Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)
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»Was?«, fragt sie, und auf einmal klingt sie panisch. »Nein!« Sie beschleunigt ihre Schritte, dreht sich um, geht rückwärts und schüttelt den Kopf. Dann noch mal: »Nein.«
Ich lache leise. »O doch«, sage ich. »Und ich wünschte, es hätte ein bisschen länger gedauert.«
»Du hast …« Sie rauft mit den Händen die langen Braids. »Ich fasse es nicht, dass du mir das antust.«
»Dass ich dir – wie bitte?«
»Dass du Blythe treu warst und dann mit mir …«
»Aber das ist es doch gar nicht«, rufe ich aus. »Es geht nicht darum, ob ich Blythe treu war. Es geht darum, dass ich bereit war. Längst bereit war. Und dich wollte. Dich! « Der Kontrabass auf meinem Rücken wird immer schwerer, und ich habe Mühe, mit Bonnie Schritt zu halten. Wie kann es sein, dass diese kleine Frau ein so großes Instrument auf dem Rücken tragen kann? Und im nächsten Augenblick frage ich mich, wie es sein kann, dass ein so toller Mensch so viel Ballast mit sich herumschleppt. Vermutlich ist das physische Gewicht des Kontrabasses ein Klacks dagegen.
»Du bist dran«, sage ich. »Was wolltest du vorhin sagen?« Doch sie wendet sich wieder um, eilt mit schnellen Schritten voraus. »Bonnie!«
Meine barsche Stimme scheint sie zu erschrecken, denn sie hält tatsächlich einen Moment inne.
»Warum ist in meinem Fall eine Absolution gerechtfertigt und in deinem Fall nicht?« Ich bin außer Atem, als ich sie endlich wieder eingeholt habe.
»Weil …« Aus ihrem Blick spricht nicht mehr nur Panik, sie sieht nun regelrecht verzweifelt aus. »Weil …«
»Geheimnis gegen Geheimnis. Für die viereinhalb Jahre sexuelle Abstinenz schuldest du mir noch etwas. Etwas Großes«, füge ich grinsend hinzu, weil die Situation so aufgeladen ist, dass man nur mit Humor darauf reagieren kann.
»Weilbeidirkeinegefühleimspielwaren«, nuschelt sie.
»Weil bei mir keine was?«
»Gefühle im Spiel waren.«
»Oh«, entfährt es mir.
»Ja, oh. Hast du nun, was du wolltest?« Es klingt wie ein Zischen.
Wir gehen wieder in einem moderateren Tempo. Bonnie hat den Blick konzentriert auf den Boden gesenkt. Mehrfach versuche ich, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, doch sie ignoriert jede meiner Bewegungen.
Ein letztes Geheimnis habe ich noch. Und ich bete, dass es uns auf eine Ebene bringen wird. »Ich … ähm …«, sage ich, »ich habe jetzt Gefühle für dich. Ich bin verliebt in dich.« Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, und es scheint, durch meine Atemwege gelangt vor lauter Aufregung nicht genug Luft in meine Lunge.
Nicht einmal in diesem Moment hebt Bonnie den Blick. Stattdessen fängt sie an zu lachen. Bitter zu lachen. »Du hast jetzt Gefühle für mich?«, fragt sie. »Das ist gar nichts, Jasper, glaub mir.«
»Gar nichts?« Nun ist es an mir, perplex innezuhalten.
»Nichts im Vergleich zu dreizehn verdammten Jahren.« Für einen Augenblick ist es, als wäre die Welt erstarrt. Die Zeit bleibt stehen. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.
Dann beginnt sie zu rennen.
39 – Bonnie
Heute
Ich sitze in der Dunkelheit meines Zimmers auf dem Bett. Obwohl ich mich schon mehrfach ermahnt habe, mich endlich zusammenzureißen, zittere ich noch immer am ganzen Körper. Jaspers Worte hallen durch meinen Kopf. Für die viereinhalb Jahre sexuelle Abstinenz schuldest du mir etwas Großes. Und das hat er wohl bekommen. So was von. Ich habe jetzt Gefühle für dich. Ich fahre mir mit den Fingern über das Gesicht. Warum konnte ich nur meine Klappe nicht halten? Warum habe ich nicht gefiltert? Gelogen? Warum mich nicht hinter meiner Fassade versteckt?
