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001 - Wild like a River

Page 7

by Kira Mohn


  Am Samstag wird er zurück nach Edmonton fahren, und vermutlich wird er mich schnell wieder vergessen.

  Ich will aber nicht, dass er mich vergisst.

  Wie fühlt sich ein Leben, wie Jackson es führt, wohl an? Wenn ich in Edmonton wohnen würde …

  «Ich hab’s doch gehört», lässt Jackson sich vernehmen.

  «Bitte?»

  «Ich hab den Wasserfall doch gehört. Ich dachte, es sei der Wind.»

  Zwischen den Baumstämmen taucht ein Weg auf, breit genug, damit die vielen Touristen, die die Athabasca Falls bestaunen wollen, sich nicht gegenseitig auf den Füßen herumtreten. Die überraschten Blicke, die uns zugeworfen werden, als wir aus dem Wald herauskommen, ignoriere ich. Dad würde es nicht gefallen, dass ich nicht auf einen der offiziellen Pfade eingeschwenkt bin, bevor wir auf den völlig überlaufenen Weg gestoßen sind. Seiner Ansicht nach sollte ich niemandem dumme Ideen in den Kopf setzen, indem ich mich nicht an die Wanderwege halte, und er hat ja recht. Ich drücke mich nur so ungern zwischen all diesen Leuten herum, wenn ich nicht muss.

  Jackson sieht sich um. «Was ist denn hier los?»

  «Na ja, die Wasserfälle gehören zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten des Nationalparks, und es ist Ende August – nachmittags ist es noch voller.»

  Beinahe muss ich über seine Verwirrung lächeln, aber ich will ihn nicht auslachen. Hätten wir gleich zu Beginn die Route gewählt, die alle nehmen, um die Athabasca Falls zu erreichen, wäre ihm schnell klargeworden, dass wir hier nicht allein unterwegs sind. Der Gegensatz zu der Stille, die uns vor wenigen Minuten noch umgeben hat, und den vielen Leuten, die sich in Gruppen die Straße entlangschieben, hat ihn vermutlich ziemlich unvorbereitet getroffen.

  «Wow», murmelt er. «Das ist ja eine richtige Völkerwanderung.»

  Links von uns befindet sich, durch einen rostbraunen Maschendrahtzaun abgesperrt, der Fluss. Blaugrün leuchtet er vor den schwarzen Silhouetten der Tannen auf der anderen Seite. Er ist nicht so reißend wie im Frühjahr, wenn das Wasser grau ist von all dem Sand, der durch die Schneeschmelze hineingeschwemmt wird, doch immer noch beeindruckend genug, damit Jackson sein Smartphone hebt, um ein Bild zu machen. Nein, er filmt sogar. Langsam dreht er sich einmal um sich selbst. Der Sucher gleitet über Bäume, Felsen und ganz kurz über mich, dann schiebt er das Telefon in seine Jackentasche zurück.

  In den nächsten Minuten versperren uns immer wieder meterhohe Tannen den Blick, und als wir die ersten Klippen erreichen, über die das mittlerweile weiß schäumende Wasser hinunterstürzt, zieht es Jackson zum Zaun zurück. Er vermag kaum den Blick von den wilden Stromschnellen abzuwenden, zu denen der vormals träge dahinfließende Fluss geworden ist.

  Der Zaun weicht einer Mauer, die zusätzlich durch eine Brüstung gesichert wird, und Jackson sucht sich einen Platz zwischen all den Menschen, die dagegenlehnen, um hinunterzuschauen.

  Der Weg ist mittlerweile asphaltiert, wird aber immer wieder von Felsen durchbrochen, und ich versuche mir vorzustellen, ich wäre hier allein, unter mir der Athabasca River, das Gesicht feucht von der aufsteigenden Gischt. Besonders gut gelingt es mir nicht, und das liegt nicht an den vielen Menschen, sondern nur an einer bestimmten Person, die in dieser Sekunde wie ein kleiner Junge über der Mauer hängt, und das in die Tiefe rauschende Wasser filmt.

  «Ist dein Telefon wasserdicht?»

  «Mh?»

  «Dein Telefon – ist es wasserdicht?»

  Jackson mustert das Handy, wischt es dann nachlässig an seinem Shirt trocken und strahlt mich an. «Das muss es jetzt abkönnen.»

  Seine Haare fallen ihm feucht in die Stirn, und er sieht so glücklich aus, dass ich lachen muss. «Es ist toll, oder?»

