Love is Loud – Ich höre nur dich
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Weston murrt, bleibt aber brav auf dem Gehweg. Maya sitzt auf Jaspers Schultern. Ihre Augen werden langsam schwer.
»Wir haben alle unser Päckchen zu tragen«, fährt Jasper nun fort. »Für keinen von uns ist es leicht.«
Ich nicke und wünschte, ich könnte Jasper alles anvertrauen. Es fühlt sich falsch an, Geheimnisse vor ihm zu haben. Aber anders geht es nicht. Und ich habe Blythe versprochen, mich um ihn zu kümmern.
Die letzten hundert Meter zum Haus legen wir schweigend zurück. Es ist bereits dunkel, und aus den Nachbarhäusern dringt ein wohliges Licht auf die Straße.
»Zeit, ins Bett zu gehen«, sagt Jasper, als er Maya von seinen Schultern hebt und die Tür aufschließt.
»Bringst du uns ins Bett, Link?«, fragt Weston.
»Okay, Kumpel, kann ich machen.« Ich wuschle ihm durch die Haare.
»Zähne putzen, Gesicht waschen, Schlafanzug«, sagt Jasper.
»Und Pipi machen«, nuschelt Maya.
»Ganz genau.«
Ich folge den dreien ins Badezimmer, wo Weston sich selbst die Zähne putzt, während Jasper Maya dabei assistiert.
»Schau mal, ich habe einen Spiderman-Schlafanzug«, sagt Weston. Er hat die Hose schon an, das Oberteil hält er noch in der Hand.
»Schick. So einen wünsche ich mir auch.«
Weston grinst, und Maya kichert, obwohl sie so müde ist.
»Die gibt’s nicht in deiner Größe«, sagt Weston.
»Was? Das ist ja eine Unverschämtheit. Dann muss ich wohl deinen anziehen.« Ich schnappe mir Westons Schlafanzugoberteil und ziehe es mir über den Kopf. Es ist so eng, dass ich kaum hindurchpasse. Und als ich es endlich geschafft habe, schnürt es mir den Hals zu.
Weston und Maya kringeln sich vor Lachen, und auch Jasper grinst.
»Du leierst es aus«, ruft Weston, als ich versuche, mich daraus zu befreien. Schließlich glückt es. Weston reißt mir das Oberteil immer noch lachend aus der Hand und zieht es sich schnell selbst an, bevor ich noch mehr Unsinn damit anstellen kann.
Während Weston im oberen Bett Comics liest, kuschelt sich Maya unten an Jasper. Ich setze mich auf den kleinen Kindersessel, den Blythe schon als Mädchen hatte, und schließe die Augen. Jasper liest aus einem Bilderbuch vor, und seine Stimme, gepaart mit dem gleichmäßig raschelnden Umblättern, ist beruhigend. Dennoch kann ich nicht komplett abschalten. Die verkorkste Probe und das merkwürdige Verhalten von Bonnie und Curtis stecken mir noch in den Knochen.
Zehn Minuten später schaltet Jasper an Mayas Bett das Licht aus. Die Kleine schläft tief und fest.
»Gute Nacht, Wes«, sagt er und küsst seinen Sohn auf die Stirn. »Mach das Licht aus, wenn du fertig gelesen hast, okay?«
Weston nickt. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sage auch ich. Dann schleichen Jasper und ich aus dem Kinderzimmer und schließen die Tür hinter uns.
»Und jetzt erzähl«, sagt Jasper, als wir wieder im Flur sind. »Was ist das mit dir und dieser Franzi?«
Sofort scheint es, als würde die Schwerkraft für meine Mundwinkel nicht mehr gelten. Ich kann nicht anders, als bei der bloßen Erwähnung ihres Namens zu lächeln.
Jasper holt zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und macht im Wohnzimmer leise Musik an.
»Ich kann es dir nicht genau sagen«, antworte ich mit leichter Verspätung. »Aber es fühlt sich gut an.«
»Das ist die Hauptsache«, sagt er und prostet mir zu. »Und dass sie nur für ein Jahr hier ist, ist kein Problem?« Er hat die Augenbrauen fragend nach oben gezogen.
»Ehrlich gesagt, denke ich darüber nicht wirklich nach.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich nehme jeden Tag, wie er kommt, weißt du?«
Jasper nickt wissend. Er weiß am besten, dass es von einem Moment auf den anderen vorbei sein kann. Ich schlucke beim Gedanken daran, wie es hier früher war – und dann still.
