[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 17

by Kiefer, Lena


  »Okay, Nummer eins: Man hat dich für eine Spezialmission angeworben. Du bist längst im Einsatz, aber niemand von uns weiß das. Da du Duforts Liebling bist –«

  »Bin ich überhaupt nicht!«

  »Bist du doch.«

  »Gaia hat recht, bist du«, half Emile.

  »Et tu, Emile?«, fragte ich. Er zeigte die Andeutung eines Lächelns bei der Anspielung auf Brutus und Cäsar.

  »Das ist doch keine Schande. Dafür hast du miese Karten bei Echo.«

  Das stimmte. Sportskanone Echo Claesson verhätschelte niemanden, aber mich ließ sie besonders gern leiden.

  »Also«, fuhr Gaia fort, »da Ophelia Duforts Liebling ist, wäre es naheliegend, dass er sie dazu einsetzt, die Anwärter zu beobachten.«

  »Brillante Theorie«, sagte ich und hielt meine Hand so, als wäre es ein Pad. »Tag 23, Mittagessen. Prideaux isst Gemüselasagne und Pudding zum Nachtisch. Cech hat Salat, Bayarri zwei Portionen Auflauf. Bin nicht sicher, ob er sein Bett gemacht hat.« Ich klappte die Hand zu. »So ungefähr?«

  Gaia lachte. »Okay, okay, dann nicht. Nummer zwei: Während wir alle schlafen, hast du einen Weg gefunden, wach zu bleiben, mit Medikamenten oder so etwas. Auf die Art kannst du nachts auch noch lernen und bist uns damit drei Schritte voraus. Dummerweise hast du es heute Nacht aber übertrieben und deswegen verschlafen.«

  Ich hob eine Augenbraue. »Wenn das wahr wäre, müsste ich in Majores Unterricht dann nicht besser sein?«

  »Zugegeben. Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit: Du hast jemanden getroffen.« Gaia grinste breit.

  Ich hatte das erwartet und winkte so lässig wie möglich ab. »Komm schon, das ist echt albern. Wir müssen auch langsam los.«

  »Also hast du jemanden getroffen!« Gaia grinste jetzt einmal um ihren Kopf herum. »Aber es kann niemand von uns gewesen sein, weil alle im Unterricht waren. Wer dann? Jemand, den wir kennen?«

  Okay, jetzt musste ich mir etwas Besseres einfallen lassen. Irgendwas, das dieses Thema ein für alle Mal begraben würde. Ich dachte kurz nach und wurde fündig.

  »Ist das dein Ernst?« Ich setzte einen verletzten Blick auf, der Dufort stolz gemacht hätte. »Glaubst du echt, ich würde so etwas tun? Nach allem, was mit Knox war? Du müsstest es besser wissen.« Ruckartig nahm ich mein Tablett und ging zur Abgabestation. In meinem Rücken hörte ich die anderen reden.

  »Das war total unsensibel, Gaia«, sagte Emile.

  »Du weißt doch, was mit ihrem Freund passiert ist«, pflichtete Justyna ihm bei.

  Gaias Antwort hörte ich nicht mehr. Ich war damit beschäftigt, gemeinsam mit meiner kummervollen Miene aus dem Raum zu gehen.

  18

  Den ganzen Weg, den die TransUnit von Zone C bis zum Arsenal zurücklegte, entschuldigte sich Gaia bei mir. Es täte ihr leid, manchmal würde ihre Fantasie mit ihr durchgehen, es wäre nicht böse gemeint gewesen. Ich machte eine Weile auf verletzte Seele und ließ mir sogar ein paar Tränen in die Augen steigen. Erst als wir ankamen, verzieh ich ihr großzügig.

  Jeder hatte seine Geschichte, warum er in Maraisville war. Die Motivation der meisten war Patriotismus, Abenteuerlust oder ein übergroßes Ego. Meine war, auch ganz offiziell, Knox. Der Junge, den ich geliebt und der mich angeblich verraten hatte, indem er sich den Radicals angeschlossen hatte. Es tat jedes Mal weh, wenn ich diese Lüge erzählte, aber es war die beste Geschichte, die ich bieten konnte – vor allem nach dem OmnI-Test.

  Das Arsenal lag auf dem Gelände des Militärs und wir wurden mit der TransUnit direkt vor die Tür gebracht. Als wir ausstiegen, schlug uns frühsommerliche Luft entgegen. Hinter dem Gebäude glitzerte der See in der Sonne und verlockte zu einem Badetag. Leider waren wir nicht zum Vergnügen hier.