  «Wahnsinn!»

  Langsam geht er weiter die Mauer entlang, noch immer mit dem Smartphone in der Hand. Bei jeder Lücke zwischen den Leuten lehnt er sich weit über die Brüstung. Hoffentlich rutscht ihm das Handy nicht irgendwann aus den nassen Fingern.

  «Es ist verrückt! Sieh dir das doch mal an!»

  Das Wasser, das an dieser Stelle über mehrere Felsvorsprünge in das mit der Zeit ausgehöhlte Becken hinabschießt, schäumt meterhoch, es sieht aus, als würde es kochen. Der hauchzarte Sprühnebel legt sich über alles, viele Leute haben sich trotz der warmen Sonnenstrahlen in Plasikcapes gehüllt.

  Ergriffenheit liegt auf Jacksons Gesicht, und endlich mal weiß ich ganz genau, was in ihm vorgeht. Nahezu willenlos lässt er sich von mir zu der Brücke ziehen, die den Fluss über den Wasserfällen überspannt, und dort steht er so lang, dass sogar ich mich durch die Wirbel unter uns hypnotisiert fühle.

  «Stell dir vor, du rast hier mit dem Kajak runter», ruft Jackson.

  «Das überlebst du nicht», erwidere ich freundlich.

  Er lacht. «Stell dir vor, du sitzt in einem Kajak, mitten rein in diese Wasserhölle, und du überlebst es!»

  Lange Sekunden würde man nichts anderes spüren als den irrwitzigen Sog, Felsspitzen würden vorbeischnellen, und man könnte aufgrund des brodelnden Wassers kaum atmen, selbst wenn man nicht kentern würde – und dann gäbe es diesen Moment des freien Falls, umgeben von weißem Schaum und Gischt und Nebel, und nehmen wir nur einmal an, wie durch ein Wunder würde man nicht an den scharfkantigen Steinwänden zerschmettert werden, sondern eintauchen, an der tiefsten Stelle des Beckens eintauchen, und das herabschießende Wasser würde dich immer weiter nach unten drücken, bis du spürst, wie es dich endlich wieder freigibt und du auftauchst und über dir die schwarzen Klippen, der blaue Himmel und die Sonne, während du in der engen Schlucht davongetragen wirst, pfeilschnell wie ein Fisch …

  Ich wende den Blick von dem wütenden Wasser ab und stelle fest, dass Jackson mich ansieht, sein Gesicht so nah an meinem, dass wir nicht rufen müssen, um das Brausen zu übertönen.

  «Es wäre unglaublich», sagt er, und ich nicke.

  In den Sekunden, die jetzt verstreichen, gibt es nur ihn und mich und das Tosen des Wassers. Die Menschen links und rechts werden zu Schatten, nur Jackson ist real. Sein Gesicht, über das feine Tropfen rinnen, die nassen Strähnen, die ihm bis fast über die Augen hängen, und das leichte Lächeln, mit dem er mich mustert.

  Es ist ein besonderer Moment … und er wird mal wieder dadurch zerstört, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mich verhalten soll. Was denkt er? Was fühlt er? Was sieht er, wenn er mich anguckt? Wird er in Gedanken noch immer von den Stromschnellen mitgerissen? Fällt er in die Tiefe, spürt er die Kälte und die Wucht, und wie lebendig man sich in einem solchen Moment fühlt? Wie verletzlich?

  Oder sieht er gerade nur mich?

  Zaghaft greife ich nach einer seiner Hände, die locker über der Mauerbrüstung hängen. Das ist okay, oder? Oder ist das zu persönlich? «Lass uns weitergehen. Vielleicht haben wir Glück, und du kannst noch irgendein Tier für deine Sammlung fotografieren.»

  Jackson richtet sich auf. Mit der freien Hand streicht er sich die nassen Haare aus der Stirn, seine Finger umschließen meine. Würde ich jetzt lockerlassen, er würde mich halten.

  «Okay», sagt er.

  JACKSON

  W ann auch immer ich in den letzten drei Jahren mit einer Frau händchenhaltend durch die Gegend gelaufen bin, war spätestens das der Moment, in dem aus unverbindlichem Dating etwas Festes geworden ist. Man hatte sich kennengelernt und fand sich sympathisch genug, um sich selbst und anderen zu demonstrieren: Wir sind zusammen.