Ich hätte sagen können, dass ich auf Curtis stehe. Einen Sextraum von Amory hatte. Link nie verziehen habe, dass er mir die Gitarre weggeschnappt hat, als wir als Kinder zur Schnupperstunde in der Musikschule waren. Ich hätte so viel sagen können. Aber nein, es musste ja die Wahrheit sein. Ungefiltert rausgekotzt. Einfach so. Jasper vor die Füße. Was für eine Idiotin ich doch bin. Fast muss ich über mich selbst lachen. Mich selbst auslachen. Da schiebe ich wochenlang die Band vor, um nicht mit Jasper sprechen zu müssen, und dann ruiniere ich alles, was wir haben, auf nur einem Heimweg. Bravo, Bonnie. In meinem Kopf applaudiere ich mir langsam selbst. Denn mein Kopf weiß, was mein Herz angerichtet hat. Mein Kopf ist sauer. Und mein Herz schämt sich wenigstens ein bisschen. Es geschieht ihm recht.
Nichts im Vergleich zu dreizehn verdammten Jahren. Geht es noch erbärmlicher? Noch weinerlicher? Kann man sich noch weiter erniedrigen? Ich glaube nicht. Halt, mein Kopf weiß, dass es nicht geht. Mein Herz behauptet, dass man noch dümmere Sachen anstellen kann. Aber auf das Herz gebe ich nichts mehr.
Ich bin verliebt in dich. Wie kann einen ein Satz so glücklich machen und dazu bringen, Dinge zu sagen, die man nie, nie, nie, nie, nie, nie, nie sagen wollte, und gleichzeitig so zerstören?
»O nein«, stöhne ich auf einmal leise in mein Zimmer, als mir auffällt, dass mein Kontrabass nun bei Jasper ist. Kurz überlege ich, ob es eine Option wäre, sich einen neuen zu kaufen. Aber ich habe keine paar Tausend Dollar übrig. Also muss ich mir wohl einen neuen Job suchen. Dann bin ich eben nicht mehr Musikerin. Das scheint mir im Moment die angenehmere Option zu sein.
Verdammter Jasper mit seinem blöden Spiel. Verdammter Hugo. Verdammtes alles.
Ich bin rastlos, fahre mir mit den Handflächen über die Oberschenkel. Hin und her und hin und her. Erinnere mich ans Atmen. In meiner Hosentasche knistert es, und ich ziehe ein verknicktes Etwas heraus. Verdammte Bonnie, die vergessen hat zu waschen, denke ich jetzt. Denn ich trage offenbar die Hose, die ich anhatte, als ich am Fluss hektisch Blythes Brief eingesteckt habe. Ich streiche mit meiner Hand darüber, versuche ihn ein wenig zu glätten.
Mein Name in Blythes hübscher Schrift. Kleine Buchstaben, ganz ordentlich. Es ist so dunkel, dass ich sie kaum erkennen kann, aber ich weiß genau, wie sie aussehen.
Willst du nicht wissen, was sie dir zu sagen hat?, hat Link gefragt. Ich schließe die Augen. Heute ist schon so viel schiefgegangen, dass eigentlich alles egal ist. Das emotionale Chaos in meinem Innern kann kaum noch größer werden. Und ohne, dass ich wirklich den Befehl dazu gegeben hätte, beginnen meine Finger, den Brief vorsichtig zu öffnen. Sie beben, und ich habe Mühe, meine Bewegungen zu koordinieren.
»Reiß dich zusammen«, sage ich in die Stille meines Zimmers hinein und beuge mich vor, um meine Nachttischlampe anzuschalten.
Mit zitternden Händen ziehe ich die gefalteten Blätter aus dem Umschlag. Meine Kehle ist eng. Auf einmal überkommt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich bis zu diesem Augenblick gewartet habe, Blythes letzte Worte an mich zu lesen. Aber in dieser Sache waren sich Herz und Kopf ausnahmsweise mal einig. Ich konnte es nicht.
Als ich die filigrane Schrift auf der ersten Seite sehe, überkommt mich sofort eine ungeheure Sehnsucht, gepaart mit der Art von Traurigkeit, die körperliche Schmerzen verursacht. Ich kenne diese Art sehr gut. Ein bisschen zu gut, vielleicht. Sie fehlt mir. So sehr. Bis zum heutigen Tag.
»Hi«, flüstere ich und schließe für ein paar Sekunden die Augen, da ich noch nicht wage, die ersten Zeilen zu lesen.
