by Kira Mohn
«Weiß ich. Aber …»
«Jax, was zum Teufel willst du denn noch einen Tag länger in der Wildnis? Wo sollen wir denn so schnell einen Ersatz für dich hernehmen? Es war schließlich auch deine Idee.»
Cayden hört sich genauso angefressen an wie immer, wenn etwas nicht so läuft, wie er sich das vorgestellt hat, und in diesem Fall übertreibt er nicht einmal. Wir haben gemeinsam überlegt, womit wir Kaylee an ihrem Geburtstag überraschen könnten, und letztlich war das Geburtstagslied tatsächlich mein Vorschlag. Völlig bescheuert, aber abgemacht ist abgemacht.
«Vergiss es einfach wieder», sage ich. «Ich komme.»
«Was soll denn überhaupt diese plötzliche Naturverbundenheit?» Cayden ist noch nicht besänftigt. «Erst beschließt du, mit der Tour ohne mich weiterzumachen, und jetzt erklärst du mir, du kommst nicht zu Kaylees Party.»
«Ich hab doch gesagt, ich werde da sein.»
Cayden schnaubt. «Komm schon – du läufst doch nicht einfach nur den ganzen Tag im Wald rum, oder? Hat dich die Kleine etwa immer noch nicht rangelassen?»
Ich unterdrücke ein Seufzen. Cayden hat ein geradezu unheimliches Gespür für die Schwingungen zwischen zwei Leuten, nur leider ist er eben auch ein unsensibler Arsch. Natürlich ist ihm aufgefallen, wie ich Haven auf dem Parkplatz beim Horseshoe Lake angestarrt habe, und ganz egal, wie oft ich es abstreite, er würde mir nicht glauben.
«Wann soll ich da sein?», übergehe ich seine Frage.
«Chase und Dylan kommen gegen sieben. Wir nehmen Dylans Wagen, er ist dran mit Fahren.»
«Alles klar.»
«Bring das Waldmädchen doch mit. Wird bestimmt lustig. Die hat garantiert noch nie Alkohol getrunken.»
«Sie heißt Haven», erwidere ich steif, weil es mich zu nerven beginnt, dass Cayden so hartnäckig an diesem Thema festhält. «Und lass es jetzt einfach gut sein, ja?»
«Stella würde sich bestimmt freuen, sie kennenzulernen», stichelt Cayden jedoch fröhlich weiter. «Nun sag schon: Wie weit bist du bei ihr gekommen? Wetten, die ist nirgendwo rasiert?»
«Cayden, halt endlich dein blödes Maul!»
Am anderen Ende höre ich ihn lachen. «Jax …»
«Ich mein’s ernst, Cay. Hör einfach auf.»
«Hey, entspann dich. War doch nur ein Spruch», lenkt Cayden ein. «Du bist doch sonst nicht so schnell angepisst. Also dann, wir sehen uns Samstag.»
«Ja, bis Samstag», erwidere ich, nicht wirklich versöhnt.
«Stella freut sich übrigens auf dich. Sie hat zu Kaylee gesagt, sie wünschte, sie hätte nicht mit diesem Typen rumgemacht … wie hieß der noch gleich?»
«Ist doch völlig egal. Das mit Stella und mir lief schon vorher nicht besonders, und das weißt du auch.»
«Sieht sie anders. Überleg’s dir doch noch mal. Sie ist echt in Ordnung. Außerdem wüsste ich nicht, wer zur Zeit heißer wäre als sie. Abgesehen von Kaylee natürlich», fügt er hinzu.
«Hat Kaylee gesagt, du sollst mit mir reden?», frage ich plötzlich misstrauisch.
«Nein! Also, nicht direkt. Sie meinte nur, Stella würde sich ständig bei ihr ausheulen, und ich solle zusehen, dass ich dich wieder auf Spur bringe.»
Typisch Kaylee. Sie selbst würde sich nie auf eine ernsthafte Beziehung einlassen – und passt damit perfekt zu Cayden –, aber was die Beziehungen anderer betrifft, mischt sie nur zu gern mit. «Cayden …»
«Hab ich hiermit getan, alles Weitere überlasse ich dir. Was hast du morgen vor?»
«Mal sehen», rudere ich Caydens plötzlichem Themenwechsel hinterher. «Wir haben noch nichts Genaues geplant.»
«Wir?»