  Bisher hatten die Stunden bei Henri Fiore in der Waffenkammer oder im Unterrichtsraum des Arsenals stattgefunden. Er hatte uns die verschiedenen Kategorien von Munition erklärt und an einem Holoscreen gezeigt, wie man Bereiche strategisch sicherte. Nahkampf übten wir zweimal die Woche im Trainingszentrum. Manchmal war auch Dufort dabei.

  Heute war jedoch etwas anders. Statt ins Arsenal winkte Fiore uns in eine kleine Halle nebenan. Uns empfing grauer Kunststoffboden mit Markierungen, eine schmale Tribüne, dazu mehrere Tische. Im Raum waren offene Kabinen aufgebaut.

  »Bitte gruppiert euch um die Tische herum.« Fiore, kleiner als ich, aber dafür mit doppelter Muskelmasse ausgestattet, schleppte zwei Koffer herein. Gaia und ich landeten gemeinsam an einem Tisch, ausgerechnet zusammen mit …

  »Troy«, murmelte ich und nickte knapp.

  »Scale. Prideaux.« Er grüßte unterkühlt und schloss dann den Mund. Gut so. Jeder Moment ohne sein Gelaber war ein Geschenk.

  Fiore kam zu uns und lächelte uns durch seinen dichten Bart an. Dann stellte er drei schwarze Behälter auf den Tisch. »Hier, für euch. Bitte nicht anfassen, bis ich etwas anderes sage.«

  Ich legte die Hände auf den Rücken und schwieg.

  »Das war eine gute Idee heute Morgen«, begann Troy dann doch zu reden.

  »Danke«, sagte ich kühl.

  »Natürlich war sie nicht so gut, wie Dufort uns glauben machen wollte.« Er lächelte selbstgefällig.

  »Vielleicht nicht.« Ich hob die Schultern. »Aber besser als deine. Das war zwar nicht schwer, aber hey, ich bin ein bescheidener Mensch.«

  In Troys Gesicht flammte Zorn auf, aber Fiore begann zu sprechen, bevor mein persönlicher Lieblingsfeind etwas erwidern konnte.

  »Heute lassen wir die Theorie hinter uns und widmen uns der Praxis. Bitte öffnet die Kästen vor euch auf dem Tisch.«

  Dutzende von Verschlüssen schnappten auf. Ein Raunen folgte. Ich öffnete mein Kästchen und wusste, wieso.

  Wir hatten bisher verschiedene Arten von Waffen kennengelernt: Neuroimpulskanonen, die mehrere Gegner auf einmal töten oder bewusstlos machen konnten. Nanopartikelwaffen, die in Sekunden Mauern zu Staub zerfallen ließen. Großkalibrige Raketenwerfer des Militärs, die ganze Städte dem Erdboden gleichmachten. Alles sehr effektiv. Aber nichts davon konnten Agenten im normalen Einsatz benutzen.

  Anders war es mit dem Inhalt des Kästchens. Es war eine Waffe aus mattschwarzem Material, mit grauem Griff und seitlichen Kühlschlitzen. Das Magazin hatte drei Kammern mit Projektilen in verschiedenen Farben – Rot, Blau und Lila. Ich nahm die Waffe heraus und drehte sie in der Hand. Sie war leichter als gedacht.

  »Was ihr da vor euch habt, ist eine TLP-X, die Standardbewaffnung der Schakale.« Fiore hielt sein eigenes Exemplar hoch. »Es ist eine Laser-Plasma-Expansions-Waffe mit verschiedenen Patronen. Die TLP-X lädt das entsprechende Projektil erst kurz vor dem Abschuss in den Lauf und bringt es dann mithilfe eines Laserimpulses auf über 6000 Meter pro Sekunde.«

  Er nahm aus einem weiteren Koffer kleine blaue Schatullen und warf sie uns zu.

  »Das sind temporäre EyeLinks. Setzt sie ein.«

  Es waren die gleichen Linsen, die wir vor dem Test mit der OmnI bekommen hatten. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, um sie einzusetzen.

  »Und jetzt geht bitte an den Schießstand.«

  Wir nahmen unsere Waffen und liefen zu den Kabinen. Fiore schritt einmal die Reihe ab, um die EyeLinks zu checken. Dann schaltete er die zentrale Kalibrierung ein. Feine Gitternetzlinien zogen sich über den Raum, dann tauchten Figuren auf. Es waren Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Sie bewegten sich, als wären sie real. Ich jubilierte innerlich. Endlich wieder Technologie.

