Love is Loud – Ich höre nur dich
Page 33
Seither kommt sie jeden Tag. Ich sage nicht viel, sie erzählt von Lula und ihrer Mom. Von Gigs, die sie spielt. Ich bin wie gelähmt und kann an nichts anderes denken als daran, dass ich alles kaputt gemacht habe. Ich habe After Hours zerstört, ich habe Frenzy vertrieben. Alles, was mein Leben lebenswert gemacht hat, ist fort. Und niemand außer mir hat Schuld daran. Aber ich spreche es nicht aus. Denn wenn ich es ausspreche, existiert diese Schuld auch außen. Solange sie nur in mir ist, dreht sich die Welt wenigstens weiter.
Doch dann ändert sich alles .
»Dein Anblick macht mich fertig«, sagt Bonnie eines Tages. Ich habe mich zur Abwechslung aufgesetzt. Offenbar spornt es sie an. »Jasper ist unerträglich. Curtis ist unerträglich. Aber am schlimmsten bist du. Krieg dich in den Griff. Auf das hier«, sie deutet wild gestikulierend auf mich, »habe ich keine Lust mehr.«
»Wow«, sage ich etwas überrumpelt.
»Ich meine es ernst, Schwachkopf. Du hast lange genug herumgelegen und Trübsal geblasen. Hier ist deine Gitarre.« Sie legt sie neben mich aufs Sofa. »Schreib einen Song drüber. Und dann werd’ erwachsen und stell dich deinen Problemen.«
Sie rauscht zur Tür raus. Ich blinzle ein wenig verwirrt, versuche, meine Gedanken zu sortieren. Neben dem Sofa steht eine Flasche Wasser, und ich nehme einen Schluck. Dann noch einen und noch einen. Schließlich leere ich sie in einem Zug. Danach setze ich mich auf.
»Charlie? Con?«, rufe ich.
»Link?« Charlies Stimme dringt aus der Küche zu mir. Es duftet nach Essen. Einen Moment später rollt sie ins Wohnzimmer. »Du sitzt«, stellt sie fest.
Ich räuspere mich. »Ich … Es …«
»Geht’s dir besser?«, fragt sie. »Ich koche Gumbo.«
»Ich glaube, mir geht’s besser«, sage ich leise. Bonnies Worte haben Spuren hinterlassen. Mein Kopf rattert. Schreib einen Song darüber. Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Denn das habe ich bereits. Ich habe einen Song. Und der Text formt sich in meinem Kopf. Formte sich über die letzten Wochen.
»Hast du einen Zettel und einen Stift für mich?«, frage ich.
»In der obersten Schublade«, sagt sie und nickt in Richtung Schrankwand .
Ich erhebe mich leicht schwankend.
»Gott, bist du dünn«, sagt Charlie. »Tust du mir einen Gefallen und isst heute was?«
»Okay«, sage ich und bleibe einen Moment unschlüssig mit Block und Stift vor ihr stehen. Dann: »Es tut mir leid, Mom.«
»Ist schon in Ordnung«, sagt sie. »Manchmal haut es den Stärksten um.«
Ich schlucke und drücke ihre Hand.
»Ihr hört mir jetzt zu. Alle beide. Curtis, du auch, wenn du willst, aber für dich ist es optional.« Bonnie steht am Kopfende des Esstischs in ihrem Wohnzimmer. Lula und Annabella hat sie nach draußen geschickt. Jasper sitzt mir schräg gegenüber, den Blick starr auf die Tischplatte gesenkt. Ich schaue von Curtis zu Bonnie und von Bonnie zu Jasper. Mein kaputtes Herz findet bei ihrem Anblick Trost. Auch wenn ich weiß, dass das hier vollkommen schiefgehen kann.
»Was wir hatten, war einzigartig. Wir hatten Sound, wir hatten Ideen. Wir waren so gut, dass wir im Palace of Sound hätten spielen können. Wenn ich daran denke, wie wenig gefehlt hat, kriege ich Lust, eure Köpfe zu nehmen und sie gegeneinanderzuschlagen. Aber ich tue es nicht. Hörst du, Jasper? Ich tue es nicht, weil ich besser bin als das. Und weil mir das, was wir hatten, etwas bedeutet. Weil ihr mir etwas bedeutet. So bescheuert ihr auch seid.«
Jasper schüttelt den Kopf, und ich kann ein Schnauben nicht unterdrücken.
