Never Too Close

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Never Too Close Page 33

by Moncomble, Morgane


  »Nach meiner Trennung von Émilien bin ich auf der Feuerwache gewesen. Ich habe Loan gesucht und bin dabei Ethan begegnet. Weil ich geweint habe, bot er mir heiße Schokolade an. Er wusste eben, was mir guttut«, scherzt sie.

  Ich schaue sie an, aber sie ignoriert mich. Ihr Blick verliert sich in der Ferne.

  »Er fragte mich, was los wäre. Ich sagte ihm, dass Émilien mit mir Schluss gemacht hätte, und erklärte ihm, warum … Da lächelte Ethan mich an und sagte: ›Soll ich dir mal was verraten? Um unersetzlich zu sein, muss man sich von anderen unterscheiden. Wenn der Kerl das nicht kapiert, dann sei froh, dass er weg ist.‹ Inzwischen weiß ich, dass er absolut recht hatte. Es gibt Menschen, die mich lieben, weil ich so bin. Eben anders.«

  Ich umarme sie fester, und Zoé lächelt fröhlich. Jason kratzt sich mit nachdenklichem Blick am Kinn.

  »Ich wusste nicht, dass er ein Poet war.«

  »He, du Idiot«, murrt Zoé, deren Lächeln verschwunden ist. »Kannst du nicht mal für fünf Minuten den Mund halten? Wir geben uns gerade alle der Rührung hin.«

  Violette entspannt die Situation mit einem Lachen.

  »Der Satz ist nicht von ihm, sondern von Coco Chanel. Er hat es mir ein paar Monate später gestanden, als ich wieder einmal davon sprach.«

  »Ich wusste es«, sagt Jason kopfschüttelnd. »Was für ein Schleimer.«

  »Sei bitte endlich still«, fleht Zoé, schließt die Augen und massiert sich die Schläfen.

  Nun schauen meine Freunde mich an. Ich bin an der Reihe, habe aber absolut keine Ahnung, was ich sagen soll. Ethan hat mir in vielen Fragen einen Rat gegeben, besonders in letzter Zeit. Aber darüber will ich nicht sprechen. Ich seufze und denke lächelnd daran, wie wir uns das erste Mal begegnet sind.

  »Es war mein erster Tag auf der Feuerwache. Ich hatte noch mit niemandem Freundschaft geschlossen … Um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht die Absicht, mir Freunde zu suchen. Nach Feierabend ging ich in den Umkleideraum, um mit den anderen Jungs zu duschen.«

  Die kleinen Kreise, die Violette auf meinen Handrücken zeichnet, beruhigen mich und machen mir Mut. Mit einer gewissen Nostalgie sehe ich die Szene erneut vor mir, während die anderen auf die Fortsetzung warten.

  »Ich betrat die Duschkabine im T-Shirt«, gestehe ich, ohne nachzudenken. »Den anderen fiel das natürlich sofort auf. Als ich es auszog und über die Tür hängte, hat es einer von ihnen lachend geklaut. Es war nicht böse gemeint, aber ich sah sofort rot. Oh ja, am liebsten hätte ich sie alle abgemurkst … Nur brachte ich es nicht über mich, die Kabine zu verlassen. Jedenfalls nicht mit nacktem Oberkörper. Also legte ich mir ein Handtuch um und ging hinaus, um dem Kerl gegenüberzutreten. Jetzt kam er sich nicht mehr ganz so schlau vor …«

  Ich lächle, als ich daran denke, wie es weiterging.

  »Ethan nahm ihm das T-Shirt weg, bevor ich dazu kam, warf es mir zu, wandte sich an den Typen und sagte lässig: ›Wenn mein Schwanz aussehen würde wie deiner, würde ich mich in der Dusche nicht über andere lustig machen‹.«

  Violette und Zoé lachen, während Jason seine Faust küsst und hochhält.

  »Big up, Kumpel.«

  »Ich brauche sicher nicht zu sagen, dass mir nach diesem Tag niemand mehr dumm kam. Ethan redete mit mir, als ob es völlig normal wäre, dass ich mein T-Shirt nie ausziehe. Er hat es nie kommentiert.«

  Ich schließe die Augen und erinnere mich an unser letztes richtiges Gespräch. Es scheint nicht lang zurückzuliegen und ist doch schon so weit weg. Nichts wird mehr so sein wie früher.