»Ich will nur nicht, dass es dich unerwartet trifft«, sagt Jasper.
»Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue.«
»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagt er und nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Nach Eloise …«
»Mit Eloise war es ganz anders«, unterbreche ich ihn, weil der Vergleich einfach lächerlich ist. »Sie war von einem Tag auf den anderen weg. Ohne Vorwarnung.«
»Es war etwas ganz anderes. Du hast recht. Ich will nur, dass es dir gut geht.«
»Das tut es«, sage ich voller Überzeugung. »Das tut es wirklich.«
21
Franzi
Es wird Tag für Tag wärmer, die Feuchtigkeit drückender. Und ich werde Tag für Tag glücklicher. Nicht einmal Hugos Launen können mir die Stimmung verderben. Denn jeden Tag schlafe ich mit Gedanken an Link ein, um am nächsten Morgen mit ebendiesen Gedanken wieder aufzuwachen. Sein Dasein, seine Existenz erfüllt mich komplett. Ich atme, fühle, schmecke nur ihn. In allem, was ich tue. Wir treffen uns beinahe jeden Tag, sobald ich allen meinen Aufgaben nachgekommen bin. Ich höre ihm bei der Straßenmusik zu, er begleitet mich auf meinen Touren durch die Stadt. Wir küssen uns wie zwei verliebte Teenager zu jeder Gelegenheit, die sich uns bietet. Es gibt kaum einen Hauseingang, in den Link mich nicht hineinschiebt, um im nächsten Moment über mich herzufallen, als wäre er komplett ausgehungert. Kaum einen Hinterhof, in dem wir uns nicht ineinanderkrallen, als hielte es uns am Leben. Kaum einen Abend, an dem wir nicht noch Ewigkeiten vor Fayes und Victors Haus rumknutschen, als wäre es das letzte Mal, dass wir einander sehen. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gefühlt. Erhaben und gleichzeitig klein im Angesicht der Empfindungen, die in mir aufkeimen.
Faye grinst mich wissend an, wann immer sie mich sieht. »Du strahlst ja förmlich«, sagt sie .
Heute Abend besuche ich endlich wieder einmal einen Auftritt von After Hours im Cat’s Cradle. Auf meine Frage, warum sie immer in der gleichen Bar spielen, erklärte Link mir, dass in New Orleans die Bands und die Clubs und Bars, in denen sie auftreten, untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist ein symbiotisches Verhältnis, ein Geben und Nehmen. Und wieder verstand ich die Stadt ein wenig besser.
Während sie spielen – und sie spielen wieder fantastisch –, habe ich nur Augen für Link. Mehr als einmal treffen sich unsere Blicke, und mein Herz hüpft.
»Ihr seid wirklich zuckersüß«, sagt Amory, die in einem dunkelblauen Maxikleid neben mir steht. Ich bewundere sie. Sie ist so selbstsicher, so schön auf die lauteste Art, die ich kenne. Sie ist die personifizierte Weiblichkeit. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie in mein Zuhause nach Deutschland passen würde. Hier, in New Orleans, wo jeder die Möglichkeit hat, er oder sie selbst zu sein, sind dem Selbstbewusstsein scheinbar keine Grenzen gesetzt. Aber ich fürchte, in Deutschland wäre sie zu früh in eine Schublade gesteckt worden, um sie selbst sein zu können.
Ich schenke ihr ein Lächeln. »Ich weiß gar nicht so genau, wie das passieren konnte«, sage ich.
»Ich schon. Du bist genau das, was Link nie hatte und immer gesucht hat. Ohne dass er es wusste.«
»Ich … ich glaube nicht, dass …«, beginne ich, aber Amory unterbricht mich.
»Oh doch. Ich weiß es. Du kannst mir ruhig vertrauen. Ich bin ziemlich gut mit Menschen.«
»Vielleicht solltest du Psychologin werden«, schlage ich vor.
»Und den Spaß daran verlieren, andere zu analysieren? Nein, danke. Da bleibe ich lieber bei der Mathematik.«
»Du studierst Mathematik? Wow. «
Sie zuckt mit den Schultern. »Mir wird schnell langweilig. Da ist die Mathematik genau das Richtige. Es gibt immer was zu denken. Jetzt in diesem Moment beispielsweise löse ich ein Problem.«
»Während du mit mir redest?«
»Während ich mit dir rede.«
»Bist du irgendwie hochbegabt oder so?« Ich lache.