Aber vielleicht wäre es langsam an der Zeit, meinst du nicht?, höre ich Links Stimme in meinen Gedanken. Und mit brennenden Tränen hinter meinen Augen und einem Kloß von der Größe einer Faust in meinem Hals beginne ich zu lesen.
Meine liebste Bonnie,
ein wenig furchtbar ist es schon, hier zu liegen und diesen Brief zu schreiben. Die Besuchszeit ist vorbei, ich bin allein. Das eklige Essen steht noch auf dem Tisch neben mir. Ich habe Jasper versprochen, ein bisschen was davon runterzuwürgen. Aber das kann er vergessen. Sag ihm nichts.
Ich unterbreche den Brief, schniefe einmal, denn die Tränen kann ich kaum noch zurückhalten. Alles in diesen ersten Sätzen klingt so sehr nach ihr. Und es ist typisch, dass sie selbst in ihrem letzten Brief an mich noch ein Geheimnis mit mir teilen musste. Ich versuche mich an einem Lächeln, und eine Träne löst sich und rinnt mir die Wange hinab.
Puuuuh. Also, los geht’s.
/> Ich danke dir so sehr, liebe Bonnie. Für all die Jahre, in denen du meine beste Freundin warst. Für all die Nächte, die wir durchtelefoniert haben, für die heimlichen Zigaretten auf dem Pausenhof, von denen nie jemand erfahren wird, für die Umarmungen, die geteilten Geheimnisse. Für Rat und Tat, für Freundschaft und Liebe. Du, geliebte beste Freundin, warst immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Und nun kann ich mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit sagen, das bleibt auch so. Entschuldige den Galgenhumor, der macht, dass ich ein bisschen weinen muss.
Ich auch, Blythe. Ich weine auch. Ein paar Jahre zu spät vielleicht, doch ich weine. Um dich, um unsere Freundschaft. Aus Dankbarkeit und Liebe. So wie du.
Ich fühle mich ihr so verbunden wie seit Jahren nicht mehr. Und mein Herz quillt über vor Empfindungen.
Ich liebe dich, Bonnie. Und es tut mir unendlich weh, dich zu verlassen. Verrate es nicht Jasper, aber ich mochte dich immer noch ein bisschen lieber. Vor allem atmest du leiser, wenn du schläfst. Du ahnst nicht, wie viel das wert ist.
Mir entfährt ein leises, verzweifeltes Kichern. Es ist beinahe, als wäre sie hier. Mit mir in meinem Zimmer. Als würde ich nicht einen jahrealten Brief lesen, sondern mit ihr sprechen. Es tut weh, so weh. Doch gleichzeitig … ist es wunderschön.
Diesen Brief zu schreiben ist das Schwerste, was ich je getan habe. Eine Geburt ist dagegen ein Klacks. Vermutlich auch das Sterben. Wir werden es sehen. Vermutlich erwartest du hochtrabendes pathetisches Zeug. Und vielleicht kommen wir dazu noch. Aber eigentlich will ich nur versuchen, auszudrücken, wie viel du mir bedeutest. Und dir versprechen, dass ich für immer für dich da sein werde, falls sich die Gerüchte als wahr erweisen und man tatsächlich aus dem Himmel auf die Erde blicken kann. Ich hoffe sehr, der Smog macht mir keinen Strich durch die Rechnung.
Du und ich, meine liebste Bonnie, wir waren immer wie Schwestern. Wie die besten und engsten Schwestern, die man sich vorstellen kann. Ich weiß, das ist ein bisschen gemein, weil du sogar eine Zwillingsschwester hast, aber ich schätze, Verwandtschaft ist eben nicht alles. Dich zu sehen, hat jeden meiner Tage auf dieser komischen Welt schöner gemacht. Die Tatsache, dass ich mit dir über alles reden konnte – zu jeder Tages- und Nachtzeit –, war eines der schönsten Geschenke, die mir das Leben gemacht hat. Zu wissen, dass du da warst, dass ich immer auf dich zählen konnte, hat mir die größte Sicherheit gegeben. Wer dich an seiner Seite hat, Bonnie, der muss vor nichts Angst haben.
Da ist nur eine Sache, die ich bereue (neben dem Versäumnis, unsere Radio-Kassette digitalisiert zu haben …). Zutiefst bereue. Und ich weiß, dass du gleich erschrecken wirst. Aber das musst du nicht. (Stell dir mein lächelndes Gesicht vor, vielleicht findest du es dann weniger gruselig.) Denn ich weiß etwas, Bonnie. Etwas, das du nicht gewagt hast, mir zu erzählen. Und ich verstehe, warum. Ich werfe dir nicht vor, dass du geschwiegen hast. Ich nehme es als ein weiteres Geschenk von dir.
