Book Read Free

[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 10

by Kiefer, Lena


  Ich war gerade dort angekommen, als ich ein Brummen hörte, das bald zu einem Röhren anschwoll. Es klang fast wie … eine FlightUnit? Ungläubig runzelte ich die Stirn. Die durften nur noch vom Militär und den engsten Vertrauten des Königs benutzt werden. Was konnte sie hier wollen?

  Ich lief ans Fenster und spähte in das Innere des Stadions. Die FlightUnit war bereits gelandet, eine große schwarze Masse auf dem grauen Rasen. Die Aggregate liefen noch, ihre Scheinwerfer beleuchteten grell den Rasen und blendeten mich, sodass die Unit selbst für mich im Schatten lag. Doch dann schalteten sie die Lichter aus und ich konnte mehrere Personen erkennen. Sie kamen die Rampe der FlightUnit herunter, liefen über den Rasen, in ihrer Mitte einen Behälter, groß genug, dass sie ihn zu viert schleppen mussten. Das war aber nicht das Seltsamste daran.

  Die Männer und Frauen dort unten trugen weder Uniformen oder militärische Schutzkleidung noch hatten sie Waffen im Anschlag. Stattdessen waren sie so gekleidet wie Kandidaten, mit unterschiedlicher Trainingskleidung und farbigen Schuhen, bis hin zu den Nummern an ihrer Kleidung. Aber die Art, wie sie den Behälter in einer perfekten Formation abschirmten, sagte mir, dass es keine Bewerber waren. Sie bewegten sich anders, sehr viel kontrollierter und präziser, es gab keinen unbedachten Schritt, keine Bewegung zu viel, keinen Blick zu wenig. Als einer von ihnen hochsah, duckte ich mich blitzschnell unter das Fenster. Ein unangenehmes Prickeln kroch mir den Rücken hinauf. Das waren keine Turncoats oder Grünjacken, sondern irgendetwas anderes. Wer so harmlos aussehen wollte, war es auf keinen Fall. Die sind sicher nicht hier, um bei der Essensausgabe zu helfen.

  Erst als ich hörte, dass die FlightUnit abhob, wagte ich es, wieder aufzutauchen. Unten lag das Stadion nun verlassen und dunkel da, niemand war mehr dort. Kurz überlegte ich, ob ich besser wieder ins Bett gehen und das alles vergessen sollte. Dann siegte die Neugier – und der Ehrgeiz. Was immer mit der FlightUnit angekommen war, hatte mit unseren Tests zu tun. Vielleicht konnte ich Jye und mir einen Vorteil verschaffen, indem ich einen Blick riskierte.

  Ich hatte keine Ahnung, wohin die Gruppe mit dem Behälter gegangen war, aber sie würden kaum dorthin unterwegs sein, wo gerade zweihundert Kandidaten schliefen. Also folgte ich dem Hauptkorridor, der das Oval einmal umrundete. Bald kam ich in den ungenutzten Teil der Stadionräume. Hier war die Beleuchtung ganz ausgeschaltet, nur das Mondlicht warf einen schwachen Schein durch die Tribünenfenster.

  Auf meinem Stockwerk war nichts zu sehen, also ging ich vorsichtig eine Treppe hinunter, dann die zweite. Nach der dritten hörte ich auf zu zählen. Es gab immer noch kein Licht und nun auch keine Fenster mehr, also tastete ich mich halb blind vorwärts. Das Gute war, dass mich so niemand sah. Das Schlechte war, dass ich nicht erkennen konnte, ob mir jemand begegnete.

  Lange gab es jedoch keinen Hinweis darauf. Es war still, eigenartig still. Sie konnten doch nicht einfach verschwunden sein. Hatten sie das Stadion schon wieder verlassen?

  Meine dünne Trainingsjacke hielt die Kälte nicht ab, aber ich zog zumindest den Reißverschluss bis zum Hals hoch. Da hörte ich etwas. Es war ein tiefes, dumpfes Pochen, das hallte wie der Schlag eines riesigen Herzens. Ein unheimlicher Puls, der durch die Eingeweide des Stadions hämmerte wie ein Erdbeben. Es waren Schritte – viele Schritte in der gleichen Frequenz und Intensität. Das mussten mindestens hundert Soldaten sein, die anscheinend gerade durch das Gebäude marschierten.