»Jep.«
»Echt jetzt?«
»Ja, aber es ist nicht so, als wäre ich ein Genie oder so. Zumindest kein krasses. Nur so ein bisschen.«
»Was bedeutet das?« Amory wirkt wie das genaue Gegenteil von einem mathematischen Wunderkind. Wobei ich zugeben muss, dass ich nicht weiß, wie so ein mathemat
isches Wunderkind aussieht.
»Also mit elf habe ich einen Wettbewerb gewonnen, an dem normalerweise Neuntklässler teilnehmen. Das war der Moment, als meine Eltern beschlossen haben, noch ein Kind zu machen.« Sie lacht. »Ich glaube, sie haben gemerkt, dass aus mir keine Landwirtin werden würde.« Sie muss meinen überraschten Blick bemerkt haben. »Bin ein Landei. Durch und durch. Mathe-Genie, Landei. Vielleicht finde ich noch ein Klischee, das ich durchbrechen kann.«
»Vielleicht habe ich mich gerade in dich verliebt«, sage ich lachend.
»Stell dich hinten an«, sagt sie und prostet mir zu.
Nach der letzten Zugabe verschwindet Link mit dem Hut voller Geld nach hinten ins Lager, nicht ohne mir vorher noch einen Kuss zu geben. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, dass Bonnie mich kritisch beäugt. Ob sie um Links Ruf als Junggeselle bangt? Ich kann mir vorstellen, dass der weibliche Teil des Publikums spendabler ist, solange Link überzeugend mit ihnen flirtet. Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht sollten wir zum Wohl der Band etwas zurückhaltender sein, auch wenn es mir ein bisschen gegen den Strich geht.
»Schön, dich zu sehen«, sage ich, als Bonnie an mir vorbei zur Bar geht. Vielleicht kann ich die Sache ja gleich mit ihr klären.
»Hi«, gibt sie zurück. »Mikey, kriege ich ein Wasser?«
Der Barmann nickt. »Toller Gig«, sagt er.
»Leider kein Wochenende«, erwidert Bonnie. »Falls du mal wieder einen Slot für uns hast …«
»Ihr seid immer meine erste Wahl. Aber ich werde niemanden rauskicken.«
»Klar, verstehe ich.«
Bevor ich noch etwas sagen kann, um die seltsame Stimmung zwischen uns zu kitten, geht sie nach draußen.
Ich bin froh, als Link zurück ist. Er nimmt mich mit zu den anderen und drückt jedem einen Stapel Scheine in die Hand. Vermutlich bin ich paranoid, aber es kommt mir so vor, als würden zumindest Bonnie und Curtis meinen Blicken ausweichen.
»Komm mit. Ich will dich für mich haben«, flüstert Link mir ins Ohr und zieht mich von den anderen weg und um die Ecke in den dunklen Hinterhof des Cat’s Cradle.
»Ist mit Bonnie alles in Ordnung?«, frage ich, ehe er seine Lippen auf meine drücken kann.
»Das war eigentlich nicht das, was ich im Sinn hatte«, sagt er grinsend und umschließt meinen Mund mit seinen Lippen. Sofort spüre ich seine warme Zunge, und mein Kopf droht, sich auszuschalten. Doch das hier ist wichtiger. Ich will ihn sanft von mir schieben, da flüstert er »Du hast mir gefehlt« in mein Ohr. Dann beginnt er meinen Hals zu küssen.
»Warte«, sage ich atemlos, »ich meine es ernst. Sie war ein bisschen komisch. «
»Bonnie interessiert mich gerade nicht«, sagt Link mit leicht verschleiertem Blick. »Du interessierst mich. Das interessiert mich.« Er umfasst meinen Körper und saugt sanft an meiner Unterlippe.
Ich muss kichern, doch erneut schiebe ich ihn weg. »Sie war komisch zu mir «, sage ich mit Nachdruck. »Habe ich was falsch gemacht?«
»Du?«, fragt er entgeistert und tritt nun einen Schritt zurück. »Du könntest nicht mal etwas falsch machen, wenn du es darauf anlegtest.«
»Warum habe ich das Gefühl, dass du mich nicht ernst nimmst?«, frage ich, lasse ihn aber gewähren, als er wieder ganz nah an mich herantritt und mir meine Haare hinters Ohr streicht.