Du liebst Jasper. Flipp jetzt nicht aus. Es ist alles in Ordnung. Du hast es gut versteckt. So gut, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann ich angefangen habe, es zu erahnen. Es hat sicher ein paar Jahre gedauert. Doch Fakt ist: Ich weiß es. Und Fakt ist auch: Es stört mich nicht. Das hat es nie. Es hat mich manchmal deinetwegen traurig gemacht. Denn ich wünsche dir so sehr all das Glück, das ich hatte – und noch mehr davon! Diesen Scheißkrebs zum Beispiel nehme ich gern für mich allein.
Mein innigster Wunsch, liebste Bonnie, ist es, dass ihr glücklich werdet. Ihr alle. Meine Eltern (die es vermutlich nicht mehr können), mein kleiner Bruder (dem du vielleicht mal in den Hintern treten musst), meine beiden Kinder (gib ihnen ab und zu einen Kuss von mir), mein wunderbarer Mann. Und du, meine beste Freundin.
Ich verlange nichts von dir. Ich verlange von niemandem irgendetwas. Ich vertraue darauf, dass jeder nach seinen Möglichkeiten das Beste aus seinem Leben macht. Und ich weiß natürlich nicht, wie hartnäckig deine Gefühle für Jasper sind. Aber da ich sie nun schon seit Jahren beobachte, habe ich die Hoffnung, dass sie von Dauer sind.
Ich will, dass du glücklich bist. Ich weiß, das habe ich schon gesagt. Doch es ist wichtig, also sage ich es noch mal. Ich will, dass du glücklich bist. Und noch mal. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn es die Möglichkeit gibt, dass du mit Jasper glücklich sein kannst, dann ergreif sie. Mach ihn so mutig, wie du mich mutig gemacht hast. Mach euch beide glücklich. Mach mich glücklich. Nicht sofort. Überstürze nichts. Lass es dir durch den Kopf gehen. Aber vielleicht, ganz vielleicht, seid ihr eines Tages bereit. Ich kann mir niemand Passenderen, niemand Besseren an seiner und an deiner Seite wünschen.
Solltest du das nicht wollen, ist es auch in Ordnung. Ich setze dich nicht unter Druck. Denn Jasper kommt ja nicht allein. Es hängen zwei kleine Kinder an ihm dran, die man nicht mehr loswird. Das ist eine Menge Verantwortung, und ich werde sie dir nicht aufhalsen. Aber falls … falls du tief in dir drin nicht vor dieser Verantwortung zurückschreckst, sei ihre beste Freundin, so, wie du meine warst.
Gott im Himmel, jetzt muss ich schon wieder weinen. Und du sicher auch. Also weinen wir zusammen. Wäre ja nicht das erste Mal. Dein Unglück ist mein Unglück, Bonnie. Und dein Glück ist mein Glück. Bis in alle Ewigkeit. Ich will, dass du das weißt.
Und wenn du eines Tages so glücklich bist, wie ich es war, dann zünde die alberne Rakete. Denn die schafft es sicher durch den Smog hindurch. Und dann kann ich mich endlich zufrieden zurücklehnen und Nektar und Ambrosia schlürfen, ohne mir Sorgen zu machen.
In ewiger Liebe (ich kann das nun wirklich sagen!),
dein größter Fan, deine beste Freundin Blythe
Eine Träne nach der anderen tropft auf den Brief. Meine Schultern beben, mein Schluchzen durchdringt die Stille meines Zimmers. Ein einziger Gedanke rast durch meinen Kopf. Nur dieser eine. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst.
Beim Lesen des Briefs bin ich, ohne es zu merken, auf den Fußboden geglitten. Jetzt knie ich hier mit zerrissenem Herzen, weinend auf dem Teppich, und sage mir nur diesen einen Satz immer wieder lautlos vor. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst.
Ein Weinkrampf folgt auf den anderen. Ich gebe mir Mühe, leise zu sein, um meine Mom nicht zu wecken, doch in diesem Moment hier allein in meinem Zimmer bin ich mir nicht sicher, wie gut es gelingt. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst.
Ich kann es nicht glauben. Es ist unfassbar. Es ist schrecklich und schön gleichermaßen. Sie hat es gewusst und – es war für sie okay.
