei Wochen wieder bei ReVerse. Er kennt mich kaum. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er mir nicht traut.«

  »Sicherlich wird er das bald tun.« Wenn nicht, hatte ich ein großes Problem. Troy würde mir wahrscheinlich nicht verraten, wo er die OmnI versteckte. Ich war auf Knox angewiesen.

  »Hoffen wir es«, sagte Knox. »Was hältst du von Troy? Du kennst ihn besser als ich.«

  »Ich kann ihn nicht ausstehen«, sagte ich offen. Es hatte keinen Sinn, das zu verschweigen. »Er ist ein selbstverliebter und egozentrischer Schleimer, der über Leichen geht. Ich könnte jetzt anfangen, Beispiele für seine liebreizende Art aufzuzählen. Aber du hast dieses Jahr wahrscheinlich noch etwas anderes vor.«

  Knox lachte, ein offenes und fröhliches Lachen ohne jeden Schmerz. Der Klang rührte etwas in mir, das ich nie wieder erwartet hatte zu fühlen – Hoffnung. Und dann lagen meine Arme um seinen Hals und ich umarmte ihn fest, weil ich dieses Gefühl daran hindern wollte, im Sumpf meiner unzähligen Fehler zu versinken.

  »Ich bin so froh, dass du wieder da bist«, sagte ich leise und drückte Knox an mich. Er hielt mich fest umarmt, dann küsste er mich aufs Haar, und lehnte seine Stirn an meine.

  »Das bin ich auch, Phee. Seit heute noch viel mehr.«

  Ich lächelte und der nächste Kuss war schon nicht mehr so zaghaft wie der erste. Knox strich sanft über meinen Rücken und versetzte mich zurück in eine Zeit, als diese Art von Nähe selbstverständlich für uns gewesen war.

  Vielleicht gab es Hindernisse zwischen uns, vielleicht würden wir eine Weile brauchen, um wieder die zu werden, die wir einmal gewesen waren. Aber Knox und ich hatten eine zweite Chance bekommen und ich würde sie nicht wegwerfen.

  7

  Nachtragend, wie Elodie war, hatte sie mir das mit Abstand kleinste Zimmer des Hotels zugeteilt. Es passten ein schmales Bett und ein Schrank hinein, damit war es voll. Allerdings hatte es ein Fenster bis zum Boden mit Blick auf das Meer – und es lag direkt neben den Zimmern von Knox und Jye. Das war mir lieber als jede Suite.

  Nach dem Abendessen war Tatius mit mir in die Ausrüstungskammer gegangen, damit ich mir weitere Kleidung aussuchen konnte. Dort hatte es aber nicht nur Klamotten gegeben, sondern auch ein beeindruckendes Arsenal an Waffen und Einsatzequipment. Zusammen mit ihren Verbündeten und der Technologie, die ReVerse zur Verfügung hatte, machte sie das zu einer ernsthaften Bedrohung für den König. Ich hatte nur einen halben Tag – gemeinsam mit Maraisville – das Treiben auf der Insel beobachten müssen, um das zu wissen. ReVerse war nie eine kopflose Revoluzzertruppe gewesen. Aber jetzt waren sie ernsthafte Gegner.

  Das sah nicht nur ich so. Den ganzen Abend über hatte ich Gespräche geführt und mitgehört, die nur ein Thema hatten – das Ende der Abkehr. Jeder bei ReVerse hatte sich diesem Ziel verschrieben und verfolgte es mit aller Entschlossenheit. Ich fragte mich, ob ich mich früher auch so begeistert angehört hatte, so überzeugt und leidenschaftlich. Jetzt musste ich lügen, wenn ich sagte, dass das Ende der Abkehr den Kampf wert war. Denn die Wahrheit war: Ich wusste nicht mehr, ob das stimmte.

  Bist du allein? Meine EyeLinks hatten seit zwanzig Minuten nichts mehr angezeigt.

  »Ja«, sagte ich leise und gab meinen Zuschauern einen kurzen Rundumblick in mein Zimmer.

  Wir müssen uns unterhalten. Kannst du irgendwo hingehen, wo dich niemand hört?

  »Wenn es sein muss.«

  Muss es.

  Ich verließ das Zimmer und ging zur Treppe, die hinun­ter zum Pool führte. Dort nahm ich einen Weg, der sich in schmalen Schleifen bis zum Strand wand. Unten angekommen, sah ich mich um. Die Sonne war untergegangen und das Licht des Mondes tauchte die Bungalows in graue Schatten. Niemand war in der Nähe. Ich setzte mich in den Sand und atmete aus.