  »Ethan war ein wahrer Freund«, sage ich schließlich. »Er war loyal, konnte gut zuhören, war lustig und ein kluger Ratgeber. Er wird immer seinen Platz in unserer Mitte behalten.«

  »Ganz sicher«, bestätigt Violette. Ich küsse zärtlich ihre Schläfe.

  »Absolut«, sagt Jason feierlich nickend.

  »Ohne jeden Zweifel«, schließt Zoé und legt ihren Kopf auf Jasons Schulter.

  Ich drücke Violettes Hand, um mich zu überzeugen, dass sie wirklich da ist. Der heutige Tag wird in unseren Herzen für immer ein trauriges Datum bleiben.

  Aber morgen kommt ein neuer Tag.

  34

  Heute

  Violette

  Es geht. Es könnte besser sein, aber es geht.

  Es ist jetzt eine Woche her, dass Ethan nicht mehr bei uns ist. Auch wenn die ersten Tage ziemlich schwierig waren, scheint Loan seinen Tod inzwischen zu akzeptieren. Und das beruhigt mich … Ihn in dem Zustand zu sehen, in dem er sich noch vor wenigen Tagen befand, tat mir in der Seele weh.

  An diesem Morgen beschließe ich, meinen Mitbewohnern etwas Gutes zu tun, deshalb findet Loan mich in der Küche, wo ich zur Musik von Rita Ora die Hüften schwinge.

  Er runzelt die Stirn, als er den köstlichen Geruch von Pfannkuchen à la Violette wahrnimmt. Sie sind das Einzige, was ich richtig zubereiten kann – wenn man das erste Mal außer Acht lässt, als meine Pfannkuchen eher wie sterbende Gespenster aussahen. Seitdem haben sie sogar einen eigenen Namen.

  »Pfanntomes?«, wundert sich mein bester Freund. »Super!«

  Ich lächle und reiche ihm einen Teller. Zu meiner großen Freude trägt er nur eine graue Jogginghose.

  »Das Frühstück für Sieger.«

  »Und vor allem das einzige, das du kannst, oder?«

  Mit grimmigem Blick werfe ich ihm das Geschirrtuch ins Gesicht. Seine Lippen verziehen sich zu einem leicht spöttischen Grinsen, bevor er in seinen Pfannkuchen beißt. Verstohlen sehe ich ihm beim Essen zu. Seit dem Brand haben wir nicht mehr über den Vorfall mit Lucie gesprochen. Ich weiß, dass er mir meinen Fehler verziehen hat, ebenso wie ich ihm die verletzenden Worte verziehen habe, aber trotzdem haben wir das Thema vermieden.

  Schon mehrmals wollte ich die Karten auf den Tisch legen, aber Zoé meinte, es wäre noch nicht der richtige Zeitpunkt.

  »Was hast du heute vor?«, fragt er plötzlich.

  Angesichts seiner ernsten Miene zucke ich die Schultern. Loan weicht meinem Blick aus, bis er seinen Pfannkuchen aufgegessen hat, dann seufzt er.

  »Ich wollte nämlich meine Mutter besuchen.«

  Oh. Ich gebe mich cool, auch wenn ich innerlich juble. Er hatte mir zwar versprochen, mich mal mitzunehmen, aber seitdem sind viele Wochen vergangen und ich hatte es vergessen.

  »Super«, kommentiere ich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.

  »Ja. Nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, habe ich das Bedürfnis, sie zu sehen. Auch wenn es kompliziert ist … sie zumindest ist noch da, und ich will meine Chance nutzen.«

  Ich verstehe zwar nicht alles, aber ich stimme trotzdem zu. Schließlich blickt er auf und fragt mich, ob ich ihn begleiten möchte. Ich will auf keinen Fall zu eifrig wirken.

  »Mit Vergnügen.«

  Er wirkt weniger begeistert als ich, vielleicht sogar ein wenig besorgt, aber das ist mir egal.

  Mir bedeutet dieser Besuch sehr viel.

  »Da ist es.«

  Neugierig betrachte ich das Haus, in dem Loan aufgewachsen ist. Es ist weiß mit roten Fensterläden und einem Dachfenster und sieht so schnuckelig aus, dass ich mir keine Sekunde vorstellen kann, dass drinnen düstere Dinge passiert sein könnten. Eben.

  »Sollen wir … wieder umkehren?«, frage ich verunsichert.

