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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 11

by Kiefer, Lena


  Die leeren Schutzbehälter für technisches Equipment.

  Der schwarze Würfel.

  Endlich lieferte mein Gehirn einen Gedanken – so klar, als hätte ich meine Dosis nie genommen. Für einen Moment vergaß ich das Atmen.

  Heilige Scheiße.

  Als ich hochsah und Jye suchte, ging er gerade zusammen mit einem Anzugträger aus der Tür. Ich stürzte hinterher. Zum Glück hatte unsere Aufsicht alle Hände voll zu tun und achtete nicht auf mich.

  »Jye!«

  Er war schon auf halbem Weg zur Treppe und drehte sich um. Sofort traten der Anzugträger und eine Grünjacke zwischen uns.

  »Keine Unterhaltungen mehr vor der Abschlussprüfung.«

  »Ich will ihm nur Glück wünschen«, sagte ich und lächelte. Die Grünjacke verdrehte die Augen und machte einen Schritt zurück.

  »Wenn es sein muss.«

  Schnell umarmte ich Jye.

  »Du musst aussteigen«, flüsterte ich in sein Ohr.

  »Was? Aber –«

  »Nichts aber. Geh mit nach unten und sag ihnen dann, du hast es dir anders überlegt. Bitte, ich flehe dich an. Die benutzen eine … etwas, gegen das du keine Chance hast.«

  Er ließ mich los und starrte mich an. Ich sah, dass er mir glaubte.

  »Was ist mit dir?« Seine Stimme war dünn.

  »Ich komme nach.«

  »Versprich es mir.«

  »Ich –«

  »Jetzt ist aber Schluss mit dem Gesäusel. Wir haben straffe Zeitpläne.« Die Grünjacke kam näher und ich drückte Jyes Hand ein letztes Mal. Dann ließ ich ihn gehen. Als er mit seiner Eskorte um die Ecke verschwand, drehte ich mich um und sprintete los.

  Mein Zimmer war zwei Stockwerke unter den Logen, und ich wusste, dass man mich bald vermissen würde. Ich rannte, rutschte auf dem glatten Boden aus, schlug schmerzhaft gegen die Wand, rannte weiter. Ich hatte zwei Möglichkeiten. Entweder ging ich den gleichen Weg wie Jye und gab auf – oder ich trat gegen den schwarzen Würfel an. Unter allen Mitgliedern von ReVerse war ich die Einzige, die dieses Ding vielleicht überlisten konnte.

  Meine gepackte Tasche stand vor dem Bett. Ich fiel auf die Knie, wühlte in meiner Kleidung und fand schließlich eine kleine Dose aus Metall. Darin lagen zehn gelbe Kapseln. Ich nahm eine heraus, schob sie mir hinten auf die Zunge und schluckte sie hinunter. Hoffentlich war noch genug Zeit. Es würde eine Weile dauern, bis sie wirkte.

  Als ich zu den Logen zurückkam und wieder in den Raum schlüpfte, beruhigte sich die Gruppe gerade. Niemand kommentierte mein Verschwinden. Ich setzte mich auf einen Stuhl nahe der Tür, schloss die Augen und dachte an Jye. Seine Sachen hatten noch im Zimmer gestanden, aber bald würde er sie holen und heimfahren. Das war gut. Er war in Sicherheit.

  Meine Mitstreiter wurden nach und nach abgeholt, der Raum leerte sich. Ich schloss die Augen und wartete. Als ich aufgerufen wurde, öffnete ich sie wieder und entdeckte Fussel auf dem Sakko des Anzugträgers. Viele Fussel. 162 Fussel in 34 Farben und unterschiedlicher Größe, dazu 12 Haare und 23 Krümel. Ich atmete auf.

  Die Kapsel wirkte. Mein Gehirn hatte sich von seinen Ketten befreit.

  Es hatte begonnen, als ich drei Jahre alt gewesen war. Ich war immer lebhaft und aufmerksam gewesen, aber irgendwann hatten meine Eltern erkannt, wie detailliert ich beobachtete – und wie scharf ich schlussfolgern konnte. Ich löste mit drei Jahren logische Aufgaben für Erwachsene, erkannte Strukturen, die nicht einmal mein Vater sah. Ich konnte mir alles merken, mich an alles erinnern, alles analysieren.

  Aber es gab eine Kehrseite. Ich erinnere mich an ein Gespräch meiner Eltern, als sie geglaubt hatten, ich wäre im Bett.