»Möchtest du etwas sagen, Hughes?«, fragt Bonnie. Wenn sie angepisst ist, nennt sie uns beim Nachnamen. Wie unsere Lehrer früher.
»Ich erinnere mich nur noch sehr gut daran, wie du mir in die Schulter geboxt hast, das ist alles«, sage ich .
»Weil du das nötig hattest.« Mehr hat sie zu dem Thema nicht zu sagen. »Ich will – nein, ich verlange, dass ihr euch die Hand reicht.«
»Er hat mich mit der Faust ins Gesicht geschlagen«, sage ich, und nun ist es an Jasper zu schnauben.
»Und du hast ihn belogen, bla, bla, bla. Schwamm drüber, weiter geht’s«, sagt Curtis. »Ihr benehmt euch wie kleine Kinder. Ich wette, Weston würde so einen Konflikt besser lösen.«
»Ich habe es für Blythe gemacht«, sage ich leise.
»Wie bitte?« Jasper blickt zum ersten Mal an diesem Nachmittag auf und mir direkt in die Augen. Erst jetzt sehe ich, dass sie dunkel umrandet sind.
»O Gott«, stöhnt Bonnie.
»Nein, warte.« Jasper hebt die Hand. »Was hast du gesagt?«
»Ich …« Auf einmal spüre ich die komplette Last der letzten Wochen auf meinen Schultern. »Ich habe es Blythe versprochen.«
»Was hast du ihr versprochen?« Jaspers Stimme klingt drohend. Oder verzweifelt. Ich kann es nicht sagen. So fremd ist er mir gerade.
»Kurz vor ihrem Tod.« Ich schlucke. »Sie hat mich gebeten, auf euch aufzupassen. Für euch zu sorgen.« Meine Stimme bricht, und ich räuspere mich. »Ich habe es für sie getan.«
Jasper vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Für einen Moment herrscht absolute Stille. Dann beginnen seine Schultern zu beben.
»Komm schon, Alter«, sagt Curtis und klopft ihm fest auf den Rücken.
Unter seinen Händen stößt Jasper ein merkwürdiges Geräusch aus. Es ist eine Mischung aus Schluchzen und Lachen, und Bonnie und ich werfen uns verwirrte Blicke zu .
»Jasper?«, fragt Bonnie nach einer Weile. »Ist alles in Ordnung?«
»Sorry«, sagt er, wischt sich mit den Handflächen über das Gesicht und blickt uns aus roten Augen an.
»Du hast in den letzten Wochen nicht viel Schlaf gekriegt, oder?«, fragt Curtis.
»Nicht wirklich.«
»Ist damit alles gesagt?«, fragt Bonnie. »Können wir weitermachen?«
»Nein«, antwortet Jasper, und meine Eingeweide sacken einen halben Meter nach unten. Ich hatte tatsächlich Hoffnung. »Ich würde gern mit Link unter vier Augen sprechen.«
Bonnie packt Curtis unsanft am Arm. Sie nimmt heute wirklich keine Gefangenen.
Als wir allein sind, sieht Jasper mich erneut an. Er räuspert sich, senkt den Blick, hebt ihn wieder. Ich habe keine Ahnung, was er mir sagen will, und die Sorge, dass es zwischen uns nie wieder so wird, wie es mal war, schnürt mir die Luft ab.
»Es tut mir leid«, sagt er dann leise. »Es tut mir so leid, Link. Du bist mein bester Freund. Du bist wie ein Bruder für mich. Und ich habe dich … Ich hätte nie …«
»Ist schon in Ordnung«, höre ich mich sagen, während die Welt um mich herum zu vibrieren scheint. Das hier ist gut. Das ist alles, was ich immer wollte. Die Band. Meine Freunde.
»Es ist nicht in Ordnung. Mir ist eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe mich wie der letzte Versager gefühlt.«
»Du bist alles andere als ein Versager.«
»Na ja …«
»Du bist ein fantastischer Pianist, du bist ein toller Dad. Du bist mein bester Freund«, sage ich. »Und mir tut es leid, dass ich dich belogen habe. «
»Aber du hast es für Blythe getan.«
»Ja …«
»Außerdem … Ich glaube, ich habe immer geahnt, dass irgendwas nicht stimmen kann mit dem Geld. Aber ich war selbst zu feige, es anzusprechen. Und ich hätte nie gedacht, dass du allein …« Er reibt sich mit den Handballen über die Augen.