  »Wir können reden«, sagte ich halblaut. Ich wusste nicht, ­worüber. Sie hatten schließlich alles gesehen.

  »Gut.« Ich zuckte zusammen, als Phoenix in meinem Ohr zu hören war. »Als du angekommen bist, hatten wir trotz der Signalbrücke in deinem Implantat kurzzeitig Probleme, durch die Abschirmung der Insel zu kommen. Das herzzerreißende Wiedersehen mit deinem Freund Nicholas Odell haben wir trotzdem live verfolgt.«

  Ich biss die Zähne aufeinander. »Haben Sie gewusst, dass er hier ist?«

  »Nein. Ich wäre nicht dumm genug gewesen, dir das zu verschweigen. Wir wissen, wie kopflos du reagierst, wenn er auftaucht.«

  Ich schnaubte. »Sollte ich deswegen allein irgendwo hingehen? Damit Sie mich beleidigen können?« Reichte es ihm nicht, dass er mich zu dieser Mission zwang, indem er meine Familie benutzte?

  »Mitnichten, Ophelia.« Arroganz schwang in seiner Stimme mit. »Ich möchte nur, dass du deinen Auftrag nicht vergisst. Und denk daran, dass ich einen Ausschalter habe, falls mir nicht passt, was du tust.«

  »Wie sollte ich das vergessen, wenn Sie mich doch ständig daran erinnern? Ich kann unmöglich aus der Reihe tanzen, solange Sie mich in der Hand haben.« Wofür ich ihn hasste, aber Phoenix zu hassen, war nicht schwer. Ihm zu gehorchen, viel mehr.

  »Nun, dein Ex ist mitsamt seinen Erinnerungen wieder im Spiel. Das zeigt mir, dass ich das Wort unmöglich in Verbindung mit dir aus meinem Wortschatz streichen sollte.« Phoenix räusperte sich. »Ich übergebe nun an Dufort. Bitte vergiss nicht, dass für dich eine Menge von deinem Erfolg abhängt, Ophelia. Niemals.«

  Es wurde still. Dann hörte ich Duforts Stimme.

  »Hallo, Ophelia. Dass die OmnI nicht auf der Insel ist, macht den Auftrag schwieriger. Was ist dein Plan?«

  Ich zuckte mit den Schultern, obwohl er das nicht sehen konnte, dann improvisierte ich. »Ich denke, dass Troy Knox bald verrät, wo er die OmnI versteckt hat. Wenn nicht, werde ich mich wohl in die Zentrale einhacken und sehen, ob ich so etwas herausfinden kann.«

  »Das solltest du auf jeden Fall tun. Wir müssen wissen, über welche Informationen ReVerse verfügt. Nicht nur, weil es jeman­dem gelungen ist, ein Clearing rückgängig zu machen. Auch die Ausrüstung dort hat hier für Beunruhigung gesorgt. Von der Beteiligung Exon Costards und seiner Verbündeten ganz zu schweigen.«

  »Kann ich mir vorstellen.« Die OmnI war nicht greifbar und Costard machte gemeinsame Sache mit ehemaligen Wirtschaftsgrößen und ReVerse. Das musste ein schwarzer Tag für Marais­ville sein. »Ich werde sehen, ob ich einen Zugang für die Zentrale bekomme.«

  »Das musst du unbedingt.« Ich hörte, wie Dufort tief Luft holte. »Bist du ansonsten in Ordnung?«

  »Ich denke schon. Wobei …« Müde rieb ich mir die Schläfen. Mein Kopf dröhnte schon seit Stunden. Selbst die Dosis HeadLock vor dem Abendessen hatte nichts daran geändert. »Es gab eine Fehlfunktion«, sagte ich zögernd. »Ich war mit Jye in der Zentrale und als ich dann die Treppe hochging, hatte ich eine Art Ausfall. Kann das an dem Neuroimplantat liegen?«

  Dufort schien zu überlegen, vielleicht sah er sich auch die Aufnahmen an. »Wir haben das bemerkt, aber die Verbindung war ­stabil. Es gab keinen Hinweis auf einen Fehler. Vielleicht liegt es an der Abschirmung der Insel. Was ist denn in dem ­Moment passiert?«