  Havens Hand zu halten ist anders. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber Gedanken macht, ob wir irgendwie … ein Paar geworden sind oder wann der Zeitpunkt gekommen wäre, den nächsten Schritt zu gehen. Es fühlt sich auf eine verrückte Art freundschaftlich und gleichzeitig elektrisierend an. Das Lächeln auf ihren Lippen ist kaum wahrnehmbar, sie sieht ziemlich zufrieden aus, und ich habe keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. Am liebsten würde ich sie fragen, aber wenn es eine Frage auf dieser Welt gibt, die ich wirklich hasse, dann ist es das klassische: «Woran denkst du gerade?»

  Stella hat mich gefühlt zehnmal am Tag damit genervt, und die Tatsache, dass ich in den letzten Wochen unserer Beziehung in ihrem Beisein oft dar
über nachgedacht habe, das Ganze zu beenden, hat mir diese Frage nicht sympathischer gemacht.

  Haven zieht mich von dem breiten Weg hinunter, den wir uns noch immer mit Dutzenden Leuten teilen. Die Bäume stehen weit genug voneinander entfernt, um ihre Hand nicht loslassen zu müssen, und ich werde garantiert auch nicht der Erste von uns beiden sein, der das tut.

  «Heute Nacht werde ich bestimmt von diesen Wasserfällen träumen», sage ich und grinse Haven an.

  «Es ist ein heiliger Ort», entgegnet sie.

  «Wie meinst du das?»

  «Es ist …» Sie wirft mir einen beinahe prüfenden Blick zu. «Es ist ein Kraftort. Für die meisten Leute sind es nur beeindruckende Wasserfälle, aber für die Menschen, die schon früher hier gelebt haben, ist es viel mehr.»

  Das klingt gut. Ein Kraftort. «Was bedeutet das?»

  «So genau darf ich dir das nicht erzählen. Jeder Kraftort hat seine Geschichte, aber sie werden nicht an Außenstehende weitergegeben. Es gibt hier sehr viele.»

  «Und woher weißt du davon?»

  «Von Nate. Einem der Ranger hier. Er gehört zum Volk der Sioux.»

  «Spannend.»

  Innerhalb weniger Minuten ist das Geplapper der Menschen, die wir zurückgelassen haben, verstummt. Der Wald nimmt ihre Stimmen in sich auf, schirmt Gelächter, Rufen, ja selbst den brausenden Wasserfall vor uns ab. Zurück bleibt die Art von Stille, die ich in den letzten Tagen kennengelernt habe: das dumpfe Geräusch unserer Schritte auf dem federnden, mit braunen Tannennadeln bedeckten Erdboden und der allgegenwärtige Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstreicht.

  «Wohin gehen wir jetzt?»

  Es gefällt mir, meine Stimme in dieser Umgebung zu hören. Meine Worte scheinen sich völlig ungehindert entfalten zu können. Es gibt einfach nichts, das sie überdecken würde.

  «Wir folgen dem Fluss, und wenn wir Glück haben, treffen wir Gracie.»

  «Gracie.»

  «Gracie ist ein Elch.»

  «Natürlich.»

  Ich spüre Havens Blick auf mir, und als ich mich zu ihr umdrehe, liegt ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht.

  «Ich wusste nicht, dass Gracie ein Elch ist», erkläre ich. «Es war nur so eine Bemerkung. So was wie ‹Ist ja klar, dass jemand wie Gracie nicht deine Freundin aus der Schule sein kann›.»

  «Ah.» Haven scheint darüber nachzudenken. «Sagst du so etwas, damit ich darüber lache? Oder findest du es lustig, dass ich keine Freunde habe?»

  Die Bestürzung, die mich jetzt überfällt, wird im nächsten Moment dadurch abgemildert, dass ich keine Verletztheit in Havens Augen erkennen kann. Ist sie es so gewohnt, dass andere Leute sie für seltsam halten?

  «Ich glaube, weder noch», erwidere ich vorsichtig. «Es liegt überhaupt keine Absicht dahinter, und mit Sicherheit finde ich es nicht lustig, dass du keine Freunde hast … Du hast wirklich keine?»

  «Na ja, definiere Freunde», erwidert Haven und wendet den Blick ab. «Natürlich gibt es Menschen, mit denen ich Zeit verbringe.»

  «Okay.»

  «Es ist jetzt nicht so, dass ich nur mit meinem Vater reden würde.»

  «Okay.»

