001 - Wild like a River
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«Danke. Möchtest du ein Wasser?»
Jacksons Blick kehrt zu mir zurück. «Das wäre nett.» Er lässt seinen Rucksack von den Schultern gleiten.
Ich gehe an ihm vorbei hinter den Küchentresen, schalte die Temperatur für meinen Gewürzsud herunter, der sanft vor sich hin köchelt, und ziehe den riesigen Topf mit mittlerweile kochendem Wasser vom Herd, in dem ich gleich die Einmachgläser versenken werde.
Dann wasche ich mir die Hände – was an ihrer Färbung überhaupt nichts ändert – und hole ein Glas aus dem Schrank.
Jackson ist nur wenige Schritte hinter mir her in den Raum hineingegangen. Er steht neben den beiden Sesseln vor dem Kamin mit ihrem abgewetzten dunkelroten Cordbezug und blickt die Holzstufen zum oberen Stockwerk hinauf.
«Dort sind die Schlafzimmer», erkläre ich ungefragt und reiche ihm sein Wasser. «Entschuldige, ich muss mal eben die Einmachgläser auffüllen.»
Während ich den Topf zurück auf die Kochstelle rücke und den Herd wieder anmache, tritt Jackson näher. Das Wasser beginnt erneut zu sprudeln, und ich versuche mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Sorgfältig fülle ich alle Gläser, die in einer Reihe auf der Arbeitsfläche stehen, mit dem Gewürzsud auf, bis deren Inhalt vollständig bedeckt ist.
«Das riecht ziemlich lecker. Was ist das?»
«Rote Bete.» Demonstrativ strecke ich ihm meine knallroten Finger entgegen. Dann drücke ich rasch die gläsernen Deckel auf die breiten Gummiringe, fixiere sie mit Metallklammern und setze eines nach dem anderen in das kochende Wasserbad. Fürs Erste gibt es nichts mehr zu tun, und als ich mich wieder Jackson zuwende, kehrt meine Verlegenheit zurück. Ach, verdammt! Es sollte gar keine große Sache sein. Da steht nur irgendein Typ. Ein anderes Mädchen als ich könnte jetzt bestimmt etwas Witziges oder Kluges sagen, woraufhin ein angeregtes Gespräch entstehen würde. Aber ich … ich krieg das einfach nicht hin.
«Möchtest du noch ein Wasser?»
Witzig. Klug. Haha.
«Nein, danke. Hör mal, ich hab mich gefragt …» Er zögert, und erwartungsvoll starre ich ihn an. Ja? Was hast du dich gefragt? Sag es einfach, und ich werde mein Bestes geben, dir endlich eine lockere oder geistreiche Antwort zu bieten, am besten beides.
«Hättest du vielleicht Lust, mir die Umgebung zu zeigen? Ich meine, du wohnst hier, du kennst dich ungefähr eine Million mal besser aus als ich, und wenn du Zeit hättest … ich würde mich freuen», setzt er hinzu und stellt das leere Glas auf den Tisch.
«Klar.» Okay, das war einfach. «Sicher, ich meine … gibt es irgendetwas Bestimmtes, das du gern sehen würdest? Abgesehen von Bären?»
Jackson grinst mich an, und ich bin beinahe stolz auf mich, weil mir das mit meiner Bemerkung gelungen ist.
«Eigentlich nicht. Oder eigentlich doch», korrigiert er sich unmittelbar. «Ich habe bisher kaum Tiere zu Gesicht bekommen – abgesehen von Bären», fügt er hinzu, und jetzt bin ich dran mit lächeln. Na also. Ist doch ganz einfach, so ein lockeres Gespräch.
«Da kann ich dir helfen, glaube ich.»
Ich nehme meine Jacke vom Haken, während Jackson sich nach seiner eigenen Tasche bückt, und öffne die Haustür. Die Fremdenführerin im Jasper National Park spielen – wenn es etwas gibt, für das ich wirklich geeignet bin, dann mit Sicherheit dafür. Gemeinsam überqueren wir die Lichtung und erreichen den Trampelpfad, der sich von unserem Haus entfernt. Hoffentlich treibt sich die Herde nicht ausgerechnet heute meilenweit entfernt herum. Ich muss die Rote Bete in spätestens einer halben Stunde aus ihrem Wasserbad holen.