  Er schüttelt den Kopf und öffnet endlich die Fahrertür. Ich steige ebenfalls aus und greife nach seiner Hand. Ich weiß nicht, welche Beziehung er zu seinen Eltern hat, aber ich will ebenso für ihn da sein, wie er es für mich war. Wir überqueren die Straße. Meine Absätze klackern auf dem Asphalt. Alles ist ruhig.

  An der Tür atmet er tief durch und wendet sich mit sehr ernstem Gesicht an mich.

  »Pass auf … Ich weiß nicht, wie es laufen wird. Aber was auch immer passiert, bitte reagier nicht.«

  Misstrauisch durchforsche ich sein Gesicht. Nicht reagieren? Das könnte etwas schwierig werden, weil man mir alles, was ich denke, an der Nasenspitze ablesen kann.
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br />   »Das ist wichtig, Violette«, betont er.

  »Okay … ich reagiere nicht.«

  Loan nickt bestätigend. Wir schweigen für ein paar Sekunden, dann drückt er die Klingel und nimmt meine Hand. Seine ist warm wie immer, und doch nicht so beruhigend wie sonst. Das ist heute ausnahmsweise mal mein Job, den ich gern annehme.

  Mein Herz pocht wild, als sich die Tür öffnet und ein Mann in den Fünfzigern erscheint. Er scheint sehr überrascht, uns zu sehen, und ich erkenne sofort, dass Loan ihn nicht über unser Kommen informiert hat. Das fängt ja gut an …

  »Loan«, grüßt der Mann.

  »Hallo, Papa.«

  Loans Vater betrachtet mich neugierig, sodass ich ihm mein freundlichstes Lächeln schenke. Seltsam. Loan sieht ihm sehr ähnlich; sie haben den gleichen durchdringenden und undurchschaubaren Blick, der Leute wie mich einschüchtert, und auch die gleiche Statur.

  »Das ist Violette. Meine Freundin.«

  »Guten Tag.«

  »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht kommen sollst«, belehrt Loans Vater ihn sanft.

  Okay, ich schätze, die Vorstellungsrunde überspringen wir.

  »Oh, so ist das«, meint Loan gereizt. »Und wann darf ich überhaupt mal kommen?«

  Ich mache mich sehr klein neben den beiden Herren Millet. Ich versuche, mir einen Reim auf das zu machen, was ich höre, aber die Hälfte verstehe ich einfach nicht.

  »Deine Entscheidung. Kommt rein.«

  Loan seufzt tief und greift nach meiner Hand, ohne mich auch nur anzusehen.

  Endlich betreten wir das Haus und Loans Vater schließt die Tür hinter uns. Der Flur ist recht schlicht, mit einem großen Spiegel über einem antiken Möbelstück, auf dem Familienfotos stehen. Auf einigen Bildern erkenne ich Loans Vater am Arm einer wunderschönen jungen Frau. Davon gibt es viele … aber nur eines, das Loan als Kind zeigt: ein Klassenfoto.

  Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass seine Mutter wie ein Engel aussieht.

  »Roseline«, ruft Loans Vater auf dem Weg ins Wohnzimmer. »Dein Sohn ist hier, mein Schatz.«

  Bei den Worten »dein Sohn« zucke ich zusammen, genau wie Loan. Doch der weicht meinem Blick aus und hat seine neutrale Maske aufgesetzt. Schritte nähern sich.

  Eine Frau mit rabenschwarzen Haaren, die so schön ist wie auf den Bildern, erscheint im Türrahmen. Trotz ihrer Schönheit wirkt sie irgendwie müde. Gezeichnet. Sofort weiß ich: Das ist die Frau, die Loan zur Welt gebracht hat. Die Frau, die er am innigsten liebt. Die Frau, die ihn aufgezogen hat und die ihm half, ein Mann zu werden.

  Nur, dass …

  Als sie ihren Sohn sieht, geht sie ruhig auf ihn zu und ohrfeigt ihn mit aller Kraft. Jemand zuckt zusammen und schreit überrascht auf; ich glaube, das war ich. Loans Vater steht mit verschränkten Armen in einer Ecke des Zimmers, während Loan nicht mit der Wimper zuckt. Im Gegenteil, er starrt die Frau, die ihn gerade geschlagen hat, mit einer Mischung aus Schmerz und Scham an. Er schämt sich, dass ich das mit ansehen musste.