  «Es gibt zum Beispiel Nate. Und ich unterhalte mich oft mit Mr. Adams – er arbeitet in Jaspers Bibliothek. Und es gibt all das hier», fügt sie mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, die mich im ersten Moment verwirrt.

  «Was meinst du mit all das hier ? Der Wald ist dein Freund?»

  «Nein, natürlich nicht. Oder doch, aber nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst. Es ist nur …» Haven gerät ins Stocken, eine schwache Röte breitet sich auf ihren Wangen aus. «Es ist nicht so, dass ich mit Bäumen reden würde, falls du das denkst, aber ich fühle mich hier einfach selten allein. Wenn ich unterwegs bin, ist alles um mich herum lebendig und – für dich hört sich das bestimmt seltsam an.»

  «Tut es nicht.» Das ist nicht ganz die Wahrheit. Ein wenig seltsam klingt es schon.

  «Nicht? Dann wärst du der Erste. Ich fühle mich hier …»

  Sie sucht so angestrengt nach einem geeigneten Begriff, dass ich ihr gern helfen würde, aber ich habe absolut keinen Schimmer, welches Wort angemessen wäre.

  «… ich gehöre einfach dazu», beendet sie den Satz und lächelt entschuldigend. «Wenn du zurück nach Edmonton fährst, warten da sicher Menschen auf dich. Und hier wartet man auf mich.»

  «Wer? Die Bäume?»

  Ich will es wirklich verstehen, und vielleicht, weil diesmal nicht ein Hauch von Ironie in meinen Worten liegt, lacht Haven auf. «Nein, wohl eher nicht. Obwohl – wer weiß das schon. Immerhin sind Bäume Lebewesen, auch wenn ich denke, dass sie nicht sehr viel von uns wahrnehmen, weil wir einfach zu schnell für sie sind. Nein, ich rede von den Tieren, die hier leben.»

  «Du hast Tierfreunde.» Ich muss an kitschige Disneyprinzessinnen denken, die ständig mit Kaninchen und Fischen und Vögeln reden.

  «Das trifft es nicht ganz, aber … irgendwie schon, ja.»

  «Gracie?»

  «Gracie ist gern allein. Aber sie freut sich, wenn sie mich sieht.»

  «Woran merkst du das?»

  «Woran merkst du, dass dein Freund Cay sich freut, dich zu sehen?»

  «Er … ich weiß nicht. Er lächelt oder so. Keine Ahnung.»

  «Siehst du.» Sie grinst mich an, als habe ich ihr mit meiner Antwort recht gegeben. «An Gracies Körpersprache kann ich das genauso sehen.»

  Ich öffne gerade den Mund, um zu fragen, wie ein Elch lächelt, da packt Haven meine Hand fester. «Schau, da vorn.»

  Mein Mund wird trocken, als ich ihrem Blick folge. Scheiße. Was ist das? Ein Puma? Ist das ein Puma? Die sind gefährlich, oder nicht? Und er ist nicht gerade klein.

  «Was tun wir jetzt?» Meine Stimme ist so leise, dass ich nicht sicher bin, ob Haven mich überhaupt gehört hat, aber ich will das Tier nicht versehentlich reizen. Haven lässt meine Hand los. Was hat sie vor? Sollen wir rennen? Uns etwas zu unserer Verteidigung suchen?

  Sie geht in die Knie, und vorsichtig tue ich es ihr nach, auch wenn mir ganz und gar nicht gefällt, dass die Raubkatze vor uns dadurch noch größer wirkt. Vielleicht signalisieren wir so, dass wir keine Gefahr darstellen. Guck, Puma, wir sind ganz harmlos. Hau ab. Stattdessen schleicht er langsam auf uns zu – ich frage mich, ob Havens Taktik wirklich die richtige ist.

  «Sollten wir nicht wegrennen?», quetsche ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Als Haven mir einen überraschten Blick zuwirft und mich im nächsten Moment angrinst, beginne ich ernsthaft an ihrer Ranger-Berufung zu zweifeln. Sie hält sich doch für eine verdammte Disney-Prinzessin.

  «Keine Sorge, das ist nur Snoops.»

  «Was?»