Ergeben schließe ich in Erwartung einer neuen, anzüglichen Bemerkung die Augen, doch Cayden lacht nur, und es klingt nicht einmal sonderlich gehässig. «Dann viel Spaß noch.»
«Danke.»
«Benutz auf jeden Fall ein Gummi.»
Er beendet die Verbindung, bevor ich auf diese Bemerkung reagieren kann. Während ich das Telefon zurück in die Jackentasche schiebe, atme ich einmal tief durch. Sollte ich es verhindern können, wird Haven niemals bei einer von Caydens Partys auftauchen. Und es ist ja nicht nur Cayden – nehmen wir nur Stella. Beide Eltern Designer, die Mutter Mode, der Vater Innenarchitektur. Stellas Stil ist lässig, ihrer Mutter zum Trotz, deren Schwerpunkt auf Haute Couture liegt, aber diese Lässigkeit ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit den Klamotten, die Haven trägt. Ich sehe Stellas spöttischen Blick bereits vor mir.
Rechts am Straßenrand taucht das Schild auf, das auf den Wabasso-Campingplatz hinweist, und wenige Minuten später erreiche ich die Abzweigung. Das Kassenhäuschen ist nicht mehr besetzt, Aaron hat offenbar heute früher Feierabend gemacht.
Die Sonne steht bereits tief, als ich bei meinem Zelt ankomme. Als Erstes krame ich eine Packung Spagetti aus dem Rucksack und setze einen Topf Wasser über dem Campingkocher auf. Heute dauert es eine Weile, bis ich ein Feuer in Gang bringe, doch als ich endlich mit zu weichen Nudeln an der Feuerstelle sitze, schiebe ich Cayden, Stella und alle damit verbundenen Bedenken zur Seite.
Haven wird in Edmonton ja nicht allein sein – ich bin auch noch da. Abgesehen davon vergeht noch ein Dreivierteljahr bis zum nächsten Sommersemester. Mit Stella werde ich die Situation bis dahin hoffentlich geklärt haben, und was Cayden betrifft: Wir kennen uns, seit ich ihn in meinen ersten Wochen am Rutherford kennengelernt habe und er mir das freie Zimmer in seinem Apartment angeboten hat. Das ist über drei Jahre her, mittlerweile würde ich ihn zu meinen engeren Freunden zählen. Auch wenn es ihm schwerfällt – es wird ihm sicher gelingen, einfach mal seine Klappe zu halten.
Mir wird plötzlich bewusst, dass ich mir Gedanken über ein Szenario mache, das noch ein halbes Jahr in der Zukunft liegt, obwohl ich Haven vor nicht einmal einer Woche erst kennengelernt habe. Aber nach dem Tag heute am Silent Lake … in den nächsten Monaten werde ich an so vielen Wochenenden wie möglich in den Jasper National Park kommen, nehme ich mir vor.
Ich strecke mich neben dem gemütlich flackernden Feuer lang im Gras aus und blicke in den mittlerweile nachtblauen Himmel.
Früher hat mir meine Nanny oft aus einem Kinderbuch vorgelesen. Es ging um einen Jungen, der von zu Hause fortlief, um Seeräuber zu werden. Als er das erste Mal draußen schläft, leuchtet ein Stern nach dem anderen am Himmel auf.
Hier dagegen ist es, als habe jemand eine Million Sterne quer übers Firmament gekippt – hundert Nächte würden nicht reichen, um einen Stern nach dem anderen aufleuchten zu lassen.
Ich wünschte, Haven wäre hier. Genau jetzt, neben mir, und ihre Hand läge in meiner.
12
HAVEN
«H allo», sagt mein Vater.
Der Duft von Perogies steigt mir in die Nase, und überrascht blicke ich auf. Gerade habe ich in Gedanken versunken die Haustür aufgeschlossen, jetzt hänge ich langsam meine Jacke an den Haken, während mein Vater hinter dem Küchentresen an einer Pfanne rüttelt.
«Du bist aber früh zu Hause», stelle ich fest.
«Es gibt ja auch noch einiges zu klären, oder nicht?»
Er schenkt mir ein flüchtiges Lächeln, doch ich kann den noch immer angespannten Unterton in seiner Stimme hören. «Hast du schon Hunger?»