  »Andrew, das ist nicht normal. Kein Kind in ihrem Alter ist derart weit.«

  »Ich sehe das Problem nicht, Cécile. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass es sie beeinträchtigt.«

  »Nein? Wie soll sie denn je in eine reguläre Schule gehen oder mit normalen Kindern umgehen? Ophelia ist vier Jahre alt und hilft dir bei deiner Forschung! Eneas wirkt neben ihr wie ein Höhlenmensch.«

  Mein Vater hatte sich entspannt zurückgelehnt. »Sie hat nun einmal diese Fähigkeiten. Sollen wir sie ihr wegnehmen?«

  »Diese Fähigkeiten sind nur eine Folge meiner genetischen Optimierung – keine Gabe, die vom Himmel gefallen ist. Und irgendwann wird es sich gegen sie wenden.«

  »Das wissen wir nicht genau. Sie könnte auch ein Genie werden. Eine von den ganz Großen.«

  »Sei nicht so verflucht naiv, Andrew! Wir müssen das untersuchen. Sie kriegt in drei Wochen ihre ersten InterLinks, vorher muss das geklärt sein. Wenn du es nicht tust, mache ich es.«

  Meine Mutter hatte recht behalten. Bald nach diesem Gespräch fingen meine Kopfschmerzen an, kurz darauf die Sehstörungen. Kein verfügbares Modell der InterLinks hielt der Kapazität meines Gehirns stand, also ließ man sie weg. Aber auch ohne sie konnte ich bald nichts mehr tun, weil die Reize mein Nervensystem überwältigten. Ich übergab mich bei Familienausflügen, brach beim Zähneputzen zusammen, hatte immer öfter Schmerzattacken und Ausfälle. Die Ärzte waren ratlos, so etwas hatten sie noch nicht erlebt und verkannten, dass es die Folge der genetischen Optimierung meiner Mutter war. Gängige Medikamente halfen mir nicht und bei einem Kind wollte man nicht mit Stoffen für Erwachsene experimentieren. Deswegen musste ich mit den Attacken leben.

  Mein Vater aber wollte sich nicht damit abfinden, also hatte er angefangen, an speziellen InterLinks zu arbeiten, neben seiner Arbeit, meistens nachts. Er hatte an seinem Holodesk gesessen, geflucht und neu angefangen, immer und immer wieder. Nach über einem Jahr und unzähligen Fehlschlägen war er erfolgreich.

  Der Tag, als er mir die Links einsetzte, war der schönste in meinem Leben. Nicht nur, dass sie die Belastung aushielten, sie taten noch mehr: Über eine neuronale Schnittstelle kanalisierten sie meine Gedanken und ließen mein Gehirn so gut funktionieren wie noch nie. Ich konnte das Beste aller Leben führen – gleichzeitig hochbegabt und vollkommen normal.

  Bis zur Abkehr.

  Es war eine der beschämendsten Erinnerungen meines Lebens: mein großartiger, hochintelligenter Dad, der einen grobschlächtigen Niemand in blauer Jacke anflehte, seiner Tochter die InterLinks nicht wegzunehmen. Die Antwort war eindeutig gewesen: »Keine Ausnahmen.« Kein Mitgefühl, kein Verständnis, keine Ausnahmen. Das ungeschriebene Motto der Abkehr.

  Ich hatte wie alle anderen in eine von hundert aufgereihten weißen Kabinen mit dem Zeichen der Lilie gehen müssen. Dort hatte eine Ärztin mir meine InterLinks und das neuronale Implantat entfernt. Sie war grob gewesen, dafür hatte ich ihr auf den Kittel gekotzt. Ausgleichende Gerechtigkeit.

  Wie die Medikamente ins Spiel gekommen waren, wusste ich nicht mehr. Die meiste Zeit hatte ich im abgedunkelten Zimmer gelegen und prähistorische Tabletten bekommen, die meine Schmerzen ein bisschen dämpften. Eines Tages kam meine Mutter mit einem SubDerm-Injektor zu mir und sagte, dass sie mithilfe eines Kollegen etwas gefunden hatte, das mir helfen würde. Es war ein Medikament, das sie HeadEase taufte, damit wir es als Migränemittel tarnen konnten. Ich nannte es HeadLock, weil es nichts anderes als ein Gefängnis war.