»Ich nehme dich ernst«, sagt er und blickt mich aus klaren Augen an. »Ich nehme uns ernst.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Was meint er damit? Wir haben noch nicht darüber gesprochen, was das hier ist. Dass es besonders ist, schön und einzigartig, spüren wir bestimmt beide. Aber ich habe ihn noch nie von einem »uns« sprechen hören. Von einem »wir«.
»Uns?«, frage ich vorsichtig, weil ich mir fast sicher bin, dass es ein Versehen war.
Statt einer Antwort vergräbt er sein Gesicht in meinen Haaren. Ich spüre seinen Atem, seinen Herzschlag an meiner Brust. Ich spüre zum ersten Mal etwas anderes als Lust und Leidenschaft. Ich spüre die Dringlichkeit dieser Nähe. Seine Lippen wandern über mein Schlüsselbein und hinterlassen eine heiße Bahn auf meiner Haut, und mit einem Mal bin ich nicht mehr in der Lage, meine Gedanken zu koordinieren. Mit seinen Händen umfasst er meinen Körper so fest, dass es wirkt, als würde er sich an mir festhalten. Dann, beinahe hungrig, findet er meine Lippen und teilt sie mit seiner Zunge. Die Gier, mit der er mich erkundet, mit der er über meine Lippen, meine Zunge, meinen Gaumen streicht, entlockt mir ein leises Seufzen.
Kurz wundere ich mich, warum eigentlich ich. Bislang musste ich mir diese Frage noch nie stellen. Die Menschen in meinem Leben und ich, wir waren uns immer ähnlich. Vernünftig, auf die Zukunft bedacht. Wir waren ein stabiles System, in dem man sich gegenseitig stützt. Das hier, das ist etwas ganz anderes. Link bringt mich so vollkommen aus dem Gleichgewicht, dass ich einfach umfallen würde, hielte er mich nicht so fest. Die Empfindungen, die Links Berührungen, seine Anwesenheit, ja, seine bloße Existenz in mir auslösen, sind mit nichts vorher Dagewesenem zu vergleichen. Und obwohl ich mich vor dem fürchte, was kommt, wenn dieser Kuss und all die anderen enden, kann ich nicht anders, als mich mit Haut und Haar und allem, was ich habe, hineinzulehnen in ihn, in uns. Die vernünftige Franzi tobt und wütet vermutlich irgendwo in mir drin und schreit, ich solle aufpassen, aber Frenzy, New-Orleans-Frenzy, will das Risiko. Auch wenn es ein Gefühlsrisiko ist.
Nach ein paar Minuten – oder waren es viele? – ist der erste Hunger nach Nähe gestillt, obwohl dafür nun mein gesamter Körper in Flammen steht. Die Lust auf mehr, auf ihn, auf alles lässt mich erbeben, und ich merke, wie heftig es in mir pocht. Bis in meinen Schritt, wo sich das Pochen, Ziehen und Begehren zu sammeln scheint.
»Ich werde mit ihr sprechen, okay?«, sagt Link. »Mit Bonnie, meine ich.«
»Danke«, erwidere ich und habe auf einmal das Gefühl, als wären wir unbesiegbar. Wenn wir nur zusammen sind. Wenn wir ein Wir sind.
22
Lincoln
Bonnie lebt ebenso wie Jasper in Tremé. Heute hat sie mich zum Frühstück eingeladen – oder, besser gesagt, ich habe mich selbst eingeladen. Denn Frenzy hat recht. Es gibt offensichtlich Dinge, die wir klären müssen. Das Haus, in dem Bonnie mit ihrer Mom Annabella und ihrer Zwillingsschwester Lula wohnt, ist ein kreolisches Cottage – ein kleines, zweistöckiges Haus mit gelber Holzverkleidung und türkisfarbenen Fensterläden. Die Farbe ist bereits ein paar Jahre alt, und es gibt eigentlich keine Stelle, an der sie nicht abblättert. Das feuchte, heiße Klima bekommt weder dem Holz noch der Farbe. Den letzten Anstrich haben Curtis, Bonnie und ich dem Häuschen verpasst, kurz bevor Blythe gestorben ist. Es war eine Ablenkungstherapie für uns alle.
