Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)

Home > Other > Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition) > Page 27
Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition) Page 27

by Engel, Kathinka


  »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«, fragt sie.

  Wir haben uns sicher als Kinder ab und zu ein Bett geteilt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wann es das letzte Mal dazu gekommen ist.

  »Das wäre schön«, sage ich leise.

  Wenig später hat Lula sich abgeschminkt und sich ein weites T-Shirt angezogen. Sie klettert über mich, legt sich auf die Seite, die der Wand am nächsten ist. Auf Blythes Seite. Die Schwestern-Seite. Sie greift über mich und schaltet die Lampe aus. Dann schlingt sie ihren Arm um mich. Ich genieße ihre Wärme. Die Bedingungslosigkeit ihrer Anwesenheit. Meine Gedanken fahren nach wie vor Karussell in meinem Kopf, doch die Fahrt verlangsamt sich immer weiter, bis ich irgendwann wegdämmere.

  40 – Jasper

  Heute

  »Kinder, habt ihr Lust, Bonnie zu besuchen?«, frage ich am Sonntagmorgen. Denn das, was Bonnie mir gestern offenbart hat, kann nicht unbeantwortet bleiben. Hugo hatte recht. Natürlich hatte er recht, dieser ulkige Kauz. Ein emotionales Ungleichgewicht lag der ganzen Situation zugrunde.

  »Jaaaaaa!«, hallt eine Kinderstimme aus dem Wohnzimmer. Es ist Mayas. Und so viel Begeisterung hat sie, soweit ich mich erinnere, noch nie artikuliert.

  Es wäre mir lieber, die Kinder nicht mitzunehmen. Ich würde gern erst mit Bonnie unter vier Augen sprechen, und dann mit Weston und Maya. Behutsam vorfühlen. Doch Link ist nicht hier, und ich habe keine Zeit zu verlieren.

  Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Immer wieder hörte ich Bonnies halb verzweifeltes Nichts im Vergleich zu dreizehn verdammten Jahren. Ich habe diesen Satz so lange in meinem Kopf hin und her gewälzt, dass ich mir fast sicher bin. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder, sie meinte damit, dreizehn verdammte Jahre, in denen ich keine Gefühle für sie hatte – es würde jedoch wenig Sinn ergeben, deswegen abzuhauen. Oder aber, und das muss es sein, sie hat seit dreizehn verdammten Jahren Gefühle für mich. Und das haut mich um. Nicht nur, weil ich keine Ahnung hatte. Sondern auch, weil mir das die Chance gibt, sie glücklich zu machen. Ihr die Liebe zu geben, die sie verdient hat. Sie noch stärker zu einem Teil meines Lebens werden zu lassen – und ein Teil des ihren zu werden.

  Maya trägt ihr lilafarbenes Mardi-Gras-Kleid mit gelb-grünem Tüllrock, das Charlie ihr genäht hat. Jetzt schleppt sie ihre schicken Lackschuhe an und hält sie mir fragend hin.

  »Willst du die anziehen? So schick machst du dich?«, frage ich.

  Maya nickt.

  »Machst du das für Bonnie?«, frage ich.

  »Ja«, sagt sie leise.

  Für den kurzen Fußweg von uns zu Bonnies Haus nehme ich mir vor, bei Weston vorzufühlen. Doch er ist schneller.

  »Was machen wir bei Bonnie?«, fragt er.

  »Wir überraschen sie mit unserem Besuch. Und wir hoffen, dass sie einen Kaffee für uns hat«, sage ich vage.

  »Und warum überraschen wir sie?«, fragt er weiter.

  »Ähm …« Ich beschließe, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ich habe etwas mit ihr zu bereden. Etwas Wichtiges.«

  »Mit Bonnie kann man gut reden, oder?« Er streicht sich seine blonden, etwas zu langen Haare aus dem Gesicht und sieht mich interessiert – und beinahe etwas herausfordernd – an.

  »Ich finde schon. Was meinst du?«

  »Ich finde auch«, sagt er. »Für ein Mädchen ist sie ziemlich cool.«

  »Für ein Mädchen?«, frage ich lachend. »Warum sollen denn Mädchen nicht cool sein?«

  »Weiß nicht. Die sind manchmal komisch. Reden über Sachen, die voll lahm sind.«

  »So? Vielleicht finden sie ja die Sachen, über die du redest, auch lahm«, schlage ich vor.

  »Hm«, macht Weston und denkt einen Moment nach. »Aber bei Bonnie ist das anders.«

  »Worüber redet Bonnie denn mit dir?«, frage ich.