  »Das habe ich doch gesagt.«

  »Du hast gesagt, wo du warst, aber nicht, was du gedacht oder ­gefühlt hast.«

  Also doch. Es hatte etwas mit dem Gedanken an Lucien zu tun gehabt. »Es ging um Knox«, log ich. »Ich habe daran gedacht, dass er wieder da ist.«

  »Du musst deine Gefühle unter Kontrolle halten, Ophelia«, mahnte Dufort. »Dein Implantat ist mit deinem neuronalen System verbunden und kann durch extreme Gefühlsschwankungen beschädigt werden. Und wenn das Implantat ausfällt, greift das InstantClear. Du weißt, was das bedeutet.«

  »Ja.« Ich rieb mir erschöpft die Augen. »Ich werde es ver­suchen. Ist das alles?«

  »Vorerst ja. Wir melden uns wieder bei
dir.« Damit wurde es still.

  Weder Knox noch Jye waren in ihren Zimmern, als ich zurück ins Hotel kam. Auf eine Suche nach ihnen verzichtete ich und beschloss stattdessen, ins Bett zu gehen. Ich war so müde, dass ich es gerade noch ins Bad schaffte. Als mein Gesicht das Kissen berührte, war ich bereits eingeschlafen.

  Wach wurde ich, weil ich Durst hatte. Es war Nacht, außer ein paar Lampen am Pool schien draußen kein Licht zu brennen. Ich öffnete mein Fenster weit und holte mir ein Glas Wasser. Dann setzte ich mich auf mein Bett und sah nach draußen.

  Die Ereignisse des Tages liefen wie im Zeitraffer vor meinen Augen ab. Nicht einmal mein Gehirn konnte alles so schnell verarbeiten, aber es war trotzdem Ruhe in meinen Kopf eingekehrt. Das hier war das Gleiche wie mein Auftrag in Maraisville, sagte ich mir. Mit dem winzigen Unterschied, dass ich nun von meinen Auftraggebern gezwungen wurde und meine Freunde hintergehen musste.

  Aber ich würde mitspielen, abwarten und die OmnI finden. Etwas anderes blieb mit nicht übrig. In der Zwischenzeit würde ich einen Plan machen, wie ich Knox, Jye und mich ohne Clearing aus der Schusslinie bringen konnte. Und das alles unter der Nase von Maraisville und einer viel zu gut organisierten Widerstandstruppe. Kinderspiel.

  »Nein! Nicht!«

  Ein Schrei zerriss meine Grübeleien. Er klang nach großer Angst, als wäre jemand in Gefahr. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, lief auf den Flur hinaus und schaltete das Licht ein. Alle Türen waren zu, aber ein erneuter Schrei ließ mich erstarren. Die Stimme gehörte Knox.

  Ich stieß die Tür zu seinem Zimmer auf, ohne zu klopfen. Aus dem Flur hinter mir fiel Licht herein, sodass ich etwas in dem dunklen Raum erkennen konnte.

  Knox kniete auf dem Teppich vor seinem Bett und hatte das Gesicht wimmernd in den Händen vergraben. Sein ganzer Körper zitterte.

  »Knox?« Vorsichtig ging ich neben ihm in die Hocke. »Hey, Knox, hörst du mich?«

  Er nahm die Hände von seinem Gesicht. »Phee?« Er wirkte so schwach und zerbrechlich, dass es mir wehtat.

  »Ja, ich bin hier. Es ist alles okay.« Seine Augen waren offen und starrten mich an. Es schien, als wäre er in einem furchtbaren Albtraum gefangen.

  »Du bist hier?«, fragte er sehr leise und berührte mit zittrigen Fingern erst meine Haare, dann meine Wange. Sein Blick war suchend und verloren. Die Pupillen verschmolzen mit der Iris zu einem tiefschwarzen Kreis.

  »Ja.« Ich legte meine Hände auf seine und lächelte beruhigend. Als er sich entspannte, atmete ich auf. Aber plötzlich trat ein anderer Ausdruck in seine Augen. Verlangen. Sehnsucht. Knox nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich heftig. Tiefe Dunkelheit schwang darin mit, aber ich hielt ihn trotzdem nicht ab. Doch in der nächsten Sekunde riss er sich wieder von mir los, sprang auf die Füße und wich zurück bis zum Fenster.

