001 - Wild like a River

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by Kira Mohn




  Kira Mohn

  Wild like a River

  Roman

  Über dieses Buch

  In der Stille des Waldes hörst du dein Herz.

  Haven lebt als Tochter eines Rangers in einem von Kanadas Nationalparks. Nirgends fühlt sie sich so wohl wie in der wilden Natur. Menschen hingegen verunsichern sie. Sie weiß nie, was sie sagen, wie sie sich verhalten soll. Die meisten Leute finden sie seltsam. Doch dann begegnet sie Jackson, einem Studenten aus der Stadt. Er bittet sie, ihm ihre Welt zu zeigen. Und plötzlich ist da jemand, der all das, was sie bisher allein erlebt hat, mit ihr teilt. Ein verwirrend schönes, aber auch schmerzhaftes Gefühl. Denn Jackson muss bald wieder zurück in seine eigene Welt …

  Emotional und ergreifend – der Auftakt der Kanada-Reihe von Kira Mohn.

  Vita

  Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeitlang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autoren-Label Ink Rebels aus der Taufe. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in München. Die Romantik darf in ihren Geschichten nicht zu kurz kommen, aber vor allem ist es ihr wichtig, Figuren zu erschaffen, die sich echt anfühlen. Nach der Leuchtturm-Trilogie veröffentlicht sie nun mit «Wild like a River» und «Free like the Wind» ihre zweite Serie bei KYSS. Kira ist auf Facebook und Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Lesern aus.

  · Für meine Familie ·

  1

  HAVEN

  I ch glaube, er hat keine Ahnung mehr, dass er Snoops heißt, wenn er es überhaupt jemals wusste. Lautlos setzen seine Pfoten auf dem harten Waldboden auf, der hier bei den Klippen des Horseshoe Lake trocken und staubig ist, weil es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr geregnet hat. Der Name Snoops ist für einen ausgewachsenen Puma wohl ohnehin nicht mehr sehr passend.

  Als ich ihn zum ersten Mal sah, war sein sandfarbenes Fell noch gefleckt. Dad schätzte sein Alter auf etwa zehn bis zwölf Wochen. Eine ganze Weile war mein Vater schweigsam und mürrisch gewesen, weil er Snoops’ Schwester nicht rechtzeitig gefunden hatte und sie das Opfer von Kojoten geworden war. Was mit Snoops’ Mutter geschah, beschäftigte ihn, Nate und die anderen Ranger des Jasper National Park noch um einiges länger, doch letztlich kamen sie zu dem Schluss, dass sie höchstwahrscheinlich von Hobbyjägern abgeknallt und als Trophäe mitgenommen wurde – sie war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.

  Snoops macht noch ein paar Schritte in meine Richtung, dann sieht er auf, und ich bilde mir ein, dass er mich aus der Entfernung mustert. Die tiefstehende Abendsonne lässt sein Fell golden leuchten.

  Es ist fast acht Uhr, doch selbst für August noch ziemlich warm. Trotzdem sind die Klippenspringer, die so oft den See bevölkern, für heute bereits verschwunden. Insekten hängen über dem Wasser, es riecht nach Harz und dem von der Sonne erwärmten Erdboden. Ein paar Sekunden lang hoffe ich, Snoops werde sich mir nähern, dann jedoch zuckt seine Schwanzspitze plötzlich unruhig, und im nächsten Moment wendet er sich ab und verschwindet lautlos zwischen den hohen Stämmen im Unterholz.

  Enttäuscht seufze ich auf.

  Ich weiß noch, wie er in meinen Armen lag, wie fasziniert ich von dem hellen, fedrigen Haar an seinen spitzen Ohren war und wie weich das weiße Fell um seine Schnauze herum. Damals war ich fünfzehn, und eine Weile hoffte ich, Dad würde mir erlauben, Snoops zu behalten. Doch natürlich tat er das nicht. «Ein Puma ist keine Hauskatze, Haven», erklärte er mir in diesem geduldigen Ton, den ich noch nie besonders gut ertragen konnte.