  Der Rhythmus der Schritte vibrierte in meiner Magengrube und mir wurde übel. Trotzdem setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich lief immer weiter in die Dunkelheit hinein, eine Hand an der Wand, die andere schützend vor mir. Ich glaubte nicht, dass ich mich gegen diese Leute verteidigen könnte. Einen von ihnen umzurennen, wäre aber auch keine gute Idee.

  Bald wurde es heller, schwaches Licht tauchte die Gänge in unnatürliches Blau. Es war anders als die Notbeleuchtung, diffuser und kälter. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem Tiefsee-U-Boot mit Unmengen Wasser über mir. Ein Geruch nach Chemikalien und Feuchtigkeit stach mir in die Nase.

  Das pochende Geräusch war nun näher, beinahe greifbar. Eine Kreuzung tauchte vor mir auf, beliebig grau wie alle anderen davor. Gänge zweigten nach rechts und halb links ab. Ene, mene, muh. Ich zählte aus, dann schlug ich den linken Weg ein.

  Ich ging schneller, um die nächste Ecke, dann um eine zweite. Der Gang wurde breiter, auf dem Boden waren Markierungen hinterlassen worden. Striche, Buchstaben und Zahlen schimmerten im blauen Licht. Ich bildete mir ein, Schatten zu sehen, begann zu rennen, atmete schwer in der trockenen Luft. Alle Wände sahen gleich aus, es kamen keine Abzweigungen mehr, aber ich lief weiter. Zu spät erkannte ich, dass ich mich an der letzten Kreuzung falsch entschieden hatte.

  Das Pochen war noch da, laut und unnachgiebig in meinem Rücken. Aber neben, über und vor mir war nichts als grauer Beton. Ich saß in der Falle.

  Es gab drei Möglichkeiten: Fliehen, verstecken oder lügen.

  Lügen – vergiss es. Egal, was du sagst, sie schmeißen dich achtkantig raus.

  Fliehen – wenn du so schnell laufen kannst, dass du vor ihnen die Abzweigung erreichst, bitte.

  Verstecken – in einem Gang ohne Fenster oder Türen? Viel Glück.

  Fazit: Ich bin geliefert.

  Ich sah mich dennoch um, scannte Wände, Boden und Decke. Aber es gab keine Nischen oder Lüftungsschächte, keine abgehenden Türen oder Notausgänge. Ich sah auch keine Klinken, Griffe oder Schaltpanels. Die einzige Unebenheit in dem glatten, perfekten Wandmaterial war eine senkrechte, fingerbreite Spalte, die bis zur Decke führte. Ich legte die Hand darauf und spürte einen Luftzug. Probeweise drückte ich gegen den Beton. Nichts. Ich dachte an das Fenster in der Lagerhalle und versuchte es mit einem Schlag. Nichts – außer einer schmerzenden Hand. Wäre ja auch zu schön gewesen.

  Hinter mir schwoll das Geräusch der Schritte an, mein Herz hämmerte doppelt so schnell. Ich sah Schatten im blauen Licht. Drei Sekunden und man würde mich entdecken.

  Zwei Sekunden.

  Eine Sekunde.

  Plötzlich spürte ich eine Bewegung hinter mir, aber ich schaffte es nicht schnell genug, mich umzudrehen. Ein Arm packte mich und umschloss meinen Körper wie ein Schraubstock, eine Hand hielt mir Mund und Augen zu. Am Rücken spürte ich einen muskulösen Oberkörper.

  »Halt still und sei ruhig.« Es war ein Flüstern, männlich, eher jung. Ich wurde ein Stück über den Boden gezerrt, es raschelte, etwas Schweres wurde auf dem Beton entlanggeschoben. Die fremden Hände verschwanden, jemand entfernte sich mit leisen Schritten. Als ich die Augen öffnete, war ich allein.

  Ich stand in einer Kammer, kaum größer als eine halbe TransUnit. Es roch nach Plastik und steriler Luft, Licht fiel nur durch den Türspalt herein. Ich konnte weiße Behälter erkennen, wie man sie zum Verpacken von technischem Equipment verwendete. Ich hatte so etwas seit sechs Jahren nicht mehr gesehen.

  Man hatte mich nicht eingesperrt, auch nicht gefesselt oder geknebelt. Außerdem hatte die Stimme gesagt, ich solle mich ruhig verhalten. Aber das bedeutete, jemand wollte mich retten. Nur, wer hätte das tun sollen – und warum? Außer Jye hatte ich hier keine Verbündeten.

  Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg um die Behälter herum und sah durch den Türspalt. Der Raum nebenan war groß und hatte hohe Decken, die bis in das Stockwerk darüber reichen mussten. In seiner Mitte stand ein Raum im Raum, als wäre es eine Theaterkulisse. Die äußere Hülle war massiv wie bei einem Tresor, durchbrochen nur durch eine breite Türöffnung. Aber innen sah es anders aus.

  Inmitten der sterilen Umgebung war ein gemütliches Zimmer aufgebaut. Ich sah einen roten flauschigen Teppich und einen alten Schreibtisch aus dunklem Holz. An den Wänden standen passende Bücherregale mit Lampen, die sanftes Licht abgaben. Fast erwartete ich einen englischen Adeligen im Morgenmantel, der die Pantoffeln abstreifte und es sich gemütlich machte.

  Soldaten konnte ich keine entdecken, offenbar hatten sie keinen Zutritt zu diesem Bereich, sondern waren vor der Tür geblieben. Um das aufgebaute Zimmer herum waren nur noch zwei der Leute zu sehen, die ich im Innenraum des Stadions beobachtet h
atte. Sie hatten die Jacken ausgezogen und liefen jetzt in schwarzen Funktionsshirts herum, die ihre körperliche Fitness sehr deutlich erkennen ließen. Einer von ihnen hob gerade einen schwarz schimmernden würfelförmigen Gegenstand aus dem Behälter und setzte ihn in eine Vorrichtung, die sich hinter dem Jane-Austen-Gedächtniszimmer befand und über unzählige Anschlüsse damit verbunden war. Der andere installierte eine Konsole und überprüfte dann etwas in dem gemütlichen Raum. Sie redeten kaum miteinander während der Arbeit, wie versierte Techniker. Aber dazu waren sie definitiv zu gut in Form – und als einem von ihnen das Shirt hochrutschte, sah ich ein Holster mit einer Waffe. Meine Verwirrung wuchs. Wer zur Hölle seid ihr?

  Mein Blick fiel auf den Würfel, von dem mich die beiden Männer der Spezialeinheit – ich war mir sicher, dass sie zu einer gehörten – abgelenkt hatten. Er war groß, wirkte massiv und nicht unbedingt technisch, aber die Anschlüsse zeigten, dass er das war. Der Anblick ließ in meinem Gedächtnis für Millisekunden einen Funken aufleuchten. Ich hatte so etwas schon einmal gesehen, konnte mich aber nicht erinnern, wann und wo. Die Erinnerung musste sich irgendwo im dunklen Teil meines Gehirns vor mir verstecken.

  Nachdem das Duo seine Arbeit beendet hatte, schlossen sie den heimeligen Raum, und die massive Tür rastete mit einem endgültigen Schnalzen ein. Als einer der beiden direkt an meinem Versteck vorbeilief, trat ich eilig einen Schritt zurück. In meinem Kopf arbeitete es.

  Der Raum sah nicht nur aus wie ein Tresor. Das war ein Tresor. Aber wofür brauchte man hier so etwas? Was konnte dieser schwarze Würfel sein? Und wer hatte dafür gesorgt, dass ich das alles sehen konnte?

  »Dreh dich um«, hörte ich die gleiche flüsternde Stimme wie vorhin. Einen Moment war ich versucht die Tür aufzureißen, um zu sehen, wer es war. Aber dann gehorchte ich. Licht drang in den Raum und jemand hielt einen SubDerm-Injektor an meinen Hals. Es zischte und alles schrumpfte zu einem winzigen Viereck. Arme fingen mich auf, bevor ich zu Boden fiel.

  

  »Dahamsimirabadasgutezeuggebn …« Ein unverständliches Brabbeln kam aus meinem Mund, als ich wieder wach wurde.

  »Was hast du gesagt?« Ich erkannte Jye vor mir. Draußen schien die Sonne, er war bereits angezogen.

  »Nichts«, nuschelte ich und rieb mir den Kopf. »Wann … wann bin ich zurückgekommen?« Und wer hatte dafür gesorgt?