«Also …» Ein Blick zum Tisch zeigt, dass er bereits Teller, Gläser und gebratene Zwiebeln hingestellt hat. Sogar eine Schale mit Apfelkompott zum Dessert steht daneben. «Ja, ein wenig», murmele ich.
Nein, eigentlich gar nicht. Mein aktuelles Gefühlschaos und das nun anstehende Gespräch fegen jedes potenzielle Hungergefühl beiseite, trotzdem setze ich mich an den Tisch. Gemeinsam Perogies zu essen scheint mir ein guter Rahmen für klärende Unterhaltungen zu sein. Immerhin kann man kauen, wenn man gerade nicht weiß, was man als Nächstes sagen soll.
Dad tritt mit der Pfanne zu mir und lässt gleich drei brutzelnde Teigtaschen auf meinen Teller rutschen. Dann verschwindet er wieder hinter dem Küchentresen, um als Nächstes einen Teller mit einem Berg an fettigen Perogies auf dem Tisch abzuladen. «Ich kann noch welche in die Pfanne tun», sagt er und setzt sich auf seinen Platz mir gegenüber. �
�Es sind noch genug da.»
Die Äpfel für das Kompott hat Nate letztes Jahr vorbeigebracht. Würden sich Dad und Nate hin und wieder treffen, wäre ich fort? Einfach so, abends vielleicht?
«Also.» Mein Vater hat sich gebratene Zwiebeln über seine Perogies gehäuft, doch statt mit dem Essen zu beginnen, lehnt er sich zurück. «Edmonton. Dieser Jackson studiert in Edmonton, richtig?»
Das ist ein denkbar ungünstiger Einstieg für dieses Gespräch, und auch Dad scheint zu bemerken, welche Wirkung seine Eröffnung auf mich hat. Als würde ich einzig und allein wegen Jackson nach Edmonton wollen.
«Nein, warte. Lass uns anders anfangen. Du möchtest für ein Semester nach Edmonton gehen, aber du sagst, es läge nicht daran, dass du dich hier einsam fühlst.» Er räuspert sich. «Warum dann?»
Auf diese Frage habe ich immerhin für mich selbst schon eine Antwort gefunden. «Weil ich glaube, dass ich mal eine Zeitlang woanders gelebt haben muss, bevor ich beschließen kann, für immer hierzubleiben.» Ich wende meinen Blick von Dad ab, um eine der Teigtaschen mit der Gabel zu zerteilen.
«Du musst ja nicht für immer hierbleiben, wenn du das nicht willst. Du hast jederzeit die Möglichkeit, in die Stadt zu ziehen.»
«Also auch jetzt?»
Dad atmet geräuschvoll ein. «Natürlich auch jetzt. Wenn ich sage ‹jederzeit›, dann meine ich das auch so. Ich würde nur gern verstehen, woher dieser plötzliche Sinneswandel kommt. Du hast immer gesagt, du liebst das Leben hier.»
«Das tue ich auch», erwidere ich. «Ich würde nur gern … na ja, einfach mal für eine Weile mehr unter Menschen sein.»
«Du könntest häufiger nach Jasper fahren», schlägt er vor, und es fällt mir schwer, nicht die Augen zu verdrehen.
«Das ist nicht das, wovon ich rede, Dad, und das weißt du auch.»
«Wenn es dir darum geht, mehr unter Menschen …»
«Ich will nicht einfach nur häufiger einkaufen. Oder in die Bibliothek gehen. Ich will wissen, wie so ein Alltag wäre … ein ganz normales Leben mit Freunden und solchen Sachen.»
«Das Leben hier kommt dir also plötzlich nicht mehr normal vor.»
«Es ist nicht normal!», platze ich heraus. «Wie viele Mädchen kennst du denn, die quasi zwei Drittel ihres Lebens allein in einem Wald verbracht haben? Die Gemüse einkochen und Wanderwege kontrollieren und die Wasserqualität der Seen in der Umgebung überprüfen, statt … ich weiß nicht … ins Kino zu gehen oder bei einer Freundin zu übernachten?»
«Du hast immer gesagt, du bist froh, so leben zu dürfen. Als du dich für das Fernstudium eingeschrieben hast …»
«Ich weiß, was ich gesagt habe. Und ich habe das auch so gemeint. Aber warum verstehst du nicht, dass ich einfach wissen will, wie es anders wäre?»