  In den ersten Wochen, nachdem Dad ihn behutsam ausgewildert hatte, kam Snoops Abend für Abend wieder. Von der Veranda aus konnte ich ihn sehen, wie er unentschlossen zwischen den Baumstämmen stand und zu dem Blockhaus hinüberblickte, in dem er die ersten Wochen seines Lebens verbracht hatte. Dad verjagte ihn zuverlässig, sobald er Anstalten unternahm, sich dem Haus über die Lichtung hinweg zu nähern, und wir haben uns jedes Mal deshalb gestritten. Irgendwann kam Snoops nicht mehr, dafür begann ich umgekehrt, mich auf die Suche nach ihm zu machen. Einige Male noch tapste er tatsächlich in meine weit geöffneten Arme und rieb seinen Kopf an meiner Schulter, doch irgendwann beschloss er wohl, dass er nun zu erwachsen dafür sei. Beinahe vier Jahre ist das jetzt her, und es ist selten geworden, dass er mir nahe genug kommt, um ihn berühren zu dürfen.

  Ich bin froh, dass er zumindest nicht das Revier gewechselt hat, sondern dort blieb, wo auch schon seine Mutter lebte. Er hat es nur ein wenig erweitert. Das weiß ich, weil ich Snoops’ Markierungen und Kratzspuren an den Bäumen in der Nähe des Maligne Lake entdeckt habe.

  Seufzend bücke ich mich nach dem Rucksack, den ich beim Anblick des Pumas vom Rücken habe gleiten lassen. Es wird noch etwas dauern, bis die Sonne verschwunden ist, aber ich habe einen fast vier Meilen weiten Rückweg vor mir.

  Als plötzlich Stimmen zu hören sind, ziehe ich unwillkürlich den Kopf ein und fühle mich sofort albern deswegen. Ich hasse es, wenn ich mich verhalte wie Mowgli, das Dschungelkind.

  Okay, von meinem Vater und ein paar Leuten aus Jasper abgesehen, komme ich selten mit Menschen in Kontakt, aber ich spreche deshalb ja nicht nur wölfisch oder so. In einer Trotzreaktion mir selbst gegenüber bleibe ich im Schatten der Bäume stehen. Snoops hat die Leute, die sich gerade nähern, offensichtlich sehr viel früher wahrgenommen.

  Auf den Klippen unterhalb von mir tauchen zwei Typen auf. Sie tragen T-Shirts, Jeans und Wanderschuhe, und trotz – oder gerade wegen – ihrer riesigen Rucksäcke ist ihnen sofort anzusehen, dass sie keine Ahnung haben, wie man sich hier im Jasper National Park bewegt, ohne zum herumpolternden Störfaktor zu mutieren. Lachend stolpern sie über die dicken Wurzeln, die den Boden durchziehen, hängen ihre Rucksäcke an viel zu dünne Äste, die sich bedenklich unter der Last biegen, und beginnen, sich auszuziehen.

  Moment.

  Ähm.

  Sie haben mich nicht bemerkt, und hastig wende ich mich ab, als der erste der beiden, ein großer, schlanker Typ mit dunklen Haaren, den Reißverschluss seiner Hose öffnet und sie in der nächsten Sekunde mitsamt der Shorts, die er darunter trägt, hinunterschiebt. Als ich es wage, wieder hinzusehen, steht er noch immer mit nacktem Hintern vor seinem Rucksack. Ich sollte ihn nicht anstarren, sondern stattdessen endlich nach Hause gehen, aber diesmal gelingt es mir nicht, meinen Blick von ihm loszureißen. Er hat die Figur eines Schwimmers, durchtrainierte Arme und Beine, mit langen, geschmeidigen Muskeln. Die Haut ist glatt und gebräunt, und er hat einen wirklich schönen Rücken.

  Immerhin sein Freund trägt inzwischen Badeshorts. Vornübergebeugt steht er am Rand der Felsen, wohl um die Entfernung zur Wasseroberfläche abzuschätzen, und seine glatten, fast weißblonden Haare fallen ihm dabei in die Stirn. Der Horseshoe Lake schimmert unter ihm in einem tiefen Türkis, doch die Schönheit des Sees scheint ihn nicht zu beeindrucken.

  «Na, Badehose vergessen, Jax?», wendet er sich an seinen Freund.

  «Nope.» Der Typ namens Jax dreht sich um, während er in die Badehose steigt, die er gerade aus seiner Tasche gezogen hat. Verlegen trete ich einige Schritte hinter einen Baum zurück. Es wäre doch ziemlich peinlich, ausgerechnet jetzt entdeckt zu werden.