Jackson bleibt dicht hinter mir, als ich nach einer Weile den ausgetretenen Weg zugunsten eines weniger deutlich erkennbaren Pfades verlasse, und ich achte darauf, ihm keine dünnen und mitunter stacheligen Zweige entgegenschnellen zu lassen. Wo sind sie? Suchend blicke ich mich um.
Da!
Der schlanke Kopf einer Hirschkuh taucht ein gutes Stück von uns entfernt im Unterholz auf. Die langen, spitzen Ohren zucken in unsere Richtung, einen Moment lang dreht das Tier den Kopf, um mich fixieren zu können, dann senkt es elegant den Hals und ist wieder verschwunden.
Jackson hat sie ebenfalls entdeckt, gebannt starrt er in die Richtung, wo das Tier eben noch zu sehen war. «War das ein Reh?»
«Ein Wapiti», erwidere ich. «Rehe sind viel kleiner.»
Er ist stocksteif stehen geblieben, und ich zupfe an seinem Shirt, um ihm zu bedeuten, ein Stück weiterzugehen.
«Wieso läuft es nicht weg? Hat es keine Angst vor uns?»
«Sie sind an mich gewöhnt. Vielleicht machst du sie ein wenig nervös, aber ich denke …» Ich unterbreche mich mitten im Satz, weil zwei weitere Wapitis nur wenige Meter von uns entfernt zwischen den Büschen hervortreten. Noch ein Weibchen, und das Jungtier an seiner Seite weist noch schwache Spuren der Flecken auf, die die Kälber in den ersten Wochen ihres Lebens im Fell tragen.
«Wow.» Ein paar Sekunden lang mustert Jackson die Tiere fasziniert, dann tastet er mit der Hand in die Jackentasche und zieht sein Smartphone heraus. Beinahe in Zeitlupe hebt er es in die Höhe und macht ungefähr tausend Bilder, bevor die Hirschkuh mit ihrem Kalb davonschlendert.
Der Wapitibulle, der als Nächstes auftaucht, lässt Jackson unwillkürlich meinen Oberarm umfassen, als wolle er mich daran hindern, dem Bullen vor die Hufe zu geraten.
«Scheiße, der ist ja riesig!», flüstert er. «Wie hat der sich bis eben verstecken können?»
Jackson hat recht, Mortimer ist riesig. Sein rotbraunes Fell leuchtet in der Sonne, als er sich in voller Länge aus den Büschen herausbewegt. Nicht nur durch sei mächtiges Geweih ist er deutlich größer als ich, größer auch als Jackson, der meinen Arm noch nicht wieder losgelassen hat. Sogar sein Handy hat er vergessen.
«Willst du kein Bild von ihm machen?»
Jackson starrt erst mich an, dann blickt er zu dem Wapitibullen zurück. War er eben bereits langsam, so wirken seine Bewegungen jetzt beinahe eingefroren.
«Irre!», höre ich ihn hauchen, bevor er so lange den Auslöser betätigt, bis Mortimer mit seiner breiten Brust gemächlich das Unterholz beiseitedrückt und kurz darauf auch sein helles Hinterteil verschwunden ist.
«Der war ja größer als ein Pferd! Trifft man die hier immer?»
«Sie treiben sich tagsüber meistens in der Nähe herum, ja. Nachts sind sie aktiver und sonst wo unterwegs – aber wir hatten natürlich auch Glück.» Ich beginne, den Weg zurückzugehen, den wir gekommen sind. «Sorry, die Einmachgläser müssen raus.»
Er steckt das Telefon in seine Jackentasche zurück, während er sich mir wieder anschließt. «War das gerade eben der Anführer?»
«Nein, Mortimer trabt nur mit. Das kommt nicht oft vor, meistens sind die erwachsenen Männchen allein unterwegs. Die Hirschkuh, die wir als Erstes gesehen haben, ist die Anführerin.»
«Der Riese heißt Mortimer?»
Ich sehe ihn grinsen und lächle zurück. «Ja, warum nicht? Mortimer passt gut zu ihm.»
«Du hast ernsthaft den Tieren Namen gegeben? Wie heißt die Hirschkuh?»
«Rosalie. Die andere Hirschkuh heißt Violet. Ihr Kalb hat noch keinen Namen, ich muss es erst besser kennenlernen.»