Ich öffne das knarzende Gartentor, und sofort fühle ich mich zu Hause. Dieser ungepflegte Vorgarten voller Unkraut und Gestrüpp, die leicht gelblichen Gardinen, die innen vor den Fenstern hängen, der Geruch nach altem Holz, Sonnenschein und abgestandenem Zigarettenrauch, der durch die offen stehende Tür nach draußen dringt. All das ist seit der Grundschule ebenso mein Zuhause wie mein eigenes Elternhaus. Curtis, Bonnie und ich kennen uns von einem sozialen Musikprojekt, das kurz vor Katrina in Tremé ins Leben gerufen wurde und die Katastrophe überdauert hat. Es ist das gleiche Projekt, für das Jasper heute arbeitet. Ziel war es, Kids von der Straße zu holen und ihr Leben mit etwas zu füllen, das ihnen eine Sinnhaftigkeit im Leben bietet und gleichzeitig das kulturelle Erbe der Stadt am Leben erhält. Während der ersten Woche durften wir alle möglichen Instrumente ausprobieren. Ich erinnere mich an den Moment, als ich das erste Mal eine Gitarre in der Hand hatte, als wäre es gestern gewesen. Dieses Gefühl, als wäre das Instrument die logische Erweiterung meines Körpers. Als hätte mir bis zu diesem Augenblick etwas gefehlt und jetzt erst wäre ich vollständig. Bonnie und ich gerieten aneinander, weil sie auch Gitarre lernen wollte, es aber nicht genug Plätze dafür gab. Es lief darauf hinaus, dass entweder sie oder ich uns ein anderes Instrument aussuchen mussten. Ich fing bitterlich zu weinen an, und sie entschied sich daraufhin für das größte Instrument, das sie finden konnte, um, wie sie damals sagte, mich damit zu verprügeln, sobald sie stark genug wäre.
Seit diesem Tag sind wir beste Freunde. Sie hat mit dem Kontrabass ihre Berufung gefunden und mich bis heute nicht damit verprügelt.
Ich trete ins Wohnzimmer, wo Annabella gerade dabei ist, Lulas Haare zu schneiden. Sie ist ein Geheimtipp im Viertel und hat mir auch schon oft die Haare geschnitten.
Als Lula mich erblickt, springt sie jedoch sehr zum Missfallen ihrer Mom auf.
»Link!«, ruft sie und fällt mir um den Hals. Lula ist beinahe wie eine Schwester für mich. Wie eine Schwester, die immer da ist, wenn man sie nicht braucht. Allerdings eine Schwester, die man trotzdem über alles liebt. Nicht wie Blythe, aber so ähnlich. »Du warst viel zu lange nicht hier!«
Lula hat ebenso wie Bonnie eine zierliche Statur, doch ansonsten ist sie das genaue Gegenteil: kurze Haare, auffällige, figurbetonte Outfits, die meist nur das Nötigste bedecken, Tattoos .
Ich streiche ihr über die frisch geschnittenen kurzen schwarzen Locken.
»Merkt man auch an deinem Haarschnitt«, kommt es nun von Annabella. Sie ist mit ihrem mächtigen Körper so ziemlich das Gegenteil ihrer Töchter und gleichzeitig einer der besten Menschen, die ich kenne.
»Link, mein Baby«, sagt sie, legt die Schere weg und kommt auf mich zugewackelt, um mich in ihre massigen Arme zu schließen. Eine Umarmung von Annabella ist der Inbegriff der Geborgenheit. Man hat das Gefühl, als würde alles Schlechte, das es in der Welt gibt, mit einem Mal zu Weichheit und Wärme.
»Es sollte verboten sein, so hübsch zu sein.« Annabella kneift mir in die Wange. Wieder schließt sie ihre Arme um mich, noch fester diesmal. Sie duftet nach zu Hause, nach Familie. »Ich könnte dich erdrücken«, sagt sie und lacht ihr heiseres, herzliches Lachen, bei dem ihr gesamter Körper zu beben scheint, ehe sie mich wieder loslässt.
»Bonnie ist draußen«, sagt Lula und zeigt mit dem Daumen in den hinteren Teil des Hauses, von wo aus man in den kleinen Garten gelangt.
Eigentlich war der Plan, sie bei Annabella im Wohnzimmer zurückzulassen, aber ich habe die Rechnung ohne Lula gemacht. Sie folgt mir und plappert munter drauflos.