Dein Unglück ist mein Unglück, Bonnie. Und dein Glück ist mein Glück, lese ich erneut und muss mir die Hand vor den Mund schlagen, um das gurgelnde Stöhnen zu dämpfen, das mir unwillkürlich entfährt.
Sie hat es gewusst, und es war für sie okay. Sie hat es mir nicht übel genommen. Sie musste mir nicht einmal verzeihen. Sie will, dass wir zusammen sind. Sie will, dass wir zusammen sind. Meine Gedanken überschlagen sich, und ich muss mir alle Mühe geben, sie in geordnete Bahnen zu lenken.
Ich bin längst nicht imstande, auch nur zu erahnen, was all dies bedeutet, aber ich spüre, wie der Gefühlsknoten, der schwer wie ein Stein seit Jahren in meinem Magen liegt, größer wird. Größer, aber gleichzeitig lockerer. Wie er sich hebt, beginnt zu schweben.
Schwankend stemme ich mich auf die Beine. Ich weiß nicht, wohin mit mir, suche Halt irgendwo, doch meine Hände greifen ins Leere. Ich taumle, stolpere, blind vor Tränen, taub vor Herzrasen. Mache einen Schritt nach vorne und kriege mein Regal zu fassen. Ich kann mich gerade so daran festhalten, bevor ich umkippe, weil mir schwarz vor Augen wird. Mit der Schulter stoße ich dagegen, es schmerzt, aber auf eine gute Art. Ich höre das leise Klirren der Einweckgläser. Anscheinend war der Stoß heftiger, als ich dachte. Und dann ein lautes Klirren. Ein Zerbersten.
Ich keuche auf, als ich erkenne, was geschehen ist. Die Erschütterung hat das Glas, das ganz oben ganz hinten am Rand stand, zu Fall gebracht. Es ist auf dem Boden aufgeschlagen und in tausend Scherben zerbrochen. Panisch beiße ich mir auf die Hand, um nicht zu schreien. Es ist die Erinnerung an Jaspers und meinen
Kuss. Diese Erinnerung, die ich eingesperrt habe. Die ich als Mahnmal aufbewahrt habe. Sie ist frei und geistert nun hier herum.
»Was ist passiert?«, fragt auf einmal Lula, die, ohne anzuklopfen, die Tür aufgerissen hat. »Bonnie?«
Sie betritt den Raum. Aus einer halb knienden, halb kauernden Position heraus versuche ich, die Scherben einzusammeln. Ich habe nicht gemerkt, dass ich mich geschnitten habe, aber nun, da ich Lulas aufgebrachten Blick sehe, fällt mir auf, dass Blut über meine Hand rinnt.
»Okay«, sagt Lula ganz nüchtern und ist in zwei Schritten bei mir. Von irgendwoher holt sie ein Taschentuch, nimmt meine Hand und presst es auf den Schnitt. Ich lasse sie gewähren. Vollkommen kraftlos lehne ich meinen Kopf an ihre Brust.
»Schhhhh«, macht sie und wiegt mich sanft hin und her. »Ist alles gut.«
Ich weiß nicht, ob wir uns jemals so nah waren. Es fühlt sich gut an. Heilsam.
»Alles wird gut«, wiederholt sie. »Ich hab dich.« Der Druck, den sie auf meine Hand ausübt, erdet mich. Und nach ein paar Minuten ebbt mein Schluchzen langsam ab.
»Was ist passiert?«, fragt Lula vorsichtig, doch ich bin noch nicht imstande, zu sprechen. Und sie zieht mich einfach in eine noch engere Umarmung, flüstert mir tröstliche Dinge ins Ohr.
»Ich glaub …«, sage ich nach einer Weile, und meine Zunge fühlt sich ganz schwer an vom vielen Weinen, »ich glaub, ich geh ins Bett.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Die Scherben machen wir morgen weg.«
Ich nicke langsam und lasse mir von meiner Schwester auf die Beine helfen. Sie streicht mir einmal über die Wange.
»Wenn du reden willst, bin ich da, okay?«, sagt sie. »Und auch sonst. Also, ich meine, wenn du nicht reden willst.«
Wieder nicke ich.
»Warte, ich hol dir noch ein Pflaster. Nicht, dass der Schnitt heute Nacht wieder aufgeht.«
Kurz darauf kommt sie mit einem Pflaster zurück. Sie pustet einmal auf den inzwischen getrockneten Schnitt, wie unsere Mom es früher immer gemacht hat. Dann klebt sie das Pflaster darauf.