  »Musik, Comics …«

  »Bonnie kennt sich mit Comics aus?«, frage ich und erinnere mich plötzlich an Bonnie als junges Mädchen. Sie hatte tatsächlich immer Comics dabei.

  »Ja!« Weston klingt beinahe aufgeregt. »Sie hat früher auch die Runaways gelesen! Sie hat gesagt, sie leiht mir Volume 1!«

  »Okay, das ist echt cool«, gebe ich zu und lächle in mich hinein.

  »Ihre Lieblingsfigur ist Nico Minoru«, sagt er und grinst.

  Maya pikst mich ins Bein.

  »Was ist los?«, frage ich und folge dann mit dem Blick ihrem kleinen Finger. »Oh, wow«, entfährt es mir. »Sieht aus, als hätten die Baileys schon Besuch.«

  Der Vorgarten und die Veranda platzen beinahe aus allen Nähten. Und da fällt es mir ein. Natürlich! Der letzte Sonntag im Monat. Annabella veranstaltet heute ihren Gemeindebrunch.

  »Das bedeutet, dass es auf jeden Fall Kaffee gibt«, sage ich, weiß aber, dass es nun umso schwieriger wird, eine ruhige Minute mit Bonnie zu erwischen.

  »Na, wer kommt denn da?«, fragt Mrs Withers, eine mittelalte Dame aus der Nachbarschaft, die Maya oft heimlich Süßigkeiten zusteckt, wenn wir sie zufällig auf der Straße treffen.

  »Guten Morgen, Mrs Withers«, sage ich. Einen kurzen Moment bleiben wir am Gartentor stehen, das zwar offen ist, jedoch gehören wir nicht zur Gemeinde, und ich bin mir nicht sicher, ob es in Ordnung ist, uns einfach selbst einzuladen.

  »Na, das ist ja eine Überraschung«, ruft Emmy, Bonnies Tante, die ebenfalls nicht weit weg wohnt. »Euch habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen!« Sie kommt auf uns zu, und will Weston die Haare aus dem Gesicht streichen, doch er duckt sich weg. Recht so, denke ich. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute meine Kinder ungefragt antatschen. »Und euren Daddy habt ihr auch mitgebracht.« Sie drückt mich fest an sich und hinterlässt ihren süßen Parfümgeruch auf meinem Hemd, meiner Wange und – wie es scheint – in meiner Nase. »Gut siehst du aus«, sagt sie dann und lächelt gütig. »Habt ihr schon gefrühstückt? Annabella hat sich heute mal wieder selbst übertroffen. Es gibt genug für eine ganze Kompanie!«

  »Ähm«, sage ich ein bisschen überrumpelt, »wir sind offiziell gar nicht eingeladen. Wollten nur Bonnie …«

  »Ach was!« Emmy lacht. »Jeder ist willkommen.«

  Sie nimmt Maya an der Hand, hakt sich bei mir unter und führt uns durch die Menschen die Verandastufen hinauf und ins Wohnzimmer. Ich blicke mich nach Bonnie um, kann sie jedoch nirgends finden. Lula und Annabella sehe ich ebenso wenig.

  Drinnen ist ein großes Büfett aufgebaut. Es duftet nach Rührei, Speck und Pancakes. Doch das ist bei Weitem nicht alles. Der Tisch biegt sich unter Obstsalaten, Kuchen, French Toast und allem möglichen anderen.

  »Magst du ein Stück Kuchen, kleine Maya?«, fragt Emmy, und Maya nickt. »Und du, Weston?«

  »French Toast«, sagt er und schiebt dann noch schnell ein »Bitte« hinterher.

  Wie es bei uns zu Hause Sitte ist, kippt er sich literweise Ahornsirup darauf. Emmy lacht.

  »Da ist aber jemand ein großer Fan von Süßem«, sagt sie.

  »Wir ertränken alle unser Frühstück in Sirup«, gebe ich zu. »In dieser Hinsicht bin ich kein gutes Vorbild.«

  »Kein gutes Vorbild? Was höre ich da?« Annabella kommt mit einer Schere in der Hand auf uns zu. »Du bist das beste Vorbild, das man sich nur wünschen kann«, sagt sie und drückt mich ebenfalls fest an sich.

