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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 26

by Kiefer, Lena


  »Warum wir?«, fragte Troy mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck. Ich deutete hinter seinem Rücken Emile an, wie ich mir den Finger in den Hals steckte. Er lachte lautlos.

  »Ich habe euch empfohlen«, sagte Dufort schlicht. »Es ist eine große Chance, aber ohne Sicherheitsnetz. Sie kann euch helfen oder den Hals brechen.«

  Troys Miene wurde etwas weniger blasiert. Emile und ich grinsten.

  Unser Ziel war eine große Doppeltür, hinter der sich ein gewaltiger Raum befand. Er war fensterlos und in einem grau-weißen Streifenmuster gestrichen, hatte einen großen Tisch in der Mitte und ansteigende Sitzreihen drum herum. Schakale und Gardemitglieder saßen und standen im Raum verteilt, unterhielten sich oder waren in die Inhalte ihrer Pads vertieft. Phoenix fehlte, ebenso wie Leopold. Auch Lucien war nicht anwesend.

  Dufort wies uns an, in der dritten Reihe Platz zu nehmen, dann ging er zum Tisch. Sein Stuhl stand direkt neben dem von Nahor Haslock, dem Chef der Garde, einem dunkelhäutigen und einschüchternden Mann von großer Statur. Die beiden mochten sich offensichtlich nicht: Während sie sprachen, runzelte Dufort die Stirn, und Haslock hielt die Arme verschränkt. Ob das etwas mit unserer Beteiligung zu tun hatte?

  Nach und nach setzten sich alle und es wurde still. Haslock dunkelte den Raum etwas ab und stand auf. Als er gerade Luft holte, ging die Tür noch einmal auf.

  »Tut mir leid, ich bin zu spät. Hier unten kann man sich wirklich verirren.«

  Einige Lacher waren zu hören, als Lucien in den Raum kam. Er war wie Dufort sehr seriös gekleidet, trug eine dunkle Hose und ein schwarzes Hemd. »Lass dich nicht stören, Nahor.« Er warf einen Blick in die Runde. Als er mich sah, funkelten seine Augen. Etwas in mir machte einen Sprung.

  »Schön, dass auch der Vertreter der königlichen Familie hergefunden hat«, kommentierte Haslock trocken. Ich begriff. Da nicht alle Anwesenden wussten, dass Lucien ein Schakal war, nahm er offiziell als Leopolds Vertretung an der Besprechung teil.

  »Was für ein Blender«, murmelte Troy neben mir. »Diese reichen Leute glauben immer, ihnen gehört die Welt.«

  »Na ja.« Emile grinste. »Bei ihm stimmt das ja auch.«

  Troy schnaubte abfällig. »Sein Bruder ist derjenige, der das Land regiert. Lucien ist nur irgendein Idiot, der zufällig in die richtige Familie geboren wurde.«

  »Woher willst du das wissen?«, fragte ich in scharfem Tonfall.

  »Oho«, ätzte Troy zurück. »Bist du ein Fan, Scale? Ich wusste ja nicht, dass man nutzlos sein muss, um bei dir zu landen.«

  »Wenn das stimmen würde, wären du und ich längst ein Paar, oder?« Ich sah ihn wütend an.

  »Ruhe jetzt«, zischte Emile. »Dufort schaut schon zu uns rüber.«

  Und nicht nur er, sondern auch Lucien. Er sah kurz zu Troy, dann zuckte er mit den Schultern, als wollte er sagen Lass den Deppen doch reden. Ich lächelte kaum merklich.

  »Wir beginnen«, sagte Haslock. »Es geht um den Einsatz 10-08-34, der morgen Abend in der Villa Mare stattfinden wird.« Er nickte leicht und eine Holoprojektion erschien über dem Tisch.

  Die Villa Mare war ein opulentes Anwesen aus dem 19. Jahrhundert und stand auf einer Klippe am Mittelmeer. Sie hatte mehr als vierzig Zimmer auf tausend Quadratmetern Fläche, dazu einen hübschen Garten und einen riesigen Park. Mit ihren Türmchen, Zinnen und Bogenfenstern sah sie aus wie aus einem Märchen. Die altmodische und herrschaftliche Einrichtung mit vielen Teppichen und Gemälden, roten Vorhängen und verschnörkelten Möbeln tat ihr Übriges.

  Der Grundriss war jedoch ein Albtraum für die Absicherung einer Veranstaltung wie dieser. Er war verschachtelt, die Zimmer teils riesig und teils winzig klein. Es gab jede Menge Fenster und Türen, dazu versteckte Verbindungsgänge und Treppen an jeder Ecke des Gebäudes. Und dann war da noch der Garten. Er fiel nördlich vom Haus steil zur Wasserseite ab und hatte Stufen bis zum Meer. Wenn jemand dort stand, war er aus tausend Metern ohne Probleme zu treffen.

  Hoffentlich geht Leopold nicht dorthin.

  Moment. War ich jetzt übergeschnappt? Das war eine riesige Chance für ReVerse. Das Ziel, unser Ziel war immer noch der Tod des Königs. Aber egal, wie oft ich mir das sagte, bei diesem Gedanken verspürte ich längst keine Euphorie mehr. Ja, ich wollte das Ende der Abkehr. Aber wie hoch wäre der Preis dafür?

  »Geladen sind neben dem Präsidenten und Gefolge etwa hundert Gäste, hauptsächlich enge Vertraute des Königs und wichtige Persönlichkeiten«, erklärte Haslock. »Amelie de Marais wird ebenfalls anwesend sein, genau wie Lucien.«

  Ich war verwundert. Lucien nahm an solchen Empfängen nie teil. Wieso diesmal?

  »Die Garde wird immer zwei Leute direkt am König haben, keine Ausnahmen. Alle Ausgänge stehen unter Extrabewachung. Wir werden Präsenz zeigen und uniformiert auftreten. Vorgesehen ist Standardbewaffnung, Eye- und EarLinks werden vor Ort kalibriert. Es wird halbstündlich rotiert, Pause gibt es alle zwei Stunden.« Haslock feuerte die Informationen so schnell raus, dass ich kaum mitkam. Dann gab er an Dufort weiter.

  Der erhob sich und nickte in die Runde. »Während die Garde Präsenz zeigt, tun die Schakale das Gegenteil: Wir mischen uns unter die Gäste. Entsprechende Deckidentitäten wurden bereits erstellt und werden heute noch vergeben. Wie immer bleibt unsere Tarnung oberste Priorität. Wenn der Empfang glatt über die Bühne geht, sollte niemand bemerken, dass wir da waren.« Er nickte leicht und setzte sich wieder.

  Damit war die Besprechung aber noch nicht beendet. Die nächsten Stunden vergingen mit langatmigen Detailfragen und endlosen Diskussionen. Der Garten wurde zur verbotenen Zone erklärt, ebenso wie der Park und die Terrasse zum Meer. Lebensläufe der Gäste wurden durchgekaut, über manche der Geladenen stritten Dufort und Haslock heftig. Alles wurde unter dem Vorbehalt besprochen, dass Leopold im Nachhinein andere Vorstellungen haben könnte. Es war großes Blabla, viel Kompetenzgerangel, kurz: wahnsinnig öde. Irgendwann sah ich Lucien gähnen und musste grinsen. Er hatte diese Diskussionen sicher schon hundertmal gehört.

  Als die Besprechung vorbei war, zeigte die Uhr bereits Mittag an. Auf dem Weg zur Tür wetteten Emile und ich, ob es schon wieder Hühnchen geben würde. Dabei stieß ich gegen jemanden und griff instinktiv nach seinem Arm. Erst da sah ich, wer es war.

  »Hoppla.« Lucien lächelte, aber nicht zu offensichtlich. »Alles in Ordnung?«

  »Ja, alles okay«, nickte ich und tat so, als hätten wir noch nie miteinander gesprochen. »Ich habe nicht aufgepasst, tut mir leid.« Er sah auf seinen Arm, den ich immer noch festhielt. Eilig ließ ich los.

  »Ich hoffe, das trifft nicht auf die letzten drei Stunden zu.« Er warf mir einen strengen Blick zu. Fast hätte ich gelacht.

  »Nein, natürlich nicht.« Ich senkte demütig den Blick. »Ich habe sehr gut zugehört … Sir.«

  Jetzt musste er sich ein Lachen verkneifen.

  »Gut. Wir wollen schließlich nicht, dass etwas passiert.«

  »Natürlich nicht.« Ich nickte.

  »Das wollte ich hören. Dann sehen wir uns morgen.« Mit einem Blick auf Emile nickte er mir zu, dann ging er.

  »Du hast echt ein Händchen für die oberen Zehntausend, Scale.« Emile pfiff durch die Zähne.

  »Was, meinst du ihn? Mach dich nicht lächerlich.«

  »Ich bin ein Kerl. Das heißt, ich erkenne, wie andere Kerle ein Mädchen ansehen. Und dieser Kerl steht auf dich.«

  Na, das hoffe ich doch, dachte ich. »Schwachsinn«, sagte ich. »Du brauchst dringend etwas zu essen, Bayarri. Dein Gehirn ist unterversorgt.«

  Nach dem Essen gingen wir zum Fitting, wie die Schakale das Ausstatten mit Equipment und Identitäten leicht scherzhaft nannten. Dufort empfing uns an einem der Aufzüge in der Festung und brachte uns sechs Stockwerke unter die Erde. Dann ging er voran in einen Flur mit mehreren Türen und hielt eine davon auf.

  »Bitte wartet kurz hier. Ich bin gleich wieder da.«

  Troy, Emile und ich blieben in dem kleinen Raum mit einem Tisch in der Mitte und einem Terminal an der Wand. Das Fenster vor uns führte zu einer Halle, die das Ausmaß eines FlightUnit-Hangars hatte. Das war also das Depot. Neugierig späh
te ich durch die Scheibe.

  Der riesige Raum beherbergte zahllose hohe, geschlossene Regale, deren Vorderfronten aus quadratischen grauen Platten bestanden, je nach Gang größere oder kleinere, sodass sie den Eindruck von sehr komplizierten, dreidimensionalen Schachbrettern erweckten. Plötzlich sauste ein Greifarm heran, packte eine der Platten und zog sie aus dem Regalkorpus. Dabei entpuppte sie sich als würfelförmiger Behälter. Der Greifer transportierte ihn in unsere Richtung, aber dann kam er außer Sicht. Nebenan lagen wohl noch weitere Ausrüstungsräume.

  »Entschuldigt«, sagte Dufort, als er zurückkam. »Wir mussten uns noch um eure Tarnungen kümmern. Eins, zwei, drei.« Er gab uns Pads in grauen Hüllen. »Schlagt sie auf.«

  Ich öffnete den Umschlag meines Pads und tippte auf das Display. Mein eigenes Gesicht sah mir entgegen, es war die Aufnahme von meinem ersten Tag in Maraisville. Danach folgte das Bild einer jungen Frau, die mir entfernt ähnlich sah, dann ein Steckbrief mit Name, Alter und Stationen einer Biografie. Die Informationen gehörten zu einer gewissen Sophie Eugenie Forestier.

  »Auf dem Empfang werden Leute sein, die sich in den bedeutenden Familien des Landes auskennen.« Dufort lehnte sich an die Wand. »Deswegen können wir nichts erfinden, sondern müssen auf reale Personen zurückgreifen. Ophelia, du bist Sophie, die jüngste Tochter der Forestiers. Sie sind eine einflussreiche Frankopäerfamilie, die am Bau des TransUnit-Netzes beteiligt war. Da du Französisch sprichst und technisches Know-how hast, passt diese Tarnung für dich perfekt.«

  Ich war mir da nicht so sicher. Sophie Forestier war laut dem Pad eine talentierte Reiterin, mehrfache Meisterin im Fechten und hatte an der Universität von Paris Literatur und Geschichte studiert. Das klang gar nicht nach mir.

  Dufort ging weiter. »Troy, du bist Sebastian Temple. Die Temples waren vor der Abkehr wohlhabende Leute, aber sie sind weder bekannt noch einflussreich. Was Sebastian auf den Empfang bringt, ist also nicht seine Familie, sondern seine Verlobte.« Er sah mich an. Oh nein. Neinneinnein, bitte nicht. »Sophie Forestier. Ich bin sicher, ihr beide werdet das gut machen.« Er nickte zufrieden. Troy und ich sahen uns entsetzt an.

  »Zu dir, Emile.« Dufort tat so, als hätte er unsere Reaktion nicht gesehen. »Da wir für dich niemand Passenden gefunden haben, wirst du als Kellner fungieren. Du heißt Oliver Moreno und arbeitest seit zwei Jahren für den König.«

  »Mhm.« Emile verzog das Gesicht.

  »Ihr findet alle Informationen zu den Tarnungen auf dem Pad. Bis morgen solltet ihr das draufhaben. Ich möchte keine Aussetzer erleben.« Dufort schlug sein eigenes Pad zu. »Ich hole Henri und Echo, dann können wir eure Ausrüstung anfordern.« Er nickte und ging aus dem Raum. Kaum war er weg, ließen wir Dampf ab.

  »Ein Kellner, echt mal.« Emile war enttäuscht. »Ich habe doch wohl mehr drauf.«

  »Besser als die spießige Bilderbuchtochter, die Schwiegermutters Liebling heiraten muss.« Ich verdrehte die Augen. »Aber hey, ich könnte eine Affäre mit deinem Oliver haben.«

  Emile lachte. »Aus welchem Grund sollte Sophie etwas mit einem Kellner anfangen?«

  »Ach, das ist einfach.« Ich winkte ab. »Madame sucht nach Ablenkung, weil sie ihren Verlobten zum Kotzen findet, der sie schlecht behandelt und vor allem sich selbst liebt. Sie heiratet ihn nur, weil ihre blöde Familie das so möchte.« Ich lächelte Troy zuckersüß an. Er verdrehte die Augen.

  »Glaub ja nicht, dass ich das toll finde, Scale«, murrte er. »Aber im Gegensatz zu dir bin ich Profi.«

  »Profi in was? Ein Arsch zu sein?« Ich sah ihn gespielt interessiert an.

  Emile ging dazwischen. »Hört auf, okay? Immerhin seid ihr keine Kellner.«

  »Ach, hab dich nicht so!«, fuhr ich ihn an. »Du musst schließlich nicht Händchen halten mit diesem widerl–«

  »Gibt es Probleme?« Dufort war zurück und hatte Fiore und Echo im Schlepptau.

  »Nein«, knurrte ich. »Alles super.« Ein Vortrag zum Thema Die Schakale sind kein Kindergarten fehlte mir jetzt noch.

  Sie teilten uns auf, weil jeder für die Ausrüstung eine eigene Kabine brauchte. Echo blieb bei Emile, Fiore ging mit Troy, und Dufort kam mit mir. Wir nahmen die nächste Tür, und ich schwieg, während er das Interface einrichtete.

  »Du bist nicht zufrieden mit deiner Tarnung?«, fragte er, ohne es wie eine Frage klingen zu lassen.

  »Doch, alles bestens«, antwortete ich knapp.

  Dufort drehte sich zu mir um. »Willst du wissen, was meine erste Tarnidentität war?«

  »Lass mich raten: der Verlobte einer unerträglichen Person, die sich für das Geschenk an die Welt hielt?« Ich verdrehte die Augen.

  »Das wäre schön gewesen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich war der Sohn eines Abkehrgegners in Australien. Er war nicht nur ein völlig durchgedrehter TechHead, sondern hat auch gerne auf offener Straße sein Hinterteil entblößt.«

  »Klingt doch nach Spaß«, sagte ich ironisch. Ich wusste nicht, was schlimmer war – Hintern oder Arsch.

  »Total. Vor allem im Winter.« Dufort sah mich an. »Glaub mir, das verzogene Töchterchen ist ein Kinderspiel für dich. Trotz des unerträglichen Verlobten.« In seinem Mundwinkel zuckte es.

  »Reden wir über den Verlobten oder den Typ dahinter?«, fragte ich und grinste.

  Dufort hob die Schultern. Das war der einzige Kommentar, den ich dazu bekam. »Stell dich hierher.« Er zeigte mir einen Punkt neben dem Tisch.

  »Und jetzt?«

  Es war nicht Dufort, der antwortete, sondern eine Stimme aus dem Nichts.

  »Ophelia Maxine Scale, Kennung: OS-88651-XX, Schakal. Status: aktiv. Marker: weiblich, 18 Jahre, 175 cm, 58 Kilo, anglo-frankopäisch. Tarnung: Sophie Eugenie Forestier, Zivilistin. Marker: weiblich, 22 Jahre, 172 cm, 56 Kilo, frankopäisch.« Auf dem Terminal an der Wand tauchten mein Bild und das von Sophie Forestier auf. »Körperliche Übereinstimmung: 84 Prozent. Keine optische Anpassung erforderlich.«

  »Na, da bin ich aber froh«, murmelte ich.

  »Ausrüstung verfügbar. Bitte wählen.«

  Meine EyeLinks kalibrierten sich, dann sah ich eine Ordnerstruktur, als wären die Behälter in dem Schachbrettraum beschriftet. Waagerecht erschienen Zahlen, senkrecht Buchstaben. Wie hilfreich.

  »Vorgegebene Elemente: Waffe. Wahl von 6YC bis 8YC.« Drei schematische Zeichnungen erschienen. Ich sah Dufort fragend an.

  »Es geht um die Größe deiner Waffe. Die mittlere ist eure TLP-X aus dem Training, also bist du damit vertraut. Allerdings würde ich zu der kleineren raten. Da du ein Kleid tragen wirst, ist es einfacher, sie zu verstecken.«

  Ein Kleid? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich folgte Duforts Rat und forderte die kleinere Version an. Das System lieferte den Behälter durch eine Klappe in der Wand direkt vor mir auf den Tisch. Ich nahm die Waffe heraus und prüfte Gewicht und Größe, bevor ich sie für gut befand. Es ging weiter mit Eye- und EarLinks, dann kam das schwierigste Thema.

  »Vorgegebene Elemente«, sagte die Stimme wieder. »Abendkleid. Bitte Farbe wählen.«

  Der Dresscode bei solchen Veranstaltungen war langweilig, das wusste ich aus Majores Unterricht. Grelle Farben waren unerwünscht, ebenso wie Schwarz oder Weiß.

  »Blau?«, schlug ich vor.

  »Bitte wählen: Hellblau, Mittelblau, Dunkelblau.«

  »Dunkelblau.«

  Mir wurden ungefähr fünfzig Modelle präsentiert, mit unterschiedlichen Längen, Trägern und Ärmeln. Ich hatte in meinem Leben ungefähr dreimal ein Kleid getragen, zweimal davon als Kind. Das war nicht mein Metier.

  »Schwierigkeiten, dich zu entscheiden?«, fragte Dufort. Der hatte gut reden. Er sah sicher in allem aus wie ein kybernetisches Model.

  »Nein, gar nicht«, log ich. »Aber es geht ja nicht um meinen Geschmack, oder? Worauf muss ich achten?«

  War das Anerkennung, die in Duforts Augen aufblitzte? Hatte er geglaubt, ich würde bei dem Anblick von ein paar Kleidern in urzeitliche Weibchenhysterie verfallen? Frechheit.

  »In erster Linie musst du dich gut bewegen können. Alles, was zu bauschig oder zu eng ist, fällt damit weg.« Er klinkte sich in m
eine Anzeige ein und ließ etwa die Hälfte der Kleider verschwinden. »Dem Anlass entsprechend sollte es eher boden- als knielang sein.« Weitere zehn verschwanden. »Und zu freizügig geht auch nicht.« Es blieben noch fünf. »Jetzt kannst du danach gehen, was dir gefällt.«

  Ich sah mir die Auswahl an. Eines war mir zu rüschig, ein anderes zu steif, ein weiteres zu altmodisch. Am Ende war nur ein Kleid übrig. Ich forderte es an, der Greifer glitt durch die Halle und ließ kurz darauf den Behälter auf dem Tisch landen. Das dunkle Kleid hatte einen langen, leicht ausgestellten Rock, ein enges Oberteil und transparente Ärmel, die bis zu den Handgelenken gingen. Der Schnitt war elegant, aber nicht zu sexy.

  »Das ist perfekt«, sagte ich.

  »In Ordnung.« Dufort holte eine Tasche aus einem Fach unter dem Tisch. »Pack alles ein, wir werden es mit an Bord nehmen. Abflug ist morgen um 11 Uhr.« Er ging zur Tür. »Fiore bringt euch raus. Wir sehen uns später.«

  Ich nickte und begann, meine Sachen in die Tasche zu räumen. Dabei geriet ich ins Grübeln. Sah so Luciens Leben aus? Er wählte seine Tarnausrüstung, packte sie in eine Tasche und ging auf Missionen mit ungewissem Ausgang? Er legte eine neue Identität an, ohne zu wissen, wann er wieder er selbst sein durfte? Wenn Emile und Gaia über das Agentenleben redeten, klang es nach Vergnügen, nach Gefahr und Abenteuer. Ich hatte den Eindruck, das war ein Trugschluss.

  Für mich klang es sehr einsam.

  28

  »Ophelia?«

  Ich wachte auf, weil eine Hand mich an der Schulter berührte.

  Moment – eine Hand? Ich war allein in meinem Zimmer eingeschlafen.

  Innerhalb einer Sekunde sprangen meine Sinne auf »hellwach« um. Ich