  »Hallo, Mama.«

  Ich halte mich im Hintergrund, weil er mich darum gebeten hat, aber leider kann ich mich nicht an einer Reaktion hindern. Ich bin mir bewusst, dass meine Augen weit aufgerissen sind und mein Mund offen steht. Das Verhalten der Frau scheint normal zu sein, aber ich habe das dringende Bedürfnis, einzugreifen und etwas zu tun. Doch genau das wollte Loan nicht. Also zwinge ich mich, einen gleichgültigen Ausdruck aufzusetzen, was mir sehr schwer fällt.

  »Ich bin nicht deine Mutter«, sagt die Frau und mustert ihn von Kopf bis Fuß. »Warum ist er hier?«

  Auf der Suche nach einer Antwort wendet sie sich an ihren Mann, und all das Gute, das ich auf den Fotos erkannt zu haben glaubte, verflüchtigt sich.

  »Er kommt dich besuchen, Liebste.«

  »Hör auf, hör auf, hör auf, so etwas zu sagen!«, empört sie sich. »Hältst du mich für blöd? Ihr seid Lügner. Hört auf, euch in meinem Kopf breitzumachen!«

  Plötzlich unterbricht sie sich und zeigt ein Lächeln, bei dem sich mir der Magen umdreht, ehe ihr Gesicht wieder wütend wird. Es braucht nicht mehr, damit ich verstehe. Ich habe mal eine Doku über diese Krankheit gesehen. Gegensätzliche Gefühle, absurde Wahnvorstellungen … Mein Gott.

  Sie zeigt auf Loan und schimpft:

  »Verschwinde aus meinem Kopf, ich habe es dir schon einmal gesagt!«

  Er schließt die Augen und wendet sich ab; offenbar ist er daran gewöhnt. Trotzdem ahne ich, dass es ihm wehtut, sehr weh sogar. Und ich habe absolut keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.

  »Ganz ruhig, Mama. Weißt du noch, was wir neulich gesagt haben?«, spricht er sie mit klarer und gelassener Stimme an. »Ich bin es, Loan. Nur Loan. Ich will dir nichts tun, und Papa auch nicht.«

  Sie blickt ihn vorsichtig an. In ihren Augen schimmern Zweifel. Sie will ihm gerade antworten, als sie mich plötzlich wahrnimmt. Ich zittere am ganzen Körper, als ich ihre riesigen Pupillen sehe, die mich wie eine Beute fixieren. Auch Loan erstarrt und dreht sich instinktiv zu mir.

  »Und die da? Wer ist sie?«

  »Eine Freundin. Violette. Sie tut dir auch nichts.«

  Loans Mutter beäugt mich, runzelt die Stirn und murmelt vor sich hin:

  »Sie ist hübsch … Ja, aber bestimmt haben sie das absichtlich gemacht, um dich zu besänftigen … Ich weiß … Sei vorsichtig, glaub ihnen nicht …«

  Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass sie mit sich selbst spricht. Klassisch. Argwöhnisch betrachtet sie mich von Kopf bis Fuß. Obwohl ich mir nichts vorzuwerfen habe, fühle ich mich unter dem Gewicht ihres Blicks seltsam schuldig.

  Mit schmerzerfüllter Stimme fährt Loan fort:

  »Ich will nur mit dir reden, Mama. Ich werde dich nicht einmal berühren.«

  Er versucht, sie zu beruhigen, indem er die Hände hebt. Wir weichen einen guten Meter zurück, um ihr Sicherheit zu geben. Fast sofort lässt ihre Unruhe nach, doch nach wie vor beäugt sie mich stur. Die Mutter meines besten Freundes nickt mehrmals – keine Ahnung, an wen sie sich richtet – und brabbelt vor sich hin. Schließlich rät Loan mir ganz leise, mich hinzusetzen. Ich lasse mich in einen Sessel gleich neben mir sinken, Loan bleibt stehen.

  »Ich freue mich, dich zu sehen«, sagt er und spielt mit seinen Fingern. »Ich wollte neulich schon einmal vorbeikommen, aber Papa hat gesagt, dass du ein Nickerchen machst. Geht es dir besser?«

  »Ja. Ich musste schlafen«, sagt sie ruhig, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Nachts kann ich nicht schlafen.«

  »Wieso? Warum schläfst du nachts nicht?«, erkundigt sich Loan besorgt.