  »Wir wollten uns nicht einfach so einladen«, erkläre ich. »Eigentlich möchten wir Bonnie besuchen. Ich hatte deinen Brunch gar nicht mehr auf dem Schirm …«

  »Unsinn«, sagt Annabella, und mir fällt auf, dass sie Weston mustert. »Ihr seid herzlich willkommen. Esst, trinkt, fühlt euch wie zu Hause. Bonnie ist …« Sie sieht sich um. »Irgendwo. Und du, mein Junge –« sie wendet sich Weston zu –, »kriegst einen neuen Haarschnitt. So sieht ja keiner, was du für ein gut aussehender Kerl bist.«

  Weston blickt sich Hilfe suchend um. Ihm ist die Aufmerksamkeit deutlich zu viel.

  »Na komm!«

  Zu meiner Überraschung folgt er jedoch Annabella auf einen Stuhl, der in der Mitte des Wohnzimmers steht, noch ehe ich versuchen kann, ihn zu retten. Voller Bewunderung sehe ich, dass er eigentlich sehr vergnügt wirkt. Und den Haarschnitt kann er wirklich gut gebrauche
n.

  In diesem Moment kommt Bonnie aus der Küche, in der Hand zwei große Kannen frisch gebrühten Kaffee. Sie sieht mich nicht, doch ich sehe sie. Wie ich sie noch nie gesehen habe. Bei verliebten Menschen ist immer die Rede davon, dass die Sonne aufgehen würde, wenn sie das Objekt ihrer Gefühle erblicken. Aber wenn Bonnie den Raum betritt, ist es, als erfrische der schönste Sommerregen die Welt. Es ist ein erleichterndes Gefühl. Alles Angestaute löst sich auf einmal, wird weggespült – und zurück bleibt ein Gefühl von innerem Frieden. Es ist die reifere, die erwachsene Form des Verliebtseins. Es ist komplett neu für mich und dabei so schön, so tief, dass ich ewig hier stehen könnte, um sie einfach nur anzusehen.

  Als sie mich bemerkt, formt sie mit ihren Lippen ein lautloses »Oh«. Sie bleibt stehen, senkt den Blick. Fast erwarte ich, dass sie wieder auf dem Absatz kehrtmacht, doch nichts dergleichen geschieht. Der ganze Raum ist voller Menschen. Lachender, sich unterhaltender Menschen. Überall ist Bewegung, überall ist Lärm. Und doch scheint es, als wäre da nur Bonnie. Sie hebt den Blick, und ich erkenne den Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen. Nach gestern Nacht ist das so ungefähr das Letzte, was ich erwartet habe, und ich merke, wie mein Herz hüpft. Und dann sehe ich es. Sehe die Halskette, die ich ihr geschenkt habe. Die sie nicht wollte. Bonnie hat sie umgelegt, trägt sie wie selbstverständlich. Was zur Hölle?

  »Bonnie!«, ruft Maya und reißt mich aus meiner Ungläubigkeit. Sie hat gerufen. Sie hat Bonnies Namen gerufen.

  Maya legt ihren Kuchen auf das Büfett zurück und läuft Bonnie entgegen. Ich schnappe mir den Kuchen. Niemand soll versehentlich Mayas angegessenes Stück erwischen.

  »Hey!«, sagt Bonnie, als Maya ihre Arme um Bonnies Beine schlingt. Und für einen Moment bin ich unsicher, was mir surrealer vorkommt: Bonnies Lächeln oder Maya so laut und selbstbewusst zu erleben. »Ich muss kurz den Kaffee auf den Tisch stellen. Hilfst du mir?« Maya nickt, und Bonnie gibt ihr eine der Thermoskannen. »Aber Vorsicht, die ist ganz schön schwer.«

  Die Anstrengung steht Maya deutlich ins Gesicht geschrieben, doch es gelingt ihr, die Kanne bis zu mir zu schleppen. Ich nehme sie ihr ab und stelle sie auf den Tisch.

  »Hi«, sage ich dann an Bonnie gewandt.

  »Hi«, erwidert sie und blickt von mir zu Maya.

  »Hi«, sagt nun auch Maya, und Bonnie geht in die Hocke, um meine Tochter zu umarmen.

  Ich weiß nicht, wie lange mein Herz diesen Anblick noch erträgt, ehe es aus meiner Brust springt.

  »Tut mir leid, dass wir einfach unangekündigt hier auftauchen«, sage ich sanft, denn ich will sie auf keinen Fall wieder verschrecken. »Aber …« Meine Eingeweide verknoten sich. »… ich musste dich sehen.« Meine Stimme ist leiser geworden, und nun ist es an mir, den Blick zu senken.

  »Ist in Ordnung«, sagt Bonnie, und ich meine, so etwas wie Freude herauszuhören.