  «Okay, nach dir.» Der blonde Typ wedelt auffordernd mit der Hand in Richtung See.

  Die wollen von hier oben aber nicht einfach springen, oder?

  «Sag doch einfach, dass es dir zu hoch ist, Cay.» Mit einem Lachen beugt sich der dunkelhaarige Kerl ebenfalls über den Rand der Klippe, dann verschränkt er die Hände im Nacken. Vor ihm glitzert das Wasser in den letzten Sonnenstrahlen. «Wahnsinn, ist das schön hier!»

  «Lenk nicht ab. Du traust dich doch nur selbst nicht», spöttelt Cay.

  Auf diesen Satz hin lässt sein Freund die Arme sinken und
stößt sich im nächsten Moment vom Felsen ab. Eine Sekunde lang scheint sich sein Körper der Schwerkraft zu widersetzen, dann stürzt er hinunter, durchschneidet die Wasseroberfläche und taucht Augenblicke später wieder auf. «Fuck, ist das kalt!»

  Was für ein leichtsinniger Irrer. Der Horseshoe Lake gehört zu den tiefsten Seen in Jasper, doch es kommt immer wieder zu Unfällen, weil er an einigen Stellen trotzdem seine Untiefen hat oder die steilen Felsabhänge unter der Wasseroberfläche flacher werden. Ich weiß, dass es hier ungefährlich ist, doch ich bezweifle, dass dieser Jax das überprüft hat. Außerdem haben sie sich zwar nicht die höchsten Klippen ausgesucht, doch wenn man wie hier aus etwa acht Meter ungünstig auf die Wasseroberfläche prallt, kann man sich die Rippen oder mitunter auch gleich die Wirbelsäule brechen. Die riesigen Verbotsschilder, die überall stehen, sind zwar weitestgehend wirkungslos, aber definitiv nicht sinnlos.

  Jax versucht zumindest nicht, seinen Freund zum Springen zu überreden. Er krault zu einer Stelle, an der er den See verlassen kann, und Sekunden später verschwindet er zwischen den Felsen. Keine Ahnung, wo er wieder rauskommen wird – mit Sicherheit weiß er das auch nicht –, aber ich trete jetzt endgültig in den Schutz der Kiefern zurück, um nicht entdeckt zu werden.

  Der Kerl namens Cay wühlt in einem Rucksack herum, zieht eine Flasche Wasser heraus und entrollt dann eine Isomatte. Diese weißblonden Haare … er sieht aus, wie ich mir immer die Elben aus Lord of the Rings vorgestellt habe. Als sein Freund zu ihm hochgeklettert ist, sitzt er mit verschränkten Beinen da und starrt auf ein Handy. «Der Empfang ist mies.»

  «Was hast du denn erwartet? Dass für die ganzen Elch-Influencer Sendemasten aufgestellt wurden?»

  «Sehr witzig, Jackson.»

  Cay steht auf und beginnt herumzulaufen, das Smartphone wie einen Kompass vor sich. Jackson wirft ihm einen kurzen Blick zu, bevor er wieder an die Felskante tritt. «Was hast du überhaupt vor? Willst du Pizza bestellen?»

  «Nein, ich wollte nur ein paar Bilder hochladen.»

  Ohne darauf etwas zu erwidern, springt Jackson erneut, kopfüber dieses Mal. Elegant taucht er ein und kommt erst nach langen Sekunden ein gutes Stück entfernt wieder zum Vorschein. Als er ein zweites Mal tropfnass auf dem Klippenvorsprung ankommt, müht Cay sich gerade mit einem Dosenöffner ab. «Was ist das für eine beschissene Dose? Ist die aus Titan oder was?»

  «Gib mal her.» Jackson streicht sich die nassen Haare aus der Stirn. «Das nächste Mal packen wir nur Dosen ein, die man ohne Öffner aufkriegt. Oder am besten gleich einen Koch. Am besten einen, der dich auch noch tragen kann.»

  Jackson grinst und reicht seinem Freund die geöffnete Dose. Dann streift er sich die Badehose von den Hüften, und ich wende mich endgültig ab. Mittlerweile habe ich ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, sie so lang beobachtet zu haben.

  Wie zuvor Snoops ziehe ich mich geräuschlos ins Unterholz zurück. Vielleicht frage ich Dad später, ob er etwas über die beiden weiß. Bei ihm oder bei Nate haben sie ihre Tour sicher angemeldet.