  »Funktioniert bei dir alles, Ophelia?« Fiore tauchte neben mir auf.

  »Ja, ich denke schon. Soll ich jetzt entscheiden, wer von den Typen das Ziel ist?«

  »Na, nicht so schnell.« Er grinste. »Erst einmal musst du die Schaltfläche drücken, damit die Sensoren aktiviert werden.«

  »Die hier?« Natürlich hatte ich das längst entdeckt. Aber wenn ich mit Fiore zu tun hatte, gab ich mich immer ein bisschen unsicher – gerade so viel, dass er mich mochte.

  »Perfekt.« Fiore zeigte mir das Daumen-hoch-Zeichen. »Alle anderen bitte auch«, wies er den Rest der Gruppe an. »Nun nehmt die TLP-X hoch und seht, was passiert.«

  Ich
richtete die Waffe auf die virtuellen Gestalten vor mir. Sofort tauchten Buchstaben und Zahlen auf. Meine EyeLinks benannten jede Person und legten den Gefahrenindex fest. Die Spanne ging von 1 bis 10, mit zwei Stellen nach dem Komma, die sich ständig veränderten.

  »Mit einem leichten Kopfnicken bestätigt ihr euer Ziel. Und keine Sorge, dass ihr einen Verbündeten trefft. Die TLP-X erkennt über eure WrInks genau, wer zum Team gehört.«

  Ich nahm einen großen zombiehaften Kerl mit einer 8,74 ins Visier und nickte. Ein rotes Netz erschien als Markierung und spannte sich über ihn. Als er sich zur Seite bewegte, blieb es haften. In meiner Waffe spürte ich ein Ziehen.

  »Die TLP-X hat einen stabilisierten Lauf, der sich mit dem Ziel bis zu fünf Grad mitbewegen kann. So wird es schwieriger, danebenzuschießen. Dazu gibt es verschiedene Projektile. Solche, die töten, andere, die den Gegner außer Gefecht setzen. Und jene, die einen Verfolgungstracker aus Nanopartikeln setzen. Ich muss euch nicht sagen, dass es sehr wichtig ist, schnell über die Art des Projektils zu entscheiden.«

  Zunächst bekamen wir jedoch harmlose Holomunition und mussten jemanden anvisieren, markieren und treffen. Es war ungewohnt, aber ich hatte den Dreh bald raus. Die Waffe lag gut in der Hand, sie schien mit meinen Gedanken verbunden zu sein und ließ die Gegner nicht aus dem Visier. Wie einfach es sein musste, damit jemanden auf Distanz zu töten … ein Ziel, das gut bewacht wurde. Ab wann wir wohl eine tragen durften?

  Oben auf der Tribüne ging eine Tür auf, unbemerkt von Fiore und den meisten anderen. Ich sah es nur, weil meine Kabine direkt darunter lag.

  Als drei Personen hereinkamen und in der obersten Reihe Platz nahmen, markierten meine EyeLinks Caspar Dufort und Nahor Haslock, den Chef der königlichen Garde. Die dritte Person blieb ohne Informationen – allerdings nur, was die EyeLinks betraf.

  »Was macht der denn hier?«, entfuhr es mir. Neben Dufort saß, mit Zopf und im Kapuzenpullover, Robin Hood. Als er mich erkannte, lächelte er mir unauffällig zu. Ich brachte es nicht fertig, die Geste zu erwidern.

  »Von wem redest du?« Gaia tauchte aus der Kabine neben mir auf und folgte meinem Blick.

  »Von niemandem«, sagte ich und wollte etwas von einer Verwechslung murmeln. Gaia kam mir zuvor.

  »Meine Güte«, hauchte sie.

  »So gut sieht Dufort nun auch nicht aus«, scherzte ich, um sie abzulenken. Gaia ignorierte es.

  »Du weißt nicht, wer das ist?«, fragte sie ungläubig. Sie tat so, als säße der König höchstpersönlich auf der Tribüne.

  »Irgendein Diplomat«, nuschelte ich und ahnte, dass ich meilenweit danebenlag. Die EyeLinks zeigten nur einen grauen Kreis mit den Worten »Unbekannte Person« an. Ich sah zu Robin Hood, bemühte mein Gehirn, fügte langsam alle Puzzleteile zusammen.

  Und da dämmerte mir, dass ich ihn doch schon einmal gesehen hatte. Auf einer alten Aufnahme in der Zeitung. Zusammen mit seiner Familie.