  »Weil ich beobachtet werde. Wenn ich einschlafe, werden sie das ausnutzen. Das weißt du doch.«

  Loan fragt nicht, von wem sie spricht oder warum sie denkt, dass sie beobachtet wird. Ich schätze, er hat die Frage schon viel zu oft gestellt. Erschüttert verkrieche ich mich in meinem Sessel und rühre mich nicht. Das hier habe ich wirklich nicht erwartet … Aber warum ist sie nicht in Behandlung, wenn ihre Paranoia sie so erheblich beeinträchtigt?

  »Niemand spioniert dich aus, Mama. Das sind nur unsichtbare Ängste. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Du bist krank.«

  »Wenn ich dir doch sage, dass ich sie gesehen habe!«, ruft sie den Tränen nah. »Und ich bin sicher, dass du dazugehörst. Deshalb versuchst du auch, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Du gehörst zu ihnen. Du bist nicht der, als der du dich ausgibst. Sie haben mir meinen Sohn weggenommen, als ich fünfundzwanzig war … sie haben ihn mir weggenommen, das weiß ich, weil über Nacht plötzlich alles anders war. Von einem Tag auf den anderen warst du da und hast die Rolle meines Kindes übernommen! Ich hasse dich …«

  Ihr Mann versucht sie mit leiser, flehender Stimme zu beruhigen, aber sie stößt auch ihn weg. Loan reagiert nicht, zumindest bemüht er sich.

  »Sie haben meinen Sohn gegen dich ausgetauscht!«, wiederholt sie und zeigt mit dem Finger auf ihn. »Du siehst nicht aus wie mein Sohn! Er war so süß und so klein …«


  »Ich bin immer noch derselbe, Mama, das siehst du doch.«

  Mir ist klar, dass es sinnlos ist, zu argumentieren. Wenn sie tatsächlich unter Schizophrenie leidet, ist es unmöglich, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen. Sie wird unbeirrbar an ihren Wahn glauben, auch wenn es keinerlei Sinn ergibt.

  »Dann haben sie dir etwas in den Kopf getan! Und sie haben dich beauftragt, dasselbe mit mir zu tun. Ich habe sie gesehen, ich sage es dir! Und sie da, sie ist nur da, um mich zu besänftigen …«, fügt sie hinzu und spuckt in meine Richtung. »Ich bin sicher, sie kann erraten, was ich denke, ich spüre es.«

  Loan seufzt und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Ich habe plötzlich ein sehr schlechtes Gewissen. Was habe ich mir dabei gedacht, ihn dazu zu bringen, hierherzufahren und mich auch noch mitzunehmen? Er tut mir so leid … Ich will aufstehen, um beruhigend nach seiner Hand zu greifen, aber ehe ich ihn erreiche, stürzt seine Mutter sich auf mich.

  »Nein!«, ruft Loan.

  Ich spüre Fingernägel, die sich in meinen Arm krallen und mich mit so viel Kraft nach vorne ziehen, dass ich ins Stolpern gerate, während Loans Mutter aus voller Kehle schreit: »Gebt mir meinen Sohn zurück, ihr Schweine!« Loans Vater stürmt auf sie zu und versucht sie hochzuheben, aber ihre Nägel stecken tief in meinem Fleisch. Mir entfährt ein schmerzliches Stöhnen. In ihren Augen kann ich erkennen, wie sehr sie mich hasst. Dass sie mir wehtun will. Dass sie mich am liebsten sofort töten würde. Ich sehe es so klar, dass ich mich nicht mehr rühren kann und zutiefst verängstigt in die Knie gehe.

  »Das reicht!«

  Plötzlich stößt Loan mich mit aller Kraft nach hinten. Seine Mutter lässt meinen Arm los und ich stürze mit einem dumpfen Schlag. Scheiße … Ich greife mir an den Kopf, der auf dem Boden aufgeschlagen ist, und ignoriere meinen brennenden Arm. Ich bin völlig benommen. Loan beugt sich voll Sorge über mich.

  »Steh auf«, sagt er totenblass.

  Mit schmerzendem Arm greife ich nach seiner Hand und richte mich fügsam auf. Meine Beine zittern. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Loans Mutter tobt in den Armen ihres Mannes und überhäuft ihn mit Beleidigungen, während sie immer wieder klagt: »Gebt mir meinen Sohn zurück!« Die Szene ist so herzzerreißend, dass ich nicht weiß, ob ich die Frau fürchten oder bemitleiden soll.

 

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