Dass ich aus Jacksons Gesicht nicht herauslesen kann, was er gerade denkt, stört mich hier im Wald nicht halb so sehr wie vor kurzem noch in der Küche. Warum sollte ich Tieren, die ich so oft sehe, keinen Namen geben? Wie soll ich denn Dad davon erzählen, wenn ich immer nur «Die größere Hirschkuh mit dem dunkelbraunen Streifen am Rücken» sagen kann oder: «Der alte Hirschbulle, der schon seit Jahren mit der Herde herumwandert?» Mein Vater kennt die Wapitis genauso gut wie ich. Und er weiß auch, wer Rosalie und wer Violet ist.
Ganz selbstverständlich begleitet Jackson mich zurück zum Haus, und genauso selbstverständlich steht er kurz darauf wieder neben dem Küchentresen, während ich behutsam ein Glas nach dem anderen aus dem Topf hebe und auf ein ausgebreitetes Tuch stelle.
«Kann ich dir irgendwie helfen?»
«Du könntest die Zwiebelschalen auf den Kompost werfen, wenn du willst.»
«Wo ist der?»
«Hinterm Haus.»
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«Okay.»
Die Tür fällt hinter Jackson ins Schloss, und nach einigen Sekunden sehe auf. Nichts ist zu hören, alles ist still. Mit langsamen Bewegungen trockne ich die noch heißen Gläser ab, höre die Holzbohlen unter meinen Füßen knarren.
Still, so still.
Dann öffnet sich die Haustür erneut, und Jackson tritt mit dem nun leeren Schneidbrett herein. «Erledigt. Was kann ich noch tun?»
«Also …» Das Küchentuch landet neben den Einmachgläsern. «Wenn du Lust hast, könntest du noch jede Menge Bilder von Pikas machen.»
JACKSON
P ikas. Ich habe keinen Schimmer, was das für Tiere sind, aber auf jeden Fall will ich Bilder von Pikas machen. Ich würde sogar Fotos vom Komposthaufen knipsen, auf dem ich gerade drei Tonnen Zwiebelschalen abgeladen habe, wäre Haven dabei. Allerdings waren die Wapitis wesentlich beeindruckender. Dieser riesige Bulle! Mit Cayden bin ich einen Tag lang quer durch den Wald gelatscht, ohne auch nur ein Karnickel zu Gesicht zu bekommen, was auch immer Cayden behauptet. Wenn ich ihm ein Bild von Mortimer schicke, bekommt er eine Herzattacke.
Haven hat gelächelt, als ich meinte, ich könne mir nichts Schöneres vorstellen, als Pikas zu beobachten. Allein deshalb würde ich selbst dann Bilder von Pikas knipsen, sollten sie sich als hässliche kleine Ratten herausstellen. Vielleicht ergibt sich ja sogar eine Gelegenheit, Haven mit aufs Bild zu bekommen – sie würde absolut jeden langweiligen Nager enorm aufwerten.
Nebeneinander laufen wir einen schmalen Waldweg entlang, und obwohl ich ihr gewissenhaft zuhöre, während sie mir erklärt, was wir um uns herum gerade sehen, wird ein großer Teil meines Hirns lahmgelegt, weil ich damit beschäftigt bin, mir ihre Stimme einzuprägen und ihre energischen Bewegungen zu beobachten, mit denen sie Zweige beiseiteschiebt. Ihr langes rotes Haar leuchtet in der Sonne, flammengleich lodert es über ihre Schultern, und wenn sie es sich mit der Hand aus dem Gesicht schiebt, beneide ich sie irrationalerweise, weil sie das darf und ich nicht. Sie hat graue Augen, nicht die Spur von Grün ist darin auszumachen, noch etwas, das wie die fehlenden Sommersprossen meinem Schubladendenken von Rothaarigen widerspricht. Sie lächelt jetzt häufiger, und wenn sie das tut, geht verflucht noch mal die Sonne auf und brennt mir beinahe jeden vernünftigen Gedanken fort, abgesehen von: Wieso muss diese Frau irgendwo im Nirgendwo wohnen?, oder: Was könnte ich sagen, damit sie noch einmal lächelt?
«Jackson?»
«Mh?»
Jetzt ist es doch passiert, und ich habe eine Frage verpasst.
«Du bist gerade an einem Dickhornschaf vorbeigelaufen.»
«Was? Wo?»
Sie weist auf ein paar grasüberwucherte Felsen. Zwischen Geröll und Grasbüscheln sieht ein zotteliges Tier mit geschwungenen Hörnern zu uns hinüber.
«Ist das ein Pika?»