  Während ihre Stimmen hinter mir verklingen, sagt mir mein Bauchgefühl, dass sie sich im Laufe der Tage garantiert noch in Schwierigkeiten bringen werden.

  JACKSON

  E s ist still und doch nicht still.

  Der Mond strahlt so hell, dass es selbst im Zelt nicht völlig dunkel ist. Schwach kann ich Caydens Umrisse erkennen, der eingerollt in seinem Schlafsack nur etwa einen Meter von mir entfernt liegt. Vorhin ist er innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Dass ich das Feuer gelöscht und die schmutzigen Teller notdürftig mit Taschentüchern gereinigt habe, hat er nicht mal mehr mitgekriegt.

  Insektengeräusche. Ab und an ein Knistern oder Rascheln von Tieren, die sich unsichtbar im Wald bewegen. Den ganzen Tag über ist mir nicht einmal ein Kaninchen über den Weg gelaufen. Cayden, der meist ein gutes Stück hinter mir hergetrödelt ist, behauptet, er habe einmal ein Elchgeweih zwischen den Bäumen gesehen, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar Äste. Ein Bild von dem Tier hat er jedenfalls nicht zustande gebracht.

  Wir haben uns keine besondere Mühe gegeben, leise zu sein, weil wir gelesen haben, dass größere Tiere nicht darauf stehen, in ihren Revieren überrascht zu werden. Ich wiederum stehe nicht darauf, plötzlich über einen Grizzly zu stolpern. Also nehme ich in Kauf, bisher nur von nervigen Mücken begleitet zu werden. Und natürlich von Cayden, der phasenweise fast genauso nervig war. Als wir den Trip geplant haben, war er noch Feuer und Flamme, doch irgendwann im Laufe des Tages ist sein ursprünglicher Enthusiasmus verpufft, und ihm war anzusehen, dass er sich für die Umgebung bei weitem nicht so begeistern kann wie ich.

  Die Luft im Zelt ist schwül und stickig. Am liebsten würde ich meinen Schlafsack nehmen und mich nach draußen legen. Eigentlich soll man abseits der Campingplätze nicht zelten, der Ranger sagte, sie sähen das nicht gern. Cayden und ich leiteten kein striktes Verbot daraus ab, auch wenn der Ranger noch hinzufügte, es sei zu unserer eigenen Sicherheit. Was soll schon groß passieren? Soweit ich das beurteilen kann, besteht das größte Risiko darin, von den Scheißmücken gefressen zu werden.

  Cayden beginnt zu schnarchen, und ich richte mich auf.

  Ein paar Minuten später liege ich mit gebührendem Abstand zur Steilkante auf dem harten Stein, über mir schwarze Baumwipfel, die sich gegen den nachtgrauen Himmel abheben. Wenn man lange genug zu den wenigen Sternen hinaufstarrt, die dem Mondlicht trotzen, scheint es einen förmlich ins All zu saugen. Moskitos gibt es keine mehr, vielleicht ist es ihnen zu kalt geworden. Der Gedanke, vor einigen Stunden noch von den Klippen gesprungen zu sein, kommt mir unwirklich vor. Wie es wohl wäre, jetzt in den See zu tauchen? Ins schwarze, silbrig glitzernde Wasser, das über meinem Kopf zusammenschlagen würde, kälter noch als die Nachtluft?

  Einen Moment lang bin ich ernsthaft in Versuchung, bis mir einfällt, dass ich über die Felsen wieder hinaufsteigen müsste. Auch wenn der Mond alles mit einem hellen Schimmer überzieht, ist es für eine Kletterpartie eindeutig zu dunkel.

  Ich stütze den Kopf in die Hand, um über den See blicken zu können, auf die hohen Felsen auf der gegenüberliegenden Seite und die riesigen Bäume, die sich fast bis zur Steilkante hindrängen. Ein Gemälde in Silber- und Grautönen.

  Caydens Schnarchen, das noch immer durch die Zeltwand hindurch zu hören ist, tritt in den Hintergrund, der harte Boden wird unwichtig. Alles, was mich normalerweise beschäftigt, verblasst langsam, während die Sterne irgendwann zu verschwimmen beginnen, vielleicht, weil ich zu lange nicht geblinzelt habe.