Kurz schweigen wir.
Dann sagt Jasper: »Danke.«
Weil mir nichts anderes einfällt, bücke ich mich nach meiner Gitarre. »Ich habe den Song fertiggeschrieben.«
»Ernsthaft?« Jaspers Augen leuchten.
»Er heißt Frenzy. «
»Natürlich heißt er so. Zeig ihn mir!«
Von den ersten Takten unseres neuen Songs angelockt, kehren Bonnie und Curtis ins Wohnzimmer zurück. Sie setzen sich an den Tisch und hören zu. Bonnie schließt die Augen, Curtis klopft mit den Daumen einen leisen Takt auf den Tisch. Als ich geendet habe, applaudieren sie.
Wir verabreden uns zur Bandprobe. Bonnie und ich wollen außerdem im Cat’s Cradle vorbeigehen, um Mikey zu überre
den, uns wenigstens einen unserer Slots wiederzugeben. Das wird ein hartes Stück Arbeit werden, aber er wird es nicht bereuen. Und wir werden eine neue Chance bekommen, den Durchbruch zu schaffen. Darüber sind wir uns alle einig.
Als ich zu meinem Fahrrad gehe, fällt mir auf einmal etwas ein. Etwas, das Hugo gesagt hat. Zumindest glaube ich es. Hat Frenzy in meinem alten Warehouse etwas für mich hinterlassen? Es könnte auch ein Traum gewesen sein, doch auf jeden Fall muss ich der Sache nachgehen.
Bitte ruf mich an, Link. Ich liebe dich .
Mit Bleistift hat sie diese Nachricht an einen der Ziegelsteine geschrieben, dorthin, wo früher das Bett war. Darüber steht eine Telefonnummer, die ich nun mit zitternden Fingern in Cons altes Handy eintippe. Es ist das, was die Kids in Tremé ein Drogendealer-Handy nennen. Ein Prepaid-Phone ohne Internet. Aber es erfüllt seinen Zweck.
Ein einziger Gedanke geht mir dabei durch den Kopf: Sie ist nicht meinetwegen abgereist. Kurz zögere ich, bevor ich auf den grünen Hörer drücke. Es sind nun Wochen vergangen. Wochen, in denen ich mich bei ihr hätte melden sollen. Wochen, in denen sie sich wieder in ihr Leben in Deutschland gefügt hat. Wochen, in denen sie mich vielleicht vermisst hat. Aber tut sie es noch?
Ich streiche mit der Hand über ihre Schrift an der Wand. Hier stand sie. Traurig. Vermutlich verzweifelt, weil ich weg war. Ich kann mir kaum ausmalen, was sie gefühlt haben muss. Und doch hat sie mir eine Nachricht hinterlassen.
Entschlossen drücke ich auf den Knopf mit dem grünen Hörer. Der nächste Punkt auf meiner Liste ist, die Tastentöne auszuschalten. Aber erst will ich ihre Stimme hören. Will ihr alles erklären. Ich räuspere mich, als das Freizeichen ertönt. Einmal, zweimal.
»Hallo?« Die Stimme klingt verzerrt. Klingt tief. Zu tief. »Hallo? Wer ist da?« Kein Zweifel, es ist eine Männerstimme.
49
Franzi
»Dein Handy klingelt«, ruft Adrian aus der Küche.
»Kannst du kurz drangehen?« Es ist ohnehin nur Lara. Und ich habe die Hände voll mit Wäsche.
»Hallo? Hallo? Wer ist da?«, höre ich Adrian sagen. »Hello? Who is this?«
Ich lasse sofort die Wäsche fallen und sprinte in die Küche.
»Hello? … Aufgelegt«, sagt Adrian und reicht mir das Handy. »Irgendein Kerl. Aus Amerika, schätze ich.«
»Was? Wer?« Mein Herz rast.
»Hab den Namen nicht verstanden. Die Verbindung war ziemlich schlecht. Klang wie Link oder so.«
Link hat angerufen! Er hat mich angerufen! Ich öffne hektisch die Anrufliste – und mein Herz sackt nach unten. Der letzte eingehende Anruf kam von einer unterdrückten Nummer. Das darf doch nicht wahr sein!