  »Zurückgekommen? Warst du weg?« Jye warf mir meine Sachen zu und stellte einen Muffin auf meine Bettdecke. »Komm, beeil dich. In zehn Minuten fangen die Intelligenztests an.«

  Schlagartig war ich hellwach. »In zehn Minuten? Wieso hast du mich nicht eher geweckt?«

  »Ich habe es versucht. Aber du hast geantwortet, dass du dein Frühstück ausfallen lässt und lieber länger schläfst.«

  »Das habe ich gesagt? Daran erinnere ich mich gar nicht.« Allerdings erinnerte ich mich sehr gut an den Teil der Nacht, bevor ich betäubt worden war. An das blaue Licht, die Soldaten, den Tresor, den schwarzen Würfel und meinen Retter. Nichts davon ergab Sinn.

  »Ja, du warst ziemlich durcheinander. Ist alles in Ordnung mit dir?« Jye musterte mich besorgt.

  »Natürlich. Alles super.« Ich bemühte mich um einen hellwachen Gesichtsausdruck. »Ich habe geträumt, dass ich nachts durch das Stadion gelaufen bin, deswegen war ich verwirrt. Danke fürs Wecken. Wir sehen uns später.«

  Ein letzter beunruhigter Blick, dann nickte Jye und verließ das Zimmer.

  Ich stand auf, zog mich an, schaufelte mir einen Schwung Wasser ins Gesicht und bändigte meine Haare. Dann verpasste ich mir eine reduzierte Dosis und legte den Injektor wieder unten in meine Tasche. Wie immer spürte ich Bedauern, als das Serum durch meinen Blutkreislauf jagte und meine Welt etwas weniger farbig machte. Für den IQ-Check wäre es besser gewesen, ich hätte es gar nicht genommen. Allerdings wäre ich dann noch vor dem Mittagessen zusammengebrochen.

  Meine Prüfung war in einem Raum im dritten Stock und ich rannte dorthin. Durch meinen Kopf wirbelten die Bilder der letzten Nacht. Ich wusste immer noch nicht, wo ich einen solchen Würfel schon einmal gesehen hatte. Wahrscheinlich war es lange vor der Abkehr gewesen.

  »Hey du! Wo ist deine Nummer?«

  Ich bremste ab und sah in das Gesicht eines Grünjackenträgers mit spärlichem roten Bart. Vorwurfsvoll deutete er auf meinen Ärmel.

  »Oh, das –«, setzte ich zu einer Erklärung an, wurde aber rüde unterbrochen.

  »Name und Kennung?«

  Ich seufzte und legte mein Handgelenk frei. »Ophelia Scale, OS-14873-1204.«

  Er hielt mir den ID-Tracker an den Arm und suchte auf seinem Pad nach meinem Eintrag.

  Und suchte.

  Und suchte.

  »Hören Sie, ich muss wirklich dringend zu meinem nächsten Test«, sagte ich mit einem angestrengten Lächeln. »Ich hole meine Nummer danach, okay?«

  »Nein, nicht okay.« Er schüttelte den Kopf. »Niemand darf ohne Nummer herumlaufen. Das ist gegen die Vorschrift.« Er suchte weiter.

  »Fitzpatrick?« Ein Kollege rief nach meinem Bewacher. »Ich brauche dich im vierten Stock. Da haben zwei angefangen, sich zu prügeln.«

  »Ich habe hier zu tun«, widersprach Fitzpatrick. »Sie trägt keine Nummer.«

  »Ich kümmere mich darum. Geh, sofort.«

  Die Stimme klang autoritär. Fitzpatrick drückte seinem Kollegen das SmartPad in die Hand und ging zur Treppe.

  »Ophelia, richtig?«, fragte die andere Grünjacke. »Warum fehlt deine Nummer?«

  Ich hob den Blick und erkannte den viel zu gut aussehenden Mann vom Appell, diesmal ohne Kappe auf seinen sandfarbenen Haaren. Ausgerechnet ein Gesandter des Königs musste mitbekommen, dass ich mich nicht an die Vorschriften hielt? Ich unterdrückte ein weiteres Seufzen.

  »Sie ist in meinem Zimmer. Ich habe gestern eine andere Jacke getragen und vergessen, die Nummer an dieser hier zu befestigen.«

  Er maß mich mit einem Blick, der mich bis auf den Grund meiner Seele zu durchleuchten schien. Dann nickte er. »In Ordnung. Geh zum Test. Ich regle das.«

  Lautlos stieß ich die Luft aus, die ich angehalten hatte. »Danke.« Ich wollte schon loslaufen, aber er hielt mich auf.

  »Eine Sache noch, Ophelia.«

  »Ja?«

  »Bitte halte dich in Zukunft an die Vorschriften, ja? Keine Extratouren mehr.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern ging und ließ mich stehen.