  Unwirklich. Unwirklich schön. Am liebsten möchte ich diesen Augenblick festhalten, mich darin auflösen und eins werden mit der Nacht …

  Ich werde wach, weil ich friere, weil sich die Feuchtigkeit des Morgengrauens auf mein Gesicht gelegt hat und weil ein verfickter Bär nur ein paar Meter von mir entfernt mit der Schnauze die Plastikteller zum Klappern bringt, die ich letzte Nacht stehengelassen habe.

  Mein erster Impuls, ausgelöst durch einen fast schon schmerzhaften Adrenalinstoß, ist, mich aus dem Schlafsack zu winden und über die Klippen zu springen, aber Cayden … Cay liegt noch in dem Zelt, dessen Eingang von diesem riesigen Vieh jetzt beschnüffelt wird.

  Heilige Scheiße.

  2

  HAVEN

  I n meinem Bücherregal gibt es eine ziemlich abgeliebte Ausgabe von Little House in the Big Woods . Als Kind habe ich mir eingebildet, ich sei wie Laura, nur eben ohne Schwestern. Und ohne Mutter. Aber mein Dad war wie Lauras Vater: furchtlos, pragmatisch und eigenbrötlerisch. Mit seinem dichten, dunklen Haar und dem Vollbart sieht er sogar so aus, wie Lauras Vater im Buch beschrieben wird, und ich glaube, hätte mein Vater die Gelegenheit gehabt, unsere Sachen auf einen Planwagen zu packen und ein unbesiedeltes Land zu erforschen, er hätte keine Sekunde gezögert. Und ich hätte ihn begleitet, so wie ich ihn auch oft auf seinen Rundgängen durch den Jasper National Park begleitet habe.

  Irgendwann einmal hat es eine Schule gegeben, doch meine Erinnerungen werden beherrscht von Wasserfällen, Seen, bunten Bergwiesen und endlosen Tannenwäldern.

  Und natürlich von Tieren.
Träge Wapitis vor der Veranda, die ich beobachtete, während ich meine Englisch- oder Mathelektionen durchging. Streifenhörnchen auf sonnenüberfluteten Felsen, Pikas, Dickhornschafe und weiße Schneeziegen, die noch den kleinsten Vorsprung in den Steinwänden finden, um sich fast senkrechte Berghänge hinaufzukämpfen. Kein einziges Mal habe ich eines der Tiere stürzen sehen, und selbst wenn die Böcke um ihre Stellung in der Herde kämpfen, sind ernsthafte Verletzungen selten. Die verwundeten oder kranken Tiere, die mein Vater entdeckt, sind meist irgendwelchen Menschen in die Quere geraten, die sie erschrecken oder mit irgendwelchem Mist füttern, den sie nicht vertragen.

  Gedankenverloren stecke ich zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster am Tischende. Der dunkle Holztisch hat eine massive Platte, er steht direkt vor dem Fenster, von dem aus man über die Veranda hinweg die derzeit sonnenbeschienene Lichtung vor unserem Haus überblicken kann. Mein Vater hat ihn selbst zusammengezimmert. Für zwei ist er perfekt, für drei etwas zu klein, so wie das ganze Haus. Es ist für zwei Leute gedacht, und seit Dad und ich hier wohnen, hat es auch nie eine dritte Person gegeben.

  Die beiden Schlafkammern im ersten Stock haben niedrige Decken, darüber befindet sich ein Dachboden, den ich nur betrete, wenn ich die Kiste mit der Weihnachtsdekoration brauche. Früher habe ich dort oft mit den Kleidern gespielt, die sich in einer Truhe mit schwerem Deckel befanden, Schuhe, Hüte, jedes einzelne Stück viel zu groß für ein kleines Mädchen. Ich hatte das Gefühl, dass es mich meiner Mutter irgendwie näherbrachte, ihre Kleider zu tragen, obwohl sie nur noch nach dem Holz der Kiste rochen. Als würden mich die weichen Ärmel ihrer Pullover und Jacken umarmen, wenn sie es schon nicht mehr konnte. Irgendwann jedoch fand ich in einer Blusentasche einen silbernen Ring, und in der Sekunde, in der ich ihn mir über den Finger schob, blitzte eine Erinnerung in mir auf, kaum deutlich genug, um das Gedankenbruchstück zu erfassen. Ich habe Dad danach gefragt, und danach habe ich nie wieder Mums Sachen angezogen, weil er …

 

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