Haven lacht. Fasziniert starre ich sie an und registriere ohne großes Erstaunen, dass meine Herzfrequenz sich gerade verdreifacht hat.
«Nein, das ist immer noch ein Dickhornschaf. Aber Pikas tauchen hier bestimmt auch noch auf. Schau, da ist noch eins! Ein Dickhornschaf, meine ich.»
Mir ist mehr danach, Haven weiter anzusehen, doch gehorsam drehe ich den Kopf und werde mit dem Anblick eines die Felsen hinauftänzelnden, mächtigen Widders belohnt.
«Wie machen die das? Da käme ich nie hoch, selbst wenn ich ein Oktopus wäre, und das Schaf hat nicht mal Finger zum Festkrallen.»
«Ja, das ist wirklich unglaublich, oder? Und das ist noch gar nichts. Dad meinte mal, sie halten sich vermutlich für Stubenfliegen.»
Jetzt lachen wir beide, und ich finde, es klingt ausgesprochen gut zusammen.
Die Pikas stellen sich tatsächlich als kleine Nagetiere heraus. Sie sind etwa so groß wie Kaninchen, und alles an ihnen ist rund: der Körper, der Kopf, die Ohren – ein Wunder eigentlich, dass nicht alle Leute Pikas wollen. Wir hören sie, bevor wir sie sehen, hohe Pfeiftöne, mit denen sie sich gegenseitig vor uns warnen, wie Haven mir erklärt. Sonderlich ängstlich scheinen sie allerdings nicht zu sein, denn ich entdecke gleich mehrere Tiere in dem zerklüfteten Gelände, die uns neugierig mustern.
«Sie hoffen, wir füttern sie», merkt Haven an, und ihr Tonfall macht deutlich, was sie davon hält. «Die Leute werfen ihnen irgendwelchen Mist hin, weil sie so niedlich sind und sie unbedingt Fotos aus der Nähe von ihnen machen wollen. Die Tiere vertragen das oft nicht, und es kommt immer wieder vor, dass sie krank werden oder sogar sterben … warte.»
Sie legt mir eine Hand auf die Brust, und trotz der Selbstverständlichkeit dieser Berührung halte ich kurz die Luft an. Haven sieht mich nicht einmal an, es geht ihr einzig und allein darum, mich am Weitergehen zu hindern – bei jeder anderen Frau wäre es ein winziger Schritt in eine Richtung, die mir sehr gefallen würde.
Mit dem Kinn deutet sie nach links. Zwei pelzige Pikas sitzen dort nebeneinander, eines von ihnen ist sandfarben, das andere etwas dunkler, und ich hebe vorsichtig mein Handy. Mit Zoom wirkt es, als befänden sie sich direkt vor uns, ihre schwarzen Knopfaugen zwinkern kein einziges Mal, während ich eine Serie an Bildern schieße. Dann verschwindet das sandfarbene Tier zwischen den Felsen, und eine Sekunde später ist auch von dem anderen nichts mehr zu sehen.
«Niedlich», merke ich an.
«Ja, das sind sie. Es bringt ihnen nur kein Glück.»
Haven geht ein paar Schritte voraus und dreht sich zu mir um. Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie steht vor mir, und die Sonne lässt nicht nur ihre Haare leuchten, auch von ihrer hellen Haut scheint ein Schimmer auszugehen. Unwillkürlich stelle ich mir vor, nur noch ihre Haarmähne würde sie umschmiegen … ich muss meinem armseligen Hirn zugutehalten, dass ich mich zumindest nicht nur frage, wie Havens Brüste unter dem weiten Shirt wohl aussehen. Es ist der Ausdruck in ihren Augen, ihr offenes Gesicht, in dem ich jede Gefühlsregung auszumachen meine, ihre völlig ungekünstelte Körperhaltung, die mich anziehen. Obwohl ich derjenige war, der stundenlang hinter ihr hergestolpert ist, während sie sich hier mit der Sicherheit einer Waldamazone bewegt, umweht sie gleichzeitig etwas Verletzliches, etwas Zartes … Von meinen eigenen Gedanken verwirrt, hebe ich das Smartphone, das ich noch immer in der Hand halte, richte es auf sie und drücke auf den Auslöser.
«Wieso hast du das gemacht?»
Hastig lasse ich das Handy wieder sinken. Ja, wieso habe ich das jetzt gemacht?
«Ich fand …» Angestrengt suche ich nach einer geeigneten Erklärung. «Es war ein gutes Motiv.» Zumindest ist das nicht gelogen.