  «Der Puma. Er heißt …»

  In diesem Moment hat das Vieh uns erreicht. Mich ignoriert es völlig, senkt nur den Kopf und legt die Schnauze zwischen Havens Kinn und ihre Schulter. Vorsichtig gleiten ihre Hände in das kurze, glänzende Fell, eine zarte Berührung, ohne das Tier dabei festzuhalten, und dann ist der Augenblick auch schon wieder vorüber. So dicht wie die Katzen meiner Grandma, die sich immer an meinen Beinen reiben, streift der Puma an Haven vorbei und verschwindet so lautlos zwischen den Bäumen, wie er zuvor aufgetaucht ist.

  Haven richtet sich wieder auf. «Er heißt Snoops», beendet sie ihren Satz. Glücklich strahlt sie mich an, bevor sie hinzufügt: «Und du solltest niemals einfach wegrennen, wenn eine Situation brenzlig wird. Das war so ungefähr das Erste, was mein Vater mir beigebracht hat.»

  «Snoops», wiederhole ich. «Der Puma heißt Snoops. Und er ist dein Freund.»

  «Na ja.» Sie reicht mir eine Hand, weil ich nach wie vor zwischen den Büschen kauere. Langsam ergreife ich sie und lasse mich in die Höhe ziehen. Dass mein Herzschlag sich kaum wieder einkriegt, hat diesmal ausnahmsweise nichts mit ihr zu tun. «Er kommt jedenfalls dicht an einen Freund ran.»

  8

  HAVEN

  D ad hat nicht nach Jackson gefragt, und obwohl ich auf seine Missbilligung verzichten kann, stört mich das. Ich ahne, was in seinem Kopf vorgeht: Spätestens am Wochenende ist das Thema ohnehin erledigt, und al
les wird wieder so sein wie immer. Beim Abendessen hat er mir erzählt, wo Nate und er Bärenspuren entdeckt haben, als wolle er sogar vermeiden, dass ich das Thema selbst aufbringe.

  «Schlaf gut», hat er vorhin gesagt, so wie immer, nur dass ich jetzt schon seit zwei Stunden unter meiner Bettdecke liege, und wenn mir irgendetwas aktuell ganz sicher nicht gelingt, dann einzuschlafen.

  Zwei Tage. Zwei Tage in der Gesellschaft eines anderen. Jemand, der nicht mein Vater ist, jemand, der nicht nach der ersten Neugier das Interesse wieder verliert. Mit Jackson durch den Wald zu laufen war, als würde sich ein Traum aus meiner Kindheit erfüllen. Ich liebe diesen Wald, ich liebe alles, was damit zusammenhängt, ich gehöre hierher, und doch – nach den letzten Tagen wünsche ich mir heftiger als je zuvor, Freunde zu haben.

  Ich habe die Einsamkeit lange nicht in Frage gestellt, ich war sogar stolz darauf, allein unterwegs sein zu dürfen, jeden aufkommenden Zweifel und jede Unsicherheit habe ich immer beiseitegeschoben. Die spärlichen Kontakte zu anderen Jugendlichen haben mich auch nicht unbedingt motiviert, etwas daran zu ändern. Doch irgendwann haben die Dinge begonnen, sich zu verschieben, und es wurde schwerer, zufrieden zu sein mit dem, was ich hier habe.

  Jetzt bin ich neunzehn. Und habe keinen Schimmer, wie und wo ich anfangen sollte, um etwas zu verändern. Den Wald verlassen? Möchte ich das?

  Auf jeden Fall nicht für immer. Natürlich nicht für immer, aber vielleicht für ein paar Monate? Vielleicht für ein Semesterhalbjahr. Einfach, um das andere Leben mal kennenzulernen, ein Leben, das ich mit sieben Jahren zurückgelassen habe und mit dem ich kaum mehr etwas in Verbindung bringe.

  Ich erinnere mich an meine Mutter. An ihre Haare, rotblond, die mein Gesicht streiften, wenn sie mich küsste. Ich erinnere mich daran, wie ich ihre Hand hielt, ich erinnere mich an das Leuchten in ihren Augen, wenn sie lachte, auch wenn ich das Geräusch ihres Lachens selbst vergessen habe.

  Mit ihr habe ich in der anderen Welt gelebt, aber ich kann mich kaum daran erinnern. Da sind nur ein paar vage Bilder, alles andere ist wie gelöscht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlt und dass ich mich nicht weiterentwickeln kann, solange ich diesen Teil nicht wiederfinde. Vielleicht werde ich mich nie richtig erwachsen fühlen, wenn ich das, was meine Mutter in meiner Erinnerung umgibt, nicht mit Farbe füllen, die Umrisse im Hintergrund nie nachzeichnen kann.

 

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