  »Das ist –« fing Gaia an.

  »Lucien de Marais«, sagte ich tonlos.

  Kälte ergriff meinen Körper.

  Lucien de Marais.

  Alles wurde taub.

  Der Bruder des Königs.

  Wie durch einen Tunnel sah ich ihn dort oben auf der Tribüne sitzen. Sein Blick hielt meinen fest, aber das Lächeln wich langsam aus seinem Gesicht. Gaia redete weiter auf mich ein, aber ich hörte nur ein Rauschen in den Ohren, das im Takt meines Herzschlags pulsierte. War er nur in der Ruine gewesen, um mich zu überprüfen? Um meine Loyalität auf die Probe zu stellen?

  Mein Hirn durchforstete panisch alles, was ich gesagt hatte.

  Ich komme her, weil es der einzige Ort ist, an dem man wirklich allein sein kann.

  Nur die drei Jahre Clearing, die mir beim Ausscheiden winken. Oh, Entschuldigung, Gedächtniskorrektur nennen sie das ja.

  Aber genauso groß wie die Angst war meine Wut. Ich fühlte mich verraten und belogen. Was hatte mir dieser Blödmann für einen Schwachsinn erzählt?

  Meine Familie gehört zu denen, die unten in der Altstadt ein bisschen was zu sagen haben. Ein bisschen! Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Und dann sein Gerede darüber, wie langweilig die Festung war. Er wohnte im obersten Stock des verdammten Gebäudes, der verdammte König war sein verdammter Bruder!

  Er hatte auf keine Frage offen und direkt geantwortet, mich aber bis ins Detail ausgefragt. Der Kerl hatte längst gewusst, dass ich nicht für die Garde ausgebildet wurde, aber so getan, als hätte er keine Ahnung. Und dann diese Aktion mit seinem Beinahe-Absturz. Die perfekte Gelegenheit, um herauszufinden, ob ich mein Leben für jemanden riskieren würde.

  Brennende Scham verdrängte die Kälte in mir. Wie hatte ich mich nur so um den Finger wickeln lassen können? Seit drei Wochen tat ich alles dafür, um mich hinter dieser anderen Version von mir zu verbergen. Und dann kam er, war nett zu mir, strahlte mich aus diesen rauchblauen Augen an und schon erzählte ich alles. Gut, nicht alles. Aber zu viel.

  Ich hatte vor ihm über das Clearing hergezogen, den König, und dessen Entscheidungen infrage gestellt. Ich hatte ihm von Knox erzählt. Und er hatte mich bedauert, hatte Knox’ Schicksal bedauert. Aber das Mitgefühl, der flirtende Unterton, diese Anziehung – das war eine einzige Farce gewesen.

  Ein Test, sonst nichts. Vielleicht, nein, wahrscheinlich hatte er sogar mit permanenten EyeLinks meine Reaktionen gecheckt. Und ich hatte nichts bemerkt.

  Jetzt war es, als hätte jemand den Vorhang weggezogen. Schon Luciens Augen hätten mich warnen müssen, denn sie waren denen seines Bruders sehr ähnlich. Wenn man es erst wusste, fielen noch mehr Gemeinsamkeiten auf: die hohen Wangenknochen und die gerade Nase. Die Art zu lächeln. Das unaufdringlich gute Aussehen, das die Familie gepachtet zu haben schien.

  »Ophelia? Alles okay?« Gaia schnippte vor meinen Augen mit den Fingern. Justyna sah besorgt zu mir herüber.

  »Ja. Alles okay.« Ich sah Bedauern in Luciens Blick. Tat es ihm leid, mich ausspioniert zu haben? Als ob.

  Fiore stellte die Gäste auf der Tribüne vor, aber ich wandte mich ab und zwang meine Gedanken in eine andere Richtung. Ich war noch hier, also hatte das Gespräch nicht zum Ausschluss aus dem Programm geführt. Das war gut. Dieses Gefühl von Verrat und Enttäuschung hatte hier nichts verloren.

  Mein Ziel war es, den König zu töten. Alles, was mich an Lucien de Marais interessieren sollte, war sein Vetorecht – und dass er ja nie auf die Idee kam, davon Gebrauch zu machen.

  19

  An den Tagen darauf ging ich weiterhin morgens joggen, aber ich mied die Ruine. Wenn mir jemand begegnete, der mich an Lucien erinnerte, stockte mir das Herz, allerdings nur kurz. Niemand aus der königlichen Familie lief in der Stadt herum. Warum sollte er es tun?