  Ich hatte so eine Ahnung, dass es im vierten Stock keine Prügelei gab und mit den Extratouren nicht meine fehlende Nummer gemeint war. Aber wieso war ich dann noch hier? Im Keller herumzuschleichen, war sicher ein Grund, um aussortiert zu werden. Streng geheime Operationen irgendwelcher Spezialeinheiten zu beobachten erst recht.

  Als ich mich endlich in Bewegung setzte, war ich verwirrter denn je.

  12

  Der Intelligenztest zog an mir vorbei, ebenfalls die Gruppenphase. Wir machten verschiedene Rollenspiele und entwickelten am Ende eine Strategie, um den König in bestimmten Situationen zu schützen. Man beobachtete uns, schrieb eifrig Kommentare auf Listen und entließ uns schließlich. Die Begegnung mit dem Vertreter des Königs schien mir nicht geschadet zu haben: Die Wertung nach dem Mittagessen zeigte mich unter den ersten zehn. Als wir auf die Abschlussprüfung warteten, machte ich mir keine Sorgen mehr, dass mein nächtlicher Ausflug zum Problem werden würde.

  Man hatte uns eine Loge im oberen Teil des Stadions zugewiesen und um Geduld gebeten. In unregelmäßigen Abständen wurde jemand abgeholt, manchmal nach zehn Minuten, manchmal erst nach einer halben Stunde. Wir waren noch etwa dreißig Leute, alle angespannt und nervös. Eines der Mädchen ging bereits zum vierten Mal zur Toilette, Troy lief am Fenster auf und ab. Jye saß neben mir, blass und in sich gekehrt. Als er aufsah, lächelte ich ihm zu. Er erwiderte es nur schwach.

  Ich war absolut sicher, dass die Abschlussprüfung etwas mit dem schwarzen Würfel zu tun hatte. Aber ich wusste immer noch nicht, was sich darin befand. Deswegen hatte ich Jye auch nichts gesagt. »Ich habe einen Würfel in einem Raum aus der Zeit des Britischen Empire gesehen« würde ihm kaum weiterhelfen.

  Ich hatte wieder damit
angefangen, mir das Hirn zu zermartern, als man Geschrei hörte. Jemand rief »Da unten!« und zeigte aus dem Fenster. Ich sprang auf und lief mit den anderen hinüber.

  Unten im Stadion bot sich ein kurioses Bild. Fünf Grünjacken und ein Anzugträger verfolgten ein rothaariges Mädchen durch die Sitzreihen der Tribüne. Es rannte wie der Teufel.

  »Dad!«, brüllte es, »Dad, wo bist du! Sie haben gesagt, dass dir nichts passiert!« Es sprang über die Reihen hinunter Richtung Stadionmitte, stolperte über die Balustrade und fiel. Die Grünjacken holten es ein, packten es, aber das Mädchen schrie und riss sich los. Es kam bis zur Mitte des Rasens, dann blieb es stehen, und ich konnte sein Gesicht sehen. Es war verzweifelt und panisch, so als hätte das Mädchen etwas Fürchterliches gesehen. Noch einmal rief es nach seinem Vater. Dann brach es zusammen.

  »Bitte gehen Sie von den Fenstern weg«, ermahnte uns die Stimme der Aufsicht.

  »Was ist mit ihr passiert?«, fragte jemand.

  »Das wissen wir nicht. Die Abschlussprüfung ist sehr anspruchsvoll. Vielleicht war es zu viel für sie.«

  »Aber Sibyls Vater lebt gar nicht mehr«, sagte ein Mädchen neben mir. »Sie hat mir erzählt, dass er vor einigen Jahren gestorben ist.«

  Alle redeten durcheinander, aber ich wechselte einen stummen Blick mit Jye. In seinen Augen stand die blanke Angst. Seine Eltern waren auch tot. Wenn dieses Mädchen den Tod ihres Vaters wieder hatte durchleben müssen, was bedeutete das für ihn?

  »Das muss nichts heißen«, sagte ich leise, und er nickte, obwohl er mir bestimmt kein Wort glaubte. Ich tat es ja selbst nicht. Aber das Verhalten von Sibyl hatte die Zahnräder in meinem Kopf in Gang gebracht.

  Der Raum unter dem Stadion.

  Die Sicherheitsvorkehrungen.

  Die Soldaten.

 

‹ Prev