«Du könntest erst einmal das Studium beenden und …»
«Oder ich könnte jetzt ein Gastsemester machen. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, was sollte ich denn dann in Edmonton tun? Ich kann dort nicht als Rangerin arbeiten.»
«Du könntest an den Wochenenden hinfahren, um dir alles anzusehen.»
«Ich will mir aber nicht alles nur ansehen! Ich will einfach dazugehören. Und nicht wie ein Tourist durch die Gegend stolpern.»
«Und wie willst du das anstellen? Wo würdest du wohnen?»
«Es gibt Wohnheime.»
«Es gibt auch Fristen. Die sind vorbei. Du müsstest dich bewerben. Dich einschreiben. Vielleicht nach Wohnungen suchen, sollte es in den Studentenwohnheimen keinen Platz mehr geben. Und von irgendetwas musst du auch leben.»
«Ich habe Geld.» Das Konto, auf das Dad jedes Jahr einen festen Betrag einzahlt, hat mich bisher nicht besonders interessiert. Jetzt allerdings …
«Das wird nicht ewig reichen.»
«Dann suche ich mir eben einen Job.» Eigentlich wollte ich Dad fragen, ob er mich finanziell unterstützen könnte, aber im Moment würde ich mir eher die Zunge abbeißen, als diesen Vorschlag zu machen. «Wieso bist du so dagegen?»
«Das bin ich nicht. Ich will nur, dass du dir diesen Schritt gut überlegst, statt nur deiner neuen Bekanntschaft nachzulaufen.»
«Ich laufe niemandem nach! Ich hatte mir das schon vor Jackson überlegt!»
Nach dieser Aussage braucht Dad ein paar Sekunden. «Davon hast du nie etwas gesagt.»
«Weil ich darüber erst in Ruhe nachdenken wollte.»
«Und jetzt, wo du diesen Jackson kennengelernt hast, bist du fertig mit Nachdenken?»
«Genau», erwidere ich patzig. «Und könntest du aufhören, es so hinzustellen, als sei er der einzige Grund?»
«Ich sage nur …»
«Und was hat das alles eigentlich mit Mum zu tun?», gehe ich in die Offensive.
«Mit deiner Mutter?»
«Warum bist du heute Morgen so wütend geworden, als wir über sie gesprochen haben?»
Ich will jetzt nicht darüber reden, dass mein Wunsch, nach Edmonton zu ziehen, seit heute Nachmittag enger mit Jackson verknüpft ist, als ich es Dad gegenüber zugeben würde. Und es gibt hier ja auch noch etwas anderes zu klären.
«Mit deiner Mutter hat das alles überhaupt nichts zu tun!»
«Wollte sie wirklich weg aus Edmonton?»
Ich sehe ihn nach Worten suchen. «Sie … sie wollte weg …»
«Wirklich? Wollte sie das wirklich ?» Keine Ahnung, woher ich die plötzliche Sicherheit nehme, dass Mum das nicht wollte. Es ist etwas in Dads Gesicht, eine Art Schmerz, und ich sollte aufhören, immer weiter und weiter zu bohren. Doch ich kann nicht. «Warum wollte sie Edmonton verlassen? Sie war nicht so wie du! Ich glaube, sie hat gern in Edmonton gelebt!»
«Sie wollte … weg von mir», entgegnet mein Vater leise.
«Sie … was? Sie wollte was?»
Dads normalerweise so ruhige und gelassene Gesichtszüge wirken plötzlich alt, verhärmt, grau. Sorgfältig legt er die Gabel neben seinen Teller. «Sie wollte mich verlassen. Sie hatte jemanden kennengelernt.»
«Aber … das … warum hast du mir das nie erzählt?»
«Es hätte dich nur belastet. Du kannst dich an das letzte Gespräch zwischen deiner Mutter und mir nicht erinnern, oder?»
Ich krame in meinem Gedächtnis und finde rein gar nichts. Stumm schüttele ich den Kopf.
«Ich habe versucht, sie umzustimmen, aber sie meinte, sie wolle leben … so als habe sie bis zu diesem Zeitpunkt nie wirklich gelebt.» Dad wählt seine Worte jetzt sehr genau, ich erkenne es daran, wie er sich Satz für Satz vortastet. «Ich habe zu ihr gesagt, ich würde sie nicht wiedererkennen, und sie hat mir ihren Ring mit den Worten vor die Füße geworfen, ich hätte sie nie wirklich gekannt.» Er atmet tief durch. «Haven, es tut mir leid. Nach dem Autounfall habe ich keinen Grund mehr gesehen, dir davon zu erzählen. Du warst ein kleines Mädchen und am Boden zerstört, es hätte dir nur zusätzlichen Schmerz bereitet.»
Das hätte es vermutlich. Es tut auch jetzt ziemlich weh. Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht, meine Eltern hätten sich geliebt, und nur der Autounfall sei schuld daran gewesen, dass diese Liebe auseinandergerissen wurde.
Mum wollte Dad verlassen. Ich sehe auf meine mittlerweile kalten, nahezu unangetasteten Teigtaschen.
Was für ein Leben hätte ich geführt, wäre es dazu gekommen?
Wo wären wir hingegangen? Wäre Dad trotzdem hierhergezogen? Wären Mum und ich in Edmonton geblieben? Hätte ich Dad dann noch regelmäßig gesehen?
Mit einem Ruck schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf, ohne recht zu wissen, was ich als Nächstes tun oder sagen soll. Ich will nur nicht weiter hier sitzen und auf meinen Teller starren.
Dad erhebt sich ebenfalls. «Ich will dich nicht daran hindern, nach Edmonton zu gehen, Haven. Ich wollte nur … ich weiß nicht, was ich wollte. Ich schätze, ich hatte das Gefühl, auch du willst mich verlassen. Es tut mir leid.»
«Ich will dich nicht verlassen», erwidere ich leise. «Ich habe … ich dachte …»
«Die Schwester deiner Mutter lebt in Edmonton. Caroline. Sie hat eine Tochter, die etwas jünger ist als du, ihr habt oft zusammen gespielt.»
Mein Hirn scheint sich von innen nach
außen zu krempeln, bei dem Versuch, mich an Gesichter aus der Vergangenheit zu erinnern. Eine Tante. Und eine Cousine. Doch da ist nichts.
«Meine Cousine … wie heißt sie? Und wie heißt mein Onkel?»
«Weiß ich nicht mehr. Sie haben sich kurz nach der Geburt ihres Kindes getrennt. Ich werde Caroline anrufen. Sie wird sehr überrascht sein.»
«Warum? Warum willst du sie anrufen?»
Eine Art widerwillige Entschlossenheit zeigt sich auf dem Gesicht meines Vaters. «Na ja – sie könnte dich in Edmonton unterstützen. Sie hat dich immer gemocht. Ich … es war meine Schuld, dass der Kontakt abgerissen ist. Mal sehen, was ich tun kann. Du isst nichts mehr, oder?» Er macht eine Geste zum gedeckten Tisch hin. Ich schüttele den Kopf, und während er die Teller zusammenstellt, entkrampfe ich meine Hände, die ich zu Fäusten geballt habe.
«Ich will nicht denselben Fehler ein zweites Mal machen.» Er hält inne, um mich anzusehen. «Wenn du gehst, soll es nicht im Streit geschehen.»
Ein paar Sekunden sehen wir uns an, dann fährt er damit fort, den Tisch abzuräumen. Kurz überlege ich, ob ich ihm helfen soll, bevor ich mich zur Haustür wende.
Draußen hat sich die Dämmerung vom Wald her an das Haus herangeschlichen, als ich die Lichtung überquere, um schließlich in die schwarzen Schatten zwischen den Bäumen einzutauchen. Ich gehe so weit, bis nichts mehr vom Haus zu sehen ist, und lasse mich schließlich vor dem mächtigen Stamm einer alten Tanne zu Boden sinken, lehne den Kopf gegen ihre rissige Haut. Dieser Baum ist ganz von allein zu einem besonderen Baum für mich geworden, ohne dass ich nach ihm gesucht hätte. Vermutlich, weil ich schon so oft hierhergekommen bin.
Der Duft des Waldes ist abends intensiver, erdiger. Einige Bewohner sind gerade unterwegs, ich kann ihr Rascheln im Unterholz hören, und ein gelegentliches Schnaufen weist darauf hin, dass auch Gisbert in der Nähe ist, ein alter Dachs, der sich selten näher heranwagt. Mit den Fingerspitzen schiebe ich trockene Tannennadeln zusammen. Nur langsam kehrt meine innere Ruhe zurück.