  Das Mittel dämpfte meine Intelligenz auf ein halbwegs normales Maß und sorgte dafür, dass ich ohne Probleme leben und denken konnte. Manchmal senkte ich die Dosis für meine ReVerse-Aufträge oder hatte Glück wie beim Kampf gegen die Radicals, als ich vorher weniger genommen hatte. Aber ich brauchte es regelmäßig. Ohne kam ich innerhalb von Stunden vor Reizüberflutung beinahe um. Der König hatte mir also nicht nur meine Zukunft und Knox weggenommen, sondern auch mich selbst. Ohne meine InterLinks war ich beschränkt, war mein Gehirn beschränkt. Ich konnte nur mit halber Kraft denken, fühlen und begreifen. Immer.

  Außer jetzt.

  Meine beiden Begleiter schwiegen, während sie mich durch das Gebäude führten. Ich war dankbar dafür, denn es stürmten unzählige Informationen auf mich ein. Ich bemerkte jeden Fleck auf dem Boden, jede Änderung im Hall unserer Schritte, jede Abzweigung, jede Lichtänderung, jedes Knirschen, Räuspern oder Schlucken meiner Eskorte. In meinem Kopf bildete sich ein Plan d
es Stadions, während wir hindurchgingen. Wo ich mich in der letzten Nacht noch verlaufen hatte, besaß ich nun die absolute Orientierung.

  Ich konnte dieses Gefühl jedoch nicht genießen, denn ich wusste, worauf es hinauslief: Die Kapsel hob die Wirkung des HeadLock vollständig auf und startete damit einen Countdown für den Overkill meines Gehirns. Der Zusammenbruch kam mit jeder Minute näher. Wenn ich Glück hatte, war der Test vorbei, bevor es so weit war.

  Je tiefer wir in die Katakomben vordrangen, desto mehr Soldaten säumten den Gang. Wussten sie, was sie da bewachten? War ihnen klar, was für eine Ungeheuerlichkeit es war, dass ausgerechnet der König so etwas besaß? Mit Sicherheit nicht. Sein Sturz wäre zweifelsohne die Folge gewesen. Deswegen waren auch nur zwei der Spezialkräfte in dem Raum gewesen und sonst niemand, keine Soldaten, keine Techniker. Weil niemand wissen durfte, was dort war. Aber ich wusste es nun. Ich war nicht zu hundert Prozent sicher gewesen, hatte nicht sicher sein können – bis ich die Kapsel genommen hatte. Jetzt erinnerte ich mich genau.

  Ein schwarzer Würfel wie dieser war mir ein einziges Mal, kurz vor der Abkehr, begegnet. Ich hatte meine Mutter bei der Arbeit besucht und war neugierig gewesen, was da von allen verfügbaren Sicherheitskräften bewacht wurde. Sie hatte es mir nicht sagen wollen, aber ihr Chef Exon Costard war weniger verschwiegen gewesen – wahrscheinlich, weil er es zu dem Zeitpunkt am liebsten in die Welt hinausgeschrien hätte, was er entwickelt hatte: eine Omnificial Intelligence, die fortschrittlichste künstliche Intelligenz aller Zeiten. Gegen sie wirkten normale KI-Systeme wie die stümperhaften Versuche eines Kindes, das in der Schule zum ersten Mal Technikbauteile zusammensteckt. Die OmnI konnte jedes Problem lösen, Konzerne steuern, Militäreinsätze leiten, für Gerechtigkeit sorgen. Sie war in der Lage, sich selbst weiterzuentwickeln, und machte niemals Fehler. Die OmnI war einzigartige und grenzenlose Technologie der Extraklasse. Unglaublich leistungsfähig. Unglaublich überlegen. Kein lebender Mensch konnte erfassen, wozu sie fähig war, hatte mir Costard damals mit glänzenden Augen versichert.

  Schon damals hatte ich geahnt, dass sie die Welt verändern würde. Aber dann hatte die Abkehr Costard einen Strich durch die Rechnung gemacht.

  Ich hätte erwartet, dass der König die OmnI zerstört hatte, aber der Meister der Doppelmoral hatte sich offensichtlich anders entschieden. Dieser miese Heuchler.

  Kein Wunder, dass scheinbar jeder Soldat des Landes hier war und Geheimhaltung oberstes Gebot. Allein das Flüstern über ein Weiterexistieren der OmnI hätte mit Sicherheit eine internationale Krise ausgelöst.

  »Hier entlang.«

  Wir gingen auf das Portal zu, hinter dem sich der Tresor befand. Eine Frau mit weißem Kittel wartete davor. Sie wirkte angespannt. Ihre Kiefer mahlten unruhig und ihre Augen zuckten zu oft.