  Ich hatte vor der nächsten Dosis HeadLock das Gespräch rekonstruiert und nichts eindeutig Königsfeindliches gefunden. Trotzdem kam es mir vor, als würde ich unter Beobachtung stehen. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber die Unsicherheit war da. Die Enttäuschung ebenfalls. Egal, wie oft ich sie wegschob, sie kam immer wieder zurück. Dabei wusste ich, dass Lucien Gift für meine Pläne war. Mein Kopf wusste das. Aber ein anderer Teil von mir scherte sich nicht darum.

  Ich beendete meine Laufrunde, die mich mit einem fiesen Wolkenbruch überrascht hatte, und stieg tropfend die Stufen zu meiner Wohneinheit hinauf. Es war Sonntag und ruhiger als sonst. Einige waren zum Seeufer gefahren und jetzt wahrscheinlich klitschnass. Für Emile und Gaia tat mir das leid, für Troy weniger. Schadenfroh dachte ich daran, wie seine perfekte Frisur vom Regen zerstört wurde.

  Ich hielt vor meiner Tür und forderte sie zum Öffnen auf. Zitternd wartete ich, bis sie der Bitte nachkam. Dann beeilte ich mich, aus meinen nassen Sachen zu schlüpfen.

  Als ich nach einer Dusche aus dem Bad kam, sah ich, dass auf meinem Schreibtisch eine Schachtel stand. Sie war groß und flach, glänzte weiß und hatte keine Beschriftung. Ich legte das Handtuch weg und klappte den Deckel auf.

  In der Schachtel befand sich unter mehreren Lagen Papier ein zusammengefaltetes Kleidungsstück. Ich nahm es heraus und hielt es hoch. Es war eine Pulloverjacke aus dünnem und feste
m Material. Sie war blattgrün und hatte an keiner Stelle eine Lilienstickerei. Ich musste den beigelegten Zettel nicht lesen, um zu wissen, von wem sie war. Trotzdem tat ich es.

  Eine bunte Jacke für das Mädchen, das nicht nur in Grau herumlaufen will, stand da in akkuraten Buchstaben. Und sehr klein darunter als PS: Es tut mir leid. L. Ich starrte auf die letzte Zeile. War das ernst gemeint? Oder war es nur eine neue Runde in dem Spiel, das Lucien spielte?

  Die Jacke war unheimlich schön und ich hätte sie wahnsinnig gerne getragen. Für eine Sekunde war ich versucht, aber dann gewann die Vernunft. Schnell legte ich die Jacke mitsamt dem Zettel in die Schachtel zurück, stopfte sie so tief wie möglich in meinen Schrank und schlug die Tür zu. Wenn Lucien Spielchen spielen wollte, dann sollte er das tun. Aber nicht mit mir.

  Ich hatte mich angezogen und gerade an meine Aufgaben gesetzt, als ein Signalton meldete, dass mich jemand über mein Terminal anrief. Eilig überprüfte ich mein Aussehen, bevor ich den Anruf entgegennahm. Auf dem Screen erschien Adrian Deverose, der Presse- und Kommunikationschef des Königs. Er war ein netter Mann im mittleren Alter, mit kurzen schwarzen Haaren und einem charmanten Lächeln. Neben ihm stand Dufort.

  »Ophelia Scale?« Deverose sah von einem Pad hoch, das er in der Hand hielt.

  »Ja?« Was bedeutete das? Hatte man mich erwischt? War Lucien zu seinem Bruder gegangen und hatte um meinen Rauswurf gebeten? Hatte sich das »Es tut mir leid« darauf bezogen, dass mir drei Jahre Clearing drohten? Meine Hände wurden feucht.

  »Es sind jetzt vier Wochen vergangen, seit Sie in Maraisville sind.«

  »Das ist richtig.« Ich schluckte, mein Hals war eng.

  »Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte Dufort.

  »Nicht?« Wie sollte ich nicht besorgt sein?

  »Nein. Es geht darum, dass ihr nach einem Monat mit euren Familien sprechen dürft. Wenn du Zeit hast, könntest du das heute Nachmittag tun.«

  »Oh, ein Glück«, entfuhr es mir. Die beiden Männer wechselten einen irritierten Blick. Jetzt landete sicher der Eintrag »Paranoia« in meiner Akte. »Ich würde sehr gerne mit ihnen sprechen.«

 

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