by Kira Mohn
Noch immer versuche ich, mir das Leben vorzustellen, das ich mit meiner Mutter geführt hätte. Ohne Dad. Wäre es besser gewesen? Mit Sicherheit wäre es völlig anders gewesen.
Gisbert schnüffelt irgendwo hinter mir herum, ich höre ihn näher schlurfen. Als er mich wahrnimmt, stockt er für einen Moment, die weißen Streifen, die sich an seiner Schnauze entlangziehen, schimmern hell im grauen Licht. Dann wendet er sich ab und tapst weiter.
Caroline. Mum hat eine Schwester. Ich … habe eine Tante. Und eine Cousine. Familie.
Den plötzlichen Stich aufflammenden Ärgers vermag ich nicht abzuwehren. Dad hätte mir das früher erzählen sollen.
Aber was nutzt es, ihm deshalb Vorwürfe zu machen? Er war der beste Vater, der er sein konnte.
Trotzdem. Trotzdem hätte er mir das nicht verschweigen dürfen. Warum hat er das getan? Er hat mir einen Teil meiner Vergangenheit vorenthalten. Und wieso … wieso fällt es mir so schwer, mich daran zu erinnern? Dad meinte, ich hätte früher oft mit meiner Cousine gespielt, doch ich weiß nicht mal mehr ihren Namen!
Mein Kopf scheint zu bersten, so angestrengt versuche ich, Bilder heraufzubeschwören, doch da ist … nichts. Gar nichts.
Und Dad ist schuld daran, Dad, der jetzt schon wieder versucht hat, mich davon abzuhalten, den Nationalpark zu verlassen, indem er so tut, als würde ich nur Jackson hinterherrennen.
Jackson.
Ob ich ihm von alldem erzählen soll?
Meine Finger schließen sich um das Häufchen Tannennadeln, das ich zusammengescharrt habe. Einige Spitzen bohren sich in meine Handfläche, ohne dass sich dadurch an dem brennenden Gefühl etwas ändern würde, das plötzlich von meiner Brust ausgeht. In den Sekunden, in denen Jackson mir am See näherkam, sah ich nur noch sein Gesicht. Die Schatten seiner Wangenknochen, die geschwungene Kerbe in der Mitte der Oberlippe, das tiefe Braun seiner Augen und darin dieser goldene Schimmer … Es war so … so …
Tannenduft, als ich mit den Fingerspitzen meinen Mund berühre und die Augen schließe. Mir vorstelle, Jackson wäre hier, würde sich in dieser Sekunde zu mir beugen und …
Etwas streift meinen Arm, und ich fahre vor Schreck zusammen. Gisbert!
Kaum noch zu erkennen, taucht er wackelnd im Gebüsch unter, und seufzend strecke ich die Beine durch.
Jackson.
Ob er gerade auch an mich denkt?
JACKSON
I ch habe von Haven geträumt. Sie lebte in einer Stadt am Grunde des Silent Lake , und während ich weit über den Dächern dahintrieb und mich darüber wunderte, unter Wasser atmen zu können, tauchte sie vor mir auf, ihr blasses Gesicht umrahmt von einem Wirbel roter Haare.
In meinem Traum hat sie gelächelt, doch als Haven mir heute die Tür öffnet, wirkt sie fast noch angespannter als am vergangenen Tag.
«Ich habe eine Tante in Edmonton», eröffnet sie mir, kaum dass die Lichtung hinter uns liegt und der moosige Waldboden unter unseren Füßen nachgibt. «Sie heißt Caroline.»
«Okay … hast du das etwa nicht gewusst?»
«Nein. Also, irgendwann muss ich es wohl mal gewusst haben, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Und ich habe auch noch eine Cousine – mit ihr habe ich sogar oft gespielt, zumindest behauptet Dad das, aber ich weiß absolut nichts über sie. Weder wie sie aussah, noch was wir gespielt haben, einfach nichts.»
Meine Gedanken eilen in meine eigene Vergangenheit zurück, Bilder steigen in mir auf. Mit meinem besten Freund aus Kindertagen habe ich keinen Kontakt mehr, seit er kurz vor der Schule mit seinen Eltern nach Kalifornien gezogen ist, aber ich habe ihn noch genau vor Augen. «Dein Vater muss wirklich wütend auf deine Mutter gewesen sein, wenn er sogar den Kontakt zu ihren Verwandten abgebrochen hat.»