  »Ich muss dich durchsuchen«, sagte sie, und ich breitete die Arme aus. Gut, dass ich die Dose mit den Kapseln nicht mitgenommen hatte. Die Frau tastete mich ab, dann nickte sie. »Alles in Ordnung. Du kannst rein.«

  Die Tür schwang auf und gab den Blick auf den Tresor frei. Er war verschlossen. Im Raum waren keine Soldaten, dafür einige Kittelträger. Vertraute man ihnen etwa genug? Nein, dachte ich. Die Vorrichtung mit dem OmnI-Zylinder ist jetzt hinter weiteren Tresorwänden verborgen, genau wie die Konsole. Ich war sicher, dass dort nur die beiden Spezialkräfte saßen und alles beobachteten.

  »Nimm Platz.« Einer der Weißkittel deutete auf einen Stuhl. Ein Zittern durchfuhr mich, aber nicht vor Angst, sondern vor Euphorie. Auf einem sterilen Tablett, ordentlich nebeneinander aufgereiht, lagen mehrere InterLinks.

  Der Weißkittel setzte sich mir gegenüber und sah auf sein SmartPad.

  »Ophelia, nicht wahr?« Ich nickte. Er hatte ein freundliches Lächeln, aber auch er wirkte angespannt. Seine Finger machten immer wieder die gleiche dehnende Bewegung, minimal, aber jetzt für mich erkennbar.

  »Wir werden dir für diesen Test InterLinks für Ohren und Augen einsetzen. Ich nehme an, du bist an das Tragen solcher Links gewöhnt?«

  Ich nickte wieder.

  Die herkömmlichen InterLinks hielten mich zwar nicht lange aus, aber für eine kurze Zeit würde es gehen.

  »Gut.« Er nahm die EarLinks und platzierte sie hinter meinen Ohren. Dann bekam ich EyeLinks für die Augen, spezielle Linsen, hauchdünn. Die früheren InterLinks waren unter die Haut gesetzt und auf die Netzhaut gedampft worden. Diese Versionen wirkten im Vergleich plump und unbequem. Trotzdem fühlte es sich an, als wären Weihnachten und mein Geburtstag auf den gleichen Tag gefallen.

  »Die Links aktivieren sich erst, wenn du drin bist«, sagte der Weißkittel. Er nahm sein SmartPad wieder zur Hand. »Diese Prüfung beinhaltet die Interaktion mit einem Simulationsprogramm, das dir nach bestimmten Parametern Aufgaben stellt.«

  So konnte man die Begegnung mit der höchsten künstlichen Intelligenz der Welt natürlich auch beschreiben. Aber der Weißkittel glaubte tatsächlich, dass es sich um ein gängiges Trainingsprogramm handelte – denn ich sah keine Anzeichen dafür, dass er mich belog. Mein Gehirn hätte das an seiner Mikromimik sofort erkannt.

  »Die Regeln sind einfach: Du wirst in diesen Raum gehen und dort bleiben, bis man dich entlässt. Solltest du vorzeitig abbrechen wollen, ist das in Ordnung. Wenn du freiwillig aussteigst, ist die Prüfung sofort für dich beendet, ebenso bei Abbruch durch das System, wenn du durchfällst. Solltest du allerdings bestehen, wird man es dir direkt im Raum mitteilen. In jedem Fall werden wir dein Gedächtnis jedoch einer Kurzzeitkorrektur unterziehen, wenn du den Raum verlassen hast. Du wirst dich dann an diese Prüfung nicht erinnern. Hast du das verstanden?«

  »Ja.« Besser, als du dir vorstellen kannst. Natürlich wollte der König keine Mitwisser für die Existenz der OmnI, also löschte er die Erinnerung an die Begegnung mit ihr direkt aus unseren Köpfen. Das passte zu diesem Heuchler.

  »Bitte reagiere auf alle Situationen so natürlich wie möglich. Es geht nicht darum, dich bestmöglich darzustellen, sondern um authentische Reaktionen.«

  Ich nickte, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte.

  »Es sind Kameras im Raum angebracht, über die man dich beobachtet. Wenn du aussteigen möchtest, reicht ein kurzer Hinweis, dann schalten wir das System ab. Noch Fragen?«

  »Ja, eine«, sagte ich und lächelte schief. »Was ist aus dem guten alten CerebralAnalyzer geworden?«

  13

  Zwei der Weißkittel öffneten mir die Tür, einen von ihnen erkannte ich von letzter Nacht wieder. Die Spezialkräfte waren offenbar überall. Aber das war jetzt mein geringstes Problem. Ich straffte meine Schultern, dann setzte ich einen Fuß über die Schwelle und betrat das leere Zimmer.