  Ich hatte mich auf so einiges eingestellt. Dass sie erneut die Flucht ergreift. Dass sie uns wegschickt. Dass sie so tut, als wäre nichts gewesen. Dass sie nun hier vor mir steht, die Arme um meine Tochter geschlungen, und offenbar erfreut ist, uns zu sehen, haut mich vollkommen um. Was ist über Nacht passiert? Egal, was es ist, es erfüllt mich mit nichts als Wärme.

  »Ich würde dir gern jemanden vorstellen.« Es ist Mrs Withers, die diesen Moment unterbricht. »Eine Freundin von mir. Cora. Du kennst sie vielleicht?« Ich kenne keine Cora. Doch Mrs Withers spricht sofort weiter. »Sie ist auch alleinerziehend. Ihr Mann – Ex-Mann – hat sie vor zwei Jahren sitzen lassen. Schlimme Geschichte. Jedenfalls würdet ihr euch sicher gut verstehen.«

  »Vielen Dank, Mrs Withers«, sage ich und versuche, mich elegant aus der Affäre zu ziehen. »Aber ich glaube nicht, dass …«

  »Cora, Schatz«, ruft sie nun. »Das hier ist Jasper.«

  Mrs Withers zieht eine junge Frau zu uns.

  »Freut mich«, sagt Cora und lächelt mich an.

  Ich möchte nicht unhöflich sein, deswegen erwidere ich ihr Lächeln. »Ich … ähm … wollte gerade mit Bonnie …« Doch als ich mich nach ihr umblicke, ist sie wieder verschwunden. Zusammen mit Maya, wie mir auffällt. Ich sehe gerade noch, wie die beiden durch die Küchentür gehen.

  »Eure Kinder würden sich sicher gut verstehen. Wie alt sind deine jetzt?«, fragt Mrs Withers an mich gewandt.

  »Weston ist acht, und Maya ist fünf«, erwidere ich.

  »Deiner ist noch etwas jünger, oder, Cora?«

  »Er wird demnächst zwei«, sagt Cora. »Vielleicht noch ein bisschen jung, um der neue beste Freund von Maya und …«

  »… Weston.«

  »… und Weston zu werden.«

  Cora grinst etwas schüchtern. Ihr ist dieser offensichtliche Verkupplungsversuch anscheinend ebenso unangenehm wie mir.

  »Dann lasse ich euch mal allein. Es gibt doch nichts Schöneres, als über Kinder zu reden, meint ihr nicht auch?«

  Cora und ich nicken etwas übereifrig, hören aber sofort damit auf, als Mrs Withers uns den Rücken zudreht.

  »Tut mir leid«, sagt Cora sofort. »Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhat.«

  »Ist ja nicht deine Schuld«, beruhige ich sie.

  »Du bist sicher nett und so«, fährt sie fort. »Aber ich sag’s dir lieber gleich. Ich gehe schon mit jemandem aus. Es ist noch nicht ernst genug, um es den neugierigen Nachbarn zu erzählen, aber ernst genug, um Kuppelversuche abzubrechen.«

  »Freut mich zu hören«, sage ich. »Ich bin … ebenfalls …« Ich habe keine Ahnung, wie ich bezeichnen soll, was Bonnie und ich sind oder tun. Ob wir überhaupt etwas sind.

  »Dann ist ja alles klar. Hat mich gefreut, Jasper.« Sie schenkt mir ein weiteres Lächeln, dann wendet sie sich ab. Und ich mache mich auf den Weg in die Küche.

  41 – Bonnie

  Heute

  Jasper steht in der Tür zur Küche und sieht heute noch schöner aus als sonst. Ich weiß nicht, ob es an meinem Ausbruch von letzter Nacht liegt, an meinem Geständnis oder an Blythes Brief, aber heute wirkt die ganze Welt auf mich weichgezeichnet. Als läge über allem ein zartrosa Filter.

  »Und dann nehmen wir den Teig mit der Kelle auf und lassen ihn in die Pfanne fließen. So«, sagt Lula und zeigt Maya, die auf der Anrichte sitzt, wie sie Pancakes macht. »Willst du mal?«

  »Können wir kurz …«, fragt Jasper und fährt sich verlegen mit der Hand über den Nacken, »… ich weiß nicht … reden?«

  Ich blicke zu Lula und Maya. Dann wieder zu ihm. Er lächelt, obwohl sich zwischen seinen Augenbrauen die für ihn so typische Sorgenfalte gebildet hat. Ich will nichts lieber, als mit ihm zu sprechen. Dass er hier ist, bedeutet etwas. Ich habe ihn nicht verschreckt. Ich habe Blythes Brief gelesen. Alles kann anders werden. Nicht nur mein bescheuertes Herz weiß das. Mein Kopf ist mit an Bord!