»Er ruft sicher wieder an. Wer war das überhaupt? Du hast nichts von einem Link erzählt.«
»Er ist …« Ich kann nicht glauben, dass ich Adrian habe an mein Handy gehen lassen. Dass ich in dem Moment, in dem er sich endlich bei mir meldet, mein Telefon nicht bei mir hatte. Dass er jetzt vermutlich denkt, ich hätte einen anderen. Tränen brennen in meinen Augen. »Er war mein Freund.«
»Wie bitte?« Adrian hat die Augen weit aufgerissen. »Du hast einen Freund? «
Ich nicke und lasse den Tränen zum ersten Mal, seit ich wieder in Deutschland bin, freien Lauf.
»Was ist mit dir?«, fragt Adrian und legt unbeholfen seine Hand auf meine Schulter. »Vermisst du ihn so?«
Ich nicke wieder und vergrabe mein Gesicht an Adrians Brust.
»Dann flieg doch einfach wieder hin.«
Wenn Adrian es sagt, klingt es so einfach. Aber dann muss ich meine Mutter mit ihm allein lassen. Und ich weiß ja nicht einmal, ob Link und ich noch zusammen sind.
»Ich weiß, du hältst mich für einen Trottel«, sagt Adrian. »Und vielleicht bin ich das auch. Aber sogar ich sehe, dass es dir nicht gut geht.«
»Das ist keine große Kunst«, erwidere ich und versuche mich an einem Lachen, das klingt wie ein Schluchzen. »Ich heule ja schließlich.«
»Aber auch vorher schon. Du bist ganz anders als früher. Du bist viel … cooler. Dir hat die Zeit drüben richtig gutgetan.«
Zehn, denke ich. Und dann sage ich es laut. »Zehn.« Denn ich weiß, ich muss zurück.
Meine Mutter sitzt mit einem Buch auf dem Sofa, blickt allerdings sofort auf, als ich den Raum betrete. Wie zum Schutz habe ich die Arme um mich geschlungen. Ich räuspere mich.
»Ich muss mit dir reden, Mama.« Und dann beginne ich zu erzählen. Von der Art und Weise, wie New Orleans mich verändert hat. Wie es mich stärker, selbstbewusster, zu mir selbst gemacht hat. Wie eingeengt ich mich hier fühle und dass ich mir ein Leben in Deutschland zumindest im Moment nicht vorstellen kann. Und ich erzähle von Link. Von einer Liebe, die so groß ist, dass ich nie gedacht hätte, sie einmal erleben zu dürfen .
»Und deswegen«, schließe ich, »werde ich zurückgehen. Sobald du allein zurechtkommst.«
Einen quälend langen Augenblick sieht sie mich einfach nur an. Dann: »Bist du sicher?«
»Absolut sicher. Ich bin schon längst bei zehn angelangt, Mama.«
»Deine Zukunft …« Sorge spricht aus ihrer Stimme.
Ich würde ihr so gerne versprechen, dass alles gut wird. Dass es nichts gibt, wovor sie sich fürchten muss. Aber das kann ich nicht. Denn wenn ich ehrlich bin, bin ich selbst schrecklich nervös.
»Was die Zukunft bringt, kann keiner von uns wissen. Ich nicht und du auch nicht. Ich will den Moment, verstehst du? Den perfekten Moment. Ich will ihn am liebsten für immer. Und wenn das nicht geht, dann eben so lange wie möglich.«
»Ich habe Angst, Franzi.«
Ich nicke, mache einen Schritt auf sie zu und gehe vor ihr in die Hocke. »Ich auch«, gebe ich zu. »Aber ich habe noch mehr Angst davor, nicht glücklich zu sein. Das Leben ist zu kurz, um nicht glücklich zu sein.«
Sie schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln. »Wann ist meine Tochter nur so erwachsen geworden?«, fragt sie und schluckt. »Und so … weise?«
»Als sie angefangen hat, sich Dinge zuzutrauen, glaube ich.«
Wir umarmen uns lange, und ich gebe meiner Mutter unzählige überflüssige Versprechen: Ich werde auf mich aufpassen, sie auf dem Laufenden halten, ihr Link über Skype vorstellen, sofort zurückkehren, wenn ich zur Vernunft komme (darauf folgt eine kurze Diskussion). Sie wird mich besuchen und sich davon überzeugen, dass es mir gut geht. Und, und, und .