Haven wird langsamer. «Ich glaube nicht, also …», erwidert sie, und für einen kurzen Moment klingt sie verwirrt. «Nein, ich glaube eher, er hat sich nach ihrem Tod einfach von allem zurückziehen wollen, aber er war nicht wütend auf meine Mutter.»
«Trotzdem hätte er dir irgendwann von deiner Tante und deiner Cousine erzählen sollen.»
«Ja, das hätte er. Und ich verstehe auch nicht, warum er es nicht getan hat.» Haven sieht in diesem Moment so verloren aus, dass ich nach ihrem Arm greife und sie an mich ziehe. Ich spüre ihren warmen Atem an meiner Schulter, dann streckt sie den Rücken durch und tritt zurück. «Dad will sie anrufen. Meine Tante. Vielleicht kann ich bei ihr wohnen. Dann bräuchte ich kein Zimmer im Wohnheim.»
«Na ja, wenn du dich jetzt bewirbst, sollte das ohnehin kein Problem sein. Vorausgesetzt, du wirst für ein Gastsemester angenommen. Du willst es also wirklich durchziehen?»
«Ja. Ich denke schon. Ich würde meine Tante und meine Cousine gern kennenlernen. Ich meine, ich würde sie gern wiedersehen. Und wenn ich wirklich bei ihnen wohnen könnte …»
«Ziemlich viel auf einmal», stelle ich fest. «Du würdest von zu Hause ausziehen, einen Teil deiner Familie kennenlernen, von dem du seit Jahren nichts gehört hast, das erste Mal eine echte Universität besuchen und …» Ich unterbreche mich selbst. ‹Und du hättest zum ersten Mal eine Beziehung›, wollte ich sagen, und warum ich das nicht tue, weiß ich selbst nicht so genau. Vermutlich, weil ich immer noch nicht so recht weiß, ob Haven und ich überhaupt zusammen sind. Wir laufen Hand in Hand, wir haben uns geküsst, wir reden über eine Zukunft, in der wir beide auftauchen – eigentlich sollte alles völlig klar sein. Aber bei Haven …
Sie fragt nicht nach, wie mein Satz geendet hätte, und ich kann nur ahnen, welcher Teil meiner Aufzählung sie am meisten beschäftigt. Ich tippe darauf, dass es ihr besonders schwerfällt, ihren Vater zu verlassen. Über zwölf Jahre hat sie hier mit ihm allein gelebt, er war ihre einzige Bezugsperson.
«Ich werde das schaffen», sagt sie plötzlich.
Eine Sekunde lang nehme ich ihren Anblick in mich auf. Das graue T-Shirt mit dem Jasper-National-Park-Logo auf der Brust, schwarze Jeans mit einem Riss über dem linken Knie, der nicht so wirkt, als sei er bereits beim Kauf dort gewesen, die klobigen Stiefel … und ihre klaren grauen Augen, in denen jetzt Entschlossenheit steht, das wilde, rote Haar, ihr zusammengepresster Mund … ob es mir wohl gelingen würde, die Anspannung in ihrem Gesicht fortzuküssen? Denn das würde ich gern, Haven küssen. Aber im Moment läuft für sie wohl ohnehin alles etwas schnell.
«Du schaffst das mit Sicherheit», sage ich stattdessen.
Sie lächelt ein wenig angestrengt. «Vielleicht kann meine Tante mir sogar bei der Bewerbung für die Uni helfen.»
«Wie das?»
«Dad meinte, sie arbeitet als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und hält auch Vorlesungen.»
«Kontakte schaden nie, aber du wirst bestimmt auch ohne die Hilfe deiner Tante ein Gastsemester machen dürfen.»
«Na ja, aber nachdem die Einschreibetermine ja schon lange vorbei sind …»
Bitte was? Mir drängt sich ein Gedanke auf, aber ich muss sie falsch verstehen. «Du hast dafür doch noch massenhaft Zeit. Das Sommersemester beginnt erst in einem Dreivierteljahr.»
«Aber ich will nicht erst zum nächsten Sommersemester anfangen.» Erstaunt sieht sie mich an.
«Du willst nicht … willst du etwa sofort loslegen? Noch in diesem Semester?»