  »Nein«, stammelte er. »Das ist nicht echt. Du bist nicht echt!« Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

  Ich richtete mich auf. »Knox, ich bin echt. Ich schwö-«

  »NEIN!«, brüllte er mich an und krallte seine Finger in die Gardinen. »Ich HASSE dich! Geh weg! VERSCHWINDE!«

  Er träumt, redete ich mir ein. Er weiß nicht, was er sagt. Aber dann begann er zu schreien, laut und markerschütternd, als hätte er große Schmerzen. Ich wollte etwas tun, aber ich war wie erstarrt.

  Auf einmal war Jye neben mir. »Geh raus, Phee.«

  »Aber –«

  »Sofort!«

  Jemand packte meinen Arm und zog mich aus dem Zimmer. Jye schlug die Tür zu, und ich hörte, wie er etwas sagte. Knox schrie immer noch.

  »Lass uns gehen.« Die Hand an meinem Arm gehörte zu Tatius und schob mich weg von der Tür, hinter der ich Knox wüten hören konnte. Zittrig holte ich Luft und ging mit ihm. Am anderen Ende des Flures wartete Elodie auf uns, in einen kurzen seidenen Morgenmantel gehüllt. Sie sagte nichts, sondern folgte uns einfach.

  Ich war immer noch völlig geschockt. Die Geschwister nahmen mich mit in die Küche, wo sie mich auf einen Hocker setzten. Elodie nahm aus der CoolUnit drei Flaschen und stellte mir eine hin. »Hier, das hilft.«

  Ich fragte nicht nach dem Inhalt, sondern öffnete den Verschluss und trank. Das Getränk brannte in Hals und Magen, aber nicht auf die Art, wie es Phoenix’ Brechmittel getan hatte. Stattdessen spürte ich, wie das Gefühl in meinen Körper zurückkehrte.

  »Was war das eben?«, fragte ich. »Was stimmt nicht mit Knox? Kann Jye ihm helfen?«

  Elodie und Tatius wechselten einen dieser Blicke, mit dem sich Menschen darüber einigten, wer antworten sollte.

  »Das Restoring ist keine exakte medizinische Behandlung mit sicherem Ergebnis«, sagte Tatius und lehnte sich an den Arbeitsblock in der Mitte der Küche. »Viola Lehair hat das Clearing erfunden, aber nie eine Hintertür eingebaut, weil sie königstreu ist und an Leopold de Marais’ Vision glaubt. Für ihre Tochter Aurora gilt das nicht. Sie war mit Ferro befreundet und hat jahrelang daran gearbeitet, diese Tür aufzutun. Aber die Prozedur ist schmerzhaft und noch in den Kinderschuhen. Knox ist der Erste, bei dem es überhaupt funktioniert hat. Alle anderen haben den Versuch nicht überlebt.«

  Ich starrte ihn an. »Das heißt, er hätte dabei sterben können und jetzt ist er wahnsinnig? Ist das eine Nebenwirkung des Restorings? Wer versucht denn so eine Selbstmordscheiße, ohne sicher zu sein?«

  »Er ist nicht wahnsinnig«, widersprach Elodie streng. »Es gibt nur Momente, in denen er nicht weiß, in welcher Realität er sich befindet.«

  »Es gibt mehrere Realitäten für ihn?!«, rief ich. Wie konnten die beiden darüber sprechen, als ginge es um einen Ausflug an den Strand?

  Schritte hallten auf der Treppe und Jye kam herein. Müde fuhr er sich über das Gesicht, dann ging er zur CoolUnit und nahm sich ebenfalls eine Flasche von dem Zeug, das die Welt etwas weniger abartig machte.

  »Knox hat sich beruhigt«, sagte er und ließ sich erschöpft auf einen Hocker fallen. Er sah Tatius und Elodie an. »Habt ihr sie schon aufgeklärt?«

  Elodie verdrehte die Augen. »Nicht ganz. Unsere Prinzessin findet das Restoring einfach zu schockierend, um sich mit den Fakten befassen zu wollen.«

  »Wie kannst du dich darüber lustig machen? Er leidet!« ­Wütend sah ich sie an, dann wurde mein Tonfall verächtlich. »Aber ich verstehe schon. Wahrscheinlich bedeutet er dir nicht genug, um wenigstens ein bisschen Mitgefühl zu zeigen. Oder Respekt.«