Der nächste Schritt wird sein, mich damit auseinanderzusetzen, welches Visum ich beantragen kann, sobald das jetzige abgelaufen ist. Und endlich fühlt es sich wieder an wie ein Schritt in die richtige Richtung. Ein Schritt hin zu Frenzy und weg von Franzi. Denn es ist ein Schritt in Richtung Leben. Und ein Schritt in Richtung Link.
50
Lincoln
»Link?«, fragt Bonnie. »Denkst du, du wärst bereit, Frenzy am Mittwoch zu singen?«
Wir sind in unserem Proberaum und diskutieren gerade die Setlist für unseren Auftritt. Mikey hat uns immerhin den Mittwochsslot zurückgegeben. Den Montag wird er uns auf lange Sicht wieder freischaufeln. Aber erst einmal muss ein Tag pro Woche reichen.
Alle Augen sind auf mich gerichtet. Ich verstehe, warum Bonnie besorgt klingt. Und warum sich zwischen Jaspers Brauen eine kleine Falte gebildet hat.
»Ich … ich glaube schon«, sage ich. Obwohl der Song sehr emotional für mich ist, will ich, dass unser Gig perfekt wird. Und Frenzy ist die perfekte Ergänzung zu unserem Repertoire, darin sind wir uns alle einig.
»Bist du sicher?« Selbst Curtis blickt mich mitleidig an.
»Leute«, beruhige ich sie, »keine Panik. Wenn ich sage, ich kann ihn singen, dann stimmt das auch.«
»Du hast gesagt, du glaubst …«
»Ja, Bonnie, ich weiß. Und jetzt sage ich, ich kann ihn singen.«
Seit meinem Versuch, sie anzurufen, habe ich mir Mühe gegeben, Frenzy aus meinen Gedanken fernzuhalten. Es ist schwer genug, jeden Morgen aufzustehen, auch ohne dass sie im Wachzustand in meinem Kopf herumgeistert. In Momenten, in denen meine Vernunft die Oberhand hat, frage ich mich, ob das wirklich ihr neuer Freund war, der an ihr Handy gegangen ist. Ob die Sache zwischen
uns ihr wirklich so wenig bedeutet hat. Dann wiederum erinnere ich mich daran, dass ich derjenige war, der sie weggestoßen hat. Und schließlich verbiete ich mir, an sie zu denken. Die Schmerzen sind zu groß.
Wenigstens habe ich etwas, wofür ich kämpfen kann. Inmitten meiner besten Freunde Musik zu machen ist das größte Geschenk. After Hours kehren in einer Woche zurück auf die Bühne, und darauf sollte ich meine komplette Konzentration richten.
»Jasper hat erzählt, du hast gestrichen?«, fragt Bonnie und blickt von ihrem Zettel auf, auf dem sie die Reihenfolge unserer Songs notiert hat. Frenzy steht ganz am Ende.
Ich nicke. »Ja, es sieht inzwischen schon beinahe wohnlich aus«, sage ich.
»Weston und Maya lieben es, dass du jetzt immer da bist. Und ich liebe es, dass ich einen Babysitter auf Abruf habe.« Jasper grinst mich an, und ein warmes Gefühl durchflutet meinen Körper. Es ist nicht diese Glückseligkeit, die ich mit Frenzy verspürt habe, aber es ist so etwas wie Geborgenheit. Und fürs Erste ist das genug. Vielleicht gehe ich eines Tages noch mal bei Hugo vorbei. Einfach nur, um herauszufinden, ob es ihr gut geht. Um abschließen zu können mit diesen wunderbaren Monaten, die wir hatten.
Auf dem Weg nach Hause laufen Jasper und ich erst eine Weile schweigend nebeneinander.
»Du bist okay, oder?«, fragt er irgendwann.
»Ja.«
»Du würdest mir doch sagen, wenn es anders wäre?«
Ich lache leise. »Vermutlich nicht. Aber mir geht’s gut. Und alles, was gerade noch nicht okay ist, wird mit der Zeit. «
Wir laufen durch die nächtlichen Straßen Tremés, dieses Viertels, in dem die afroamerikanische und kreolische Kultur so lebendig ist wie sonst nirgendwo. Hierherzuziehen fühlte sich an wie Heimkehren.