«Ein gutes Motiv? Ich? Wieso?»
Weil du mich gerade völlig durcheinandergebracht hast. Eindeutig eine viel zu offene Antwort, die nur zu weiteren Fragen führen würde.
«Das Licht ist gerade perfekt.» Ich zucke mit den Schultern, als habe der Fotograf in mir einfach nicht den Umständen widerstehen können. Ein paar Sekunden lang blickt Haven mir prüfend ins Gesicht, und ich frage mich, was sie sieht, während ich mich um einen neutralen Ausdruck bemühe.
«Zeigst du es mir?»
«Klar. Wenn du willst, lösche ich es auch wieder.»
Ich öffne das Bild und halte ihr das Display hin. Haven hat sich neben mich gestellt, ihre Haare verdecken vollständig ihr Gesicht, während sie das Foto betrachtet.
Ich wette gerade mit mir selbst, ob sie von mir verlangen wird, das Bild wieder zu löschen, und bin einigermaßen überrascht, als sie sich nach einigen Sekunden einfach abwendet und die Daumen unter die Träger ihres Rucksacks schiebt. «Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen.»
«Okay.»
Bevor ich das Telefon wieder in die Tasche stopfe, kommt mir eine Idee. «Soll ich dir das Bild schicken?»
Im ersten Moment wirkt Haven erstaunt, dann jedoch nickt sie, und einen Moment später bin ich glücklicher Besitzer ihrer Telefonnummer.
Sie scheint in Gedanken versunken, während sie uns zwischen den Felsen hindurch zurückführt, und erst, als der Pfad sich wieder unter Tannen entlangschlängelt und ich zu wissen meine, wo wir sind, sieht sie plötzlich zu mir auf.
«Kommst du morgen wieder?»
In der letzten ha
lben Stunde habe ich mich darüber geärgert, mit dem Foto drei Schritte zu weit gegangen zu sein, und ich habe nach Sätzen gesucht, um meine unüberlegte Aktion wiedergutzumachen. Mit einer solchen Frage habe ich überhaupt nicht gerechnet.
«Wenn du möchtest?»
«Na ja.» Ihr Lächeln wirkt ein wenig zaghaft. «Sonst hätte ich dich ja nicht gefragt.»
Mir ist plötzlich danach, ihr eine Hand auf die Wange zu legen, um die Unsicherheit in ihrem Blick zum Verschwinden zu bringen.
Normalerweise frage ich das. Sehen wir uns wieder? Seit ich Frauen date, ist das ein ungeschriebenes Gesetz. Ich gehe diesen Schritt, und die Antwort ist meist ein leichtes Anziehen der Mundwinkel, gefolgt von einem vielsagenden «Vielleicht». Es ist ungewöhnlich genug, auf diese Frage hin ein direktes «Ja» zu erhalten, und ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass meine Verabredung mir noch in meinem Auto eine Hand in den Nacken gelegt und «Wir sollten das unbedingt mal wiederholen» geflüstert hat. In diesem Satz lagen allerdings tausend Dinge, die ich in Havens Augen gerade absolut nicht erkennen kann. Alles, was sie wissen will, ist, ob wir uns wiedersehen. Würde ich sie fragen, warum – ich bin sicher, sie würde mir schlicht erklären, die Zeit mit mir sei schön gewesen. Sie spielt keine Spiele, es gibt in ihrem Verhalten keinerlei Taktieren, wenn sie mich berührt, versucht sie nicht zu flirten, und mir wird klar, dass ich ein Arsch wäre, sollte ich umgekehrt versuchen, die Gesetze meiner Welt hier anzuwenden.
Kein zweideutiges Grinsen, kein dezentes Vorbeugen, nur um mal auszutesten, ob sie mir vielleicht entgegenkommt. Keine Show.
«Auf jeden Fall», erwidere ich. «Hättest du nicht gefragt, hätte ich es getan.»
Havens Lächeln begleitet mich den kompletten Weg bis zum Zeltplatz über, und ich habe es noch vor Augen, während ich mir auf dem Campingkocher eine Fertigsuppe heiß mache. Erst als sich die Dose in einem bärensicheren Mülleimer befindet und ich bereits im Zelteingang sitze, das Rauschen des in der Nacht verborgenen Flusses in den Ohren, fällt mir das Foto wieder ein, das ich von ihr gemacht habe.