  So zu tun, als hätte ich den Raum noch nie gesehen, war nicht schwierig. Unter dem Einfluss der Kapsel leuchteten die Farben der in Leder gebundenen Bücher, das Holz der Regale schimmerte in hundert verschiedenen Nuancen. Die Fasern des Teppichs waren so akkurat aufgerichtet, als würde man das Zimmer nach jedem Test reinigen.

  »Bist du bereit?«, hörte ich die Stimme des Weißkittels über meine EarLinks.

  »Ja, bin ich.« Das war eine Lüge.

  »Dann starten wir jetzt die Simulation. Viel Erfolg.« Die Verbindung brach ab.

  Ich spürte eine leichte Wärme in meinen Augen, als sich die EyeLinks aktivierten. Gitterlinien zur Kalibrierung zogen sich über mein Sichtfeld. Als sie verschwanden, stand hinter dem Schreibtisch ein Mann.

  »Hallo, Ophelia.« Er trug einen weißen Kittel, hatte dunkle Haare und eine hagere Gestalt. Sein Lächeln war ehrlich freundlich und erreichte seine Augen. Ich ließ mich davon nicht täuschen. Er war nur ein Avatar, eine menschliche Hülle für die am höchsten entwickelte künstliche Intelligenz der Welt.

  »Hallo … wie immer du heißt.« Noch wusste ich nicht, wie ich die OmnI besiegen konnte. Ich musste vorerst mitspielen.

  »Ich habe keinen Namen. Man gibt mir keinen.« Er sah ein wenig betrübt aus. Dann verschwand er für den Bruchteil einer Sekunde und tauchte wieder auf.

  »Wir müssen ein paar Fragen klären, bevor wir anfangen«, sagte er, als hätte ich nie nach seinem Namen gefr
agt. »Ist das in Ordnung für dich?«

  »Habe ich denn eine Wahl?« Ich setzte mich auf den einzigen Sessel im Raum.

  »Nein. Aber wenn du das Gefühl hast, dass es deine Entscheidung ist, erhöht das deine Kooperationsbereitschaft.« Er zwinkerte. »Wie ist dein Name?«

  »Ophelia Scale.«

  »Dein voller Name.«

  »Ophelia Maxine Scale.«

  »ID-Nummer?«

  »OS-14873-1104.«

  »Nicht eher 1204?«

  »Wenn du es weißt, wieso fragst du mich dann?«

  Der Weißkittel lachte. »Du bist klug. Und frech. Gefällt mir.«

  Das würde mir kaum darüber hinweghelfen, dass ich keinen Plan hatte.

  »Hast du genetische Anomalien? Irgendwelche Defekte oder Folgen einer Aufwertung deiner Eltern?« Ein scharfer Blick traf mich.

  »Nein.« Die erste Lüge.

  Die OmnI schluckte sie nicht. »Bist du sicher?«

  »Sehe ich zu gut aus, um nicht aufgewertet zu sein?«, wich ich aus.

  »Das weiß man nie so genau. Aber deine Haar- und Augenfarbe und die Struktur deiner Haut sind unauffällig.«

  »Ich sagte ja, ich bin nicht unnormal.«

  Der Blick wurde genauer. »Hast du vielleicht eine psychische Störung? Schizophrenie, multiple Persönlichkeiten?«

  »Nein. Warum fragst du mich das?«

  »Ach, reine Routine.«

  Reine Routine? Niemals. Es gab einen Grund, mich das vorab zu fragen. Um sicherzustellen, dass die OmnI mich richtig beurteilen konnte. Was wohl voraussetzte, dass meine Persönlichkeit in sich geschlossen war. Und das bedeutete … In meinem Kopf rastete etwas ein. Gerade hatte mir diese brillante Intelligenz einen Wink gegeben, wie ich sie überlisten konnte.

  Es reichte nicht, wenn ich ihr eine andere Person vorspielte. Ich musste eine andere Person sein. Ophelia Scale, Kennung OS-14873-1104, nicht 1204. Eine Version von mir, die nicht beim Widerstand war. Die sich an das Leben nach der Abkehr gewöhnt hatte. Die nicht vorhatte, den König zu töten. Ein Schub Adrenalin wallte in mir hoch. Die OmnI merkte es.

  »Du bist angespannt?« Ein neugieriger Blick traf mich.

 

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