  »Wir kommen schon klar, oder Maya?«, fragt Lula, und ich bin meiner Schwester unendlich dankbar. Sie hat etwas gut bei mir. Ich werde den gesamten Abwasch erledigen. Wochenlang.

  Maya nickt, und ich bin so erleichtert, dass ich beide am liebsten abknutschen würde.

  »Gehen wir nach oben?«, frage ich und wische meine Hände an einem Geschirrtuch ab.

  Jasper sieht überrascht aus. Positiv überrascht. Er hält mir die Tür auf. Mein ganzer Körper fühlt sich seltsam taub an. Ich nehme alles um mich herum viel intensiver wahr. Die Geräusche, die Farben, die Gerüche. Als wären meine Sinne heute geschärft. Als gäbe es nur noch meine Sinne. Ich schwebe irgendwo neben mir, außerhalb meines Körpers, sehe jede meiner Bewegungen und greife doch nicht ein.

  Wir erreichen die Treppe, und ich beginne, die knarzenden Stufen eine nach der anderen hochzusteigen. Meine Schritte werden vom Teppichboden gedämpft. Jasper ist direkt hinter mir. Ich kann seinen Atem hören. Meinen Herzschlag. Das Rauschen meines Bluts. Die Unterhaltungen unten, Mayas Lachen aus der Küche. Ich spüre Jaspers Körper ein paar Stufen weiter unten. Wage es nicht, mich umzublicken, tue es doch und sehe ihm direkt in die Augen.

  »Ich war noch nie in deinem Zimmer«, stellt er leise fest.

  Und mir fällt ein, dass mein Zimmer gerade vielleicht nicht unbedingt in einem präsentablen Zustand is
t. Doch ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich erreiche den Treppenabsatz, wende mich nach links. Meine Zimmertür ist nur angelehnt, und ich schiebe sie auf. Sie quietscht leise.

  »Das ist es«, sage ich.

  Er steht in meinem Zimmer. In der Mitte meines Zimmers. Der Mann, den ich mir herbeigesehnt habe, seit ich zehn Jahre alt war. Obwohl er damals natürlich noch ein Junge und die Sehnsucht eine andere war.

  »Du … trägst die Kette«, sagt Jasper, und ich schließe meine Finger um den Anhänger.

  »Ich … ähm … hatte sie in eins der Gläser gelegt, nachdem …« Ich schlucke, als ich sehe, dass er auf mein Regal zugeht.

  »Ist es das?«, fragt er leise. »Das Regal mit deinen Erinnerungen?«

  Ich nicke und merke, wie die Taubheit in meinem Körper von etwas abgelöst wird, das sich anfühlt wie ein Surren unter der Haut. Als würde ich vibrieren.

  Jasper lässt die Finger über meine Einweckgläser wandern. Bei jedem anderen käme ich mir albern vor mit meiner seltsamen Angewohnheit. Aber hier und heute ist es mir egal. Ich habe ihm bereits alles über mich gesagt. Es gibt keine Geheimnisse mehr. Ich bin seit gestern Nacht vollkommen entblößt. Und langsam beginne ich mich wohl dabei zu fühlen.

  »Vorsicht, da hinten liegen Scherben«, sage ich, als er einen Schritt weitergeht.

  »Scherben?«, fragt Jasper und hält in der Bewegung inne.

  »Kleiner Unfall gestern Nacht.«

  Er sieht mich alarmiert an, aber ich mache eine wegwerfende Handbewegung.

  »Warte, ich …« Ich gehe in die Hocke und versuche, die größten Scherben einzusammeln. Sofort kniet Jasper neben mir. Erst jetzt fällt mir auf, dass er ein Stück Kuchen in der Hand hält.

  »Du … äh …«, stottere ich und zeige darauf.

  »Oh. Ja.« Er lächelt sanft. »Maya hat es angegessen und dann nicht mehr angerührt.«

  Ich nehme es ihm aus der Hand und lege es auf meinen Schreibtisch. Etwas von der Füllung klebt an meinen Händen, doch ich ignoriere es. Stattdessen mache ich mich daran, zwei große Scherben in meine Hand zu legen. Aber Jasper hält meine Hand fest.

 

‹ Prev