  Elodie starrte mich eine Sekunde an, dann knallte sie ihre Flasche auf die geflieste Fläche. Sie zerbrach in tausend Scherben. »Jetzt hör mir mal gut zu, Schätzchen.« Ihre Augen funkelten wütend. »Ich weiß, dass alle in Ehrfurcht vor dir erstarren, weil du in Maraisville warst und es mit einer Waffe bis zum König geschafft hast. Aber mir ist das scheißegal. Mich interessiert auch nicht, mit wem du schlafen musstest, um das hinzukriegen.« Ich ballte die Fäuste, als sie das sagte, aber zum Glück merkte sie es nicht. Es war ein Schuss ins Blaue, sonst nichts. »Für mich zählen nur Ergebnisse, Scale. Und das Ergebnis ist, dass der König lebt. Also hast du versagt – und wer versagt, der erzählt mir sicher nichts über Respekt. Knox und du können in seinem früheren Leben hundertmal zusammen gewesen sein, die Freundschaft zwischen mir und ihm ist trotzdem größer als das. Und wenn du noch einmal infrage stellst, was ich für ihn oder einen der anderen hier empfinde, mache ich dich eigenhändig kalt.« Sie stand auf, marschierte aus der Küche und ließ nur das Scherbenhäufchen der Flasche zurück.

  »Nimm –«, hob Jye an.

  »Sag jetzt bloß nicht, dass ich es ihr nicht übelnehmen soll«, zischte ich. Aber ich war nicht sauer, weil sie unrecht hatte. Ich war sauer, weil sie der Wahrheit sehr nahe gekommen war. Ich hatte versagt, sogar auf ganzer Linie. Elodie musste gar nicht wissen, wie katastrophal es für mich in Maraisville geendet hatte, um das zu ahnen.

  Die beiden Jungs sahen einander an und hoben dann synchron die Schultern.

  »Warum hat Knox so reagiert?«, fragte ich. Das war viel wichtiger als Elodies Wut und mein Versagen. »Er hat mich angesehen, als wäre
ich ein Geist, vor dem er furchtbare Angst hat. Ich dachte, er erinnert sich wieder?«

  Jye nickte. »Er erinnert sich an alle sachlichen Informationen. Die sind nicht schwer zu rekonstruieren. Für die Zwecke von ReVerse ist er vollständig wiederhergestellt.«

  »Aber?« Angst kroch in meinen Bauch.

  »Gefühle sind etwas anderes.« Jye verzog das Gesicht. »Sie sind zu komplex und flüchtig, um vollständig in Daten erfasst zu werden. Also wohnen sie in den Erinnerungen wie blinde Passagiere unter Deck. Man kann sie nur schwer kontrollieren und sie tauchen meistens ungeplant auf.«

  »Das bedeutet, seine Gefühle wurden nicht rekonstruiert?«

  »Ja und nein. Es gibt dabei kein Schwarz oder Weiß.« Jye sah mich an. »Er weiß, dass ihr zusammen wart. Aber er weiß nicht mehr genau, wie es sich angefühlt hat, dich zu lieben. Diese ­Gefühle sind nicht fest mit seinen Erinnerungen verknüpft.«

  Knox kann sich nicht richtig an uns erinnern. Tief holte ich Luft und atmete nur langsam wieder aus. Der Schlag saß. Wie hatte ich nur hoffen können, dass trotz meiner Mission, trotz Maraisville in meinem Kopf, alles einfach wieder gut werden könnte?

  »Seine Gefühle sind jedoch nicht weg«, sagte Tatius mit seiner ruhigen Art und begann, Elodies Scherben zu beseitigen. »Sie sind nur ungeordnet in seinem Unterbewusstsein vergraben.«

  »Dein Auftauchen heute muss etwas getriggert haben.« Jye runzelte die Stirn. »Aurora Lehair vermutet, dass ein Clearing je nach Intensität der Gefühle mehr oder weniger wehtut. Wahrscheinlich hat das Löschen von Knox’ emotionalen Erinnerungen an dich so geschmerzt, dass er sich jetzt wehrt, wenn sie wieder auftauchen.«

  »Also ist es meine Schuld«, stellte ich tonlos fest.

  »Es ist nicht deine Schuld, sondern die des Clearings«, widersprach Jye. »Wir werden schon eine Lösung dafür finden.«

  Tatius gähnte. »Aber nicht mehr heute. Ich gehe wieder ins Bett. Wir sehen uns morgen.« Er lächelte mich kurz und Jye etwas länger an, dann ging er hinaus.

 

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