«Na ja, ich meine … wenn meine Tante sagt, dass ich bei ihr wohnen kann, und ich das mit der Uni geregelt kriege – warum sollte ich dann noch ein Dreivierteljahr warten?»
«Du würdest quasi morgen dein Zeug zusammenpacken und nächste Woche nach Edmonton ziehen?» Es gelingt mir nicht, die Fassungslosigkeit aus meiner Stimme herauszuhalten. Was habe ich eben noch gleich über Haven und ihren Vater gedacht? Einzige Bezugsperson und so?
«Ja, das würde ich», erwidert sie, und die Entschlossenheit, die ich in ihren Augen gesehen habe, spiegelt sich jetzt auch in ihrem Tonfall. «Es wird nicht leichter, wenn ich noch monatelang warte. Und mein Vater …» Sie verstummt.
«Du hast Angst, er würde dich am Ende wieder davon abbringen», beende ich ihren Satz.
«Nein, das nicht», widerspricht Haven. «Aber es würde jeden Tag im Raum stehen. Was ist mit dir?», fährt sie fo
rt, bevor ich noch etwas dazu sagen kann. «Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich … ans Rutherford ginge? Ich meine, ich könnte auch versuchen, auf eine andere Universität …»
«Machst du Witze? Auf gar keinen Fall!», unterbreche ich sie.
«Ich will nicht, dass du denkst, du müsstest dich um mich kümmern. Ich krieg das hin.»
«Was, wenn ich für dich da sein will?»
Darauf entgegnet Haven nichts. Ein paar Sekunden verstreichen, in denen ich mich bemühe, ihrem Blick standzuhalten, ihr keinen Grund zu geben, an mir zu zweifeln.
Sie streckt sich mir entgegen. Ihr Kuss ist so zart, so vorsichtig, dass er etwas in mir auslöst, das ich bisher so nicht kannte. Schon wieder. So viele erste Male.
Es war Haven, die mich geküsst hat, doch ich fühle mich, als hätte ich ihr damit ein Versprechen gegeben.
Auf jeden Fall werde ich für sie da sein.
Hier. In Edmonton. Ganz egal, wo. Ganz egal, wann.
13
HAVEN
S eit unserem letzten Gespräch reden mein Vater und ich kaum noch miteinander. Man könnte sagen, Dad ist einfach so schweigsam wie gewohnt, aber ich … es fällt mir schwer, darüber hinwegzusehen, dass ausgerechnet der bisher wichtigste Mensch in meinem Leben dafür verantwortlich ist, einen Teil meiner Vergangenheit ausgelöscht zu haben. Er hätte mir helfen müssen, mich zu erinnern, statt zuzulassen, dass alles verblasst. Ganz egal, wie sehr ich mich darum bemühe – alles, was vor unserem Umzug hierher passiert ist, besteht aus einer Handvoll Erinnerungsfetzen, die ich nicht zusammenzubringen vermag.
Ich hätte nicht gedacht, dass er seine Ankündigung tatsächlich wahr macht und meiner Tante eine Mail schreibt, doch am frühen Freitagabend klingelt unser normalerweise ewig stummes Festnetztelefon. Dad reicht es mir, nur Sekunden nachdem er sich mit «Wyatt Tremblay» gemeldet hat.
«Haven?» Meine Tante hat eine ungewöhnlich tiefe Stimme, doch ihr Klang löst keine Erinnerung aus.
Ich muss mich räuspern, zweimal. «Hallo, Tante Caroline.» Das ungewohnte ‹Tante› fühlt sich beim Aussprechen sperrig an.
«Mein Gott, du bist es wirklich. Wie geht es dir? Was hast du in den letzten Jahren gemacht?» Sie lacht, und es klingt ein wenig hysterisch. «Ich kann es immer noch nicht glauben – ich habe gehofft, dass ich irgendwann wieder von euch hören würde, aber dass es so spät passiert … und dass es überhaupt noch passiert … ich freue mich!»
«Mir geht’s gut.» Eine etwas karge Antwort, aber etwas Besseres fällt mir nicht ein. «Ich freue mich auch.» Denke ich.
«Du möchtest also nach Edmonton kommen? Hier studieren? An der Rutherford-Universität, hat dein Dad mir geschrieben.»
«Das würde ich gern, ja.»
«Na, dann … komm! Wann auch immer du willst. Du bist hier jederzeit willkommen. Lucy wird begeistert sein.»
Lucy. Meine Cousine heißt Lucy. Erinnerungsschimmer flackern plötzlich durch mein Hirn. Ein kleines Mädchen, das bewundernd zu mir aufsieht, weil ich so gut seilspringen kann. Fast vergesse ich zu antworten, so begierig bin ich darauf, dieses Bild festzuhalten.
«Vielen Dank, ich … wäre es denn in Ordnung, wenn ich schon nächste Woche käme?»
Am anderen Ende höre ich Tante Caroline scharf einatmen. Dad starrt konzentriert auf seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch gefaltet hat.
«Also … nur, wenn dir das recht ist. Ich könnte natürlich auch später …»
«Nein! Nein, das ist eigentlich kein Problem. Dein Vater hat angedeutet, dass du … aber ehrlich gesagt konnte ich nicht wirklich glauben …» Sie lacht wieder, und an dem aufgekratzten Unterton hat sich nichts geändert. Erneut blicke ich zu Dad, der es jedoch vorzieht, weiterhin seine Hände zu betrachten.
«Wann genau willst du denn kommen?»
«Ich weiß nicht … vielleicht zum Ende der nächsten Woche hin?»
«Nicht lieber gleich am Montag?» Als Tante Caroline jetzt ein drittes Mal auflacht, habe ich mich beinahe an den schrillen Ton dabei gewöhnt. «Das war nur Spaß», sagt sie. «Wir freuen uns wirklich sehr, dich wiederzusehen. Und wenn es schon nächste Woche so weit ist, umso besser. Kann ich dir bei irgendetwas helfen? Bringt dich dein Vater? Brauchst du etwas hier vor Ort, das ich für dich besorgen könnte?»
«Im Moment fällt mir nichts ein, aber danke. Ich werde selbst nach Edmonton fahren. Es wäre allerdings toll, wenn du … es ist ja so, dass die Einschreibefrist für das Wintersemester schon vorbei ist …»
«Aber du willst natürlich direkt loslegen, verstehe. Ich werde sehen, was sich machen lässt», sagt Caroline. «Versprechen kann ich dir natürlich nichts.»
«Vielen Dank.»
«Das mache ich gern. Sehr gern.» Ihre Stimme wird weicher. «Ich habe all die Jahre immer wieder an dich gedacht und mich gefragt, was wohl aus dir geworden ist.»
«Ich habe viele Fragen», erwidere ich leise.
Einige Sekunden verstreichen, bevor Tante Caroline antwortet: «Das glaube ich dir, Liebes. Das glaube ich dir.»
Kurz darauf lege ich das Telefon behutsam auf den Tisch. Mit beiden Unterarmen stütze ich mich auf der Platte ab, verschränke die Finger ineinander und warte. Innerlich zähle ich die Sekunden mit und bin bei einhundertachtundfünfzig, bevor Dad endlich den Kopf hebt und mich ansieht. «Nächste Woche also.» Er räuspert sich. «Du hast es eilig.»
«Geht es dir zu schnell?»
«Um ehrlich zu sein: Ja. Ja, es geht mir viel zu schnell, aber ich werde dich nicht davon abhalten können, oder?»
«Ich weiß es nicht. Es wäre mir lieber, du würdest es nicht versuchen.»
Dad nickt langsam. «Ich habe … es tut mir leid.»
Dir muss nichts leidtun. Ich möchte es sagen, doch ich kann nicht.
Er atmet aus, entfaltet seine Hände und erhebt sich mit einer ungewohnten Schwerfälligkeit. Zum ersten Mal wirkt er auf mich wie ein alter Mann, sehr viel älter, als er mit seinen fast fünfzig Jahren tatsächlich ist. Mit seiner großen Hand streicht er mir das Haar aus der Stirn. Das hat er schon lange nicht mehr gemacht. Als er mit schleppenden Schritten die Treppe hinaufsteigt, ohne, wie sonst üblich, noch eine Weile in seinem Sessel zu sitzen, beiße ich mir so fest in die Innenseite der Wangen, das es schmerzt.
«Dad?»
Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um, den Rücken gebeugt, um mich ansehen zu können.
Verzweifelt suche ich nach Worten und finde nichts als Vorwürfe. Ich schüttele den Kopf. «Schon gut.»
Mein Vater schlägt die Augen nieder, bevor er sich abwendet und die letzten Stufen nach oben steigt. Über mir knarren die Holzbohlen, und im nächsten Moment fällt eine Tür ins Schloss.
Ein paar Sekunden lang sitze ich noch da, dann stehe ich auf, nehme meine Jacke vom Haken und husche so leise hinaus, als müsse ich das heimlich tun. Im Laufschritt eile ich über die Lichtung und weiter bis hin zu der mächtigen Tanne in der Nähe von Gisberts Dachsbau. Noch während ich mich am Stamm herunterrutschen lasse, tippe ich Jacksons Nummer an.
«Haven? Hey … ist alles in Ordnung?»
«Meine Tante ist einverstanden. Ich kann bei ihr wohnen, und ich … ich werde nächste Woche schon fahren.»
«Schon nächste Woche? Wow.»
Ich warte darauf, dass Jackson weiterspricht, irgendetwas sagt, das die Panik abmildert, die mich plötzlich ergriffen hat. Warum auch immer ich glaube, dass ausgerechnet Jackson das kann.
«Das geht jetzt schnell – was sagt dein Vater dazu?»
«Nicht viel.» Nur zwei Worte, aber ich habe sie zu hastig ausgesprochen und muss mich räuspern. «Es trifft ihn.»
«Ja, das glaube ich. Natürlich tut es das.» Stille. «Und du? Wie fühlst du dich?»
«Keine Ahnung.» Meine Stimme hört sich dünn an, so dünn und zittrig, wie ich mich gerade fühle. Mit der Hand wische ich die Tannennadeln von ihrem Moosbett und grabe die Fingernägel in das weiche Grün. «Ich finde auch, dass alles ziemlich schnell geht, aber … ich …»
«Es ist schwer, Haven», sagt Jackson leise. «Wie auch immer du es machst, es wird so oder so weh tun. Das heißt aber nicht, dass es nicht ric
htig ist.»
«Ja, vermutlich», erwidere ich und atme mit einem Seufzen aus.
«Abschiede tun immer weh.» Jackson zögert erneut, bevor er weiterspricht. «Was hat deine Tante denn gesagt?»
«Sie war ziemlich überrascht. Und sie meinte, sie freut sich darauf, mich wiederzusehen.»
«Darauf freue ich mich auch.»
«Aber … wir sehen uns doch morgen noch mal, bevor du fährst, oder?» Will Jackson morgen einfach fahren, ohne dass wir uns noch einmal treffen?
«Klar», erwidert Jackson. «Und danach freue ich mich darauf, dir Edmonton zu zeigen. Obwohl es unmöglich sein dürfte, Gracie zu übertreffen», fügt er hinzu.
Gracie haben wir heute noch entdeckt, als ich schon nicht mehr damit gerechnet habe, ihr über den Weg zu laufen, und Jackson war tief beeindruckt. Jeder wäre von einer Elchdame wie Gracie beeindruckt. Mit erhobenem Schädel misst sie gut und gern zweieinhalb Meter, und als sie den Kopf zu uns umwandte und neugierig einige Schritte auf uns zustapfte, schob Jackson sich vor mich, als müsse er mich beschützen. Mein Vater, Tante Caroline, die Rutherford-Universität … alles verblasst plötzlich, und ich sehe nur noch Jackson vor mir. Sitzt er gerade am Fluss? Läuft er vielleicht noch ein wenig am Ufer entlang, unter den hohen Bäumen, von denen einige so mächtig sind, dass sie den breiten Wasserlauf überspannen würden, könnten sie sich zur Seite neigen? Oder ist er schon im Zelt, liegt im Schlafsack, einen Arm unter den Kopf gelegt und das Telefon am Ohr?
«Haven?»
Ich mag seine Stimme. Sie hat einen Klang, der zu seinen dunkelbraunen Augen passt, warm und mit einem melodischen Unterton.
«Haven, bist du noch da?»
«Ja.» Ich presse den Rücken fester gegen den Stamm und stelle mir vor, etwas von seiner Stärke würde auf mich überfließen. «Ich bin noch da.»
«Woran denkst du gerade?»
Woran ich gerade denke? Das hat mich noch nie jemand gefragt. Es ist, als wolle Jackson einen Blick auf noch nicht formulierte Sätze werfen, dabei hat es vielleicht seinen Grund, warum diese Sätze noch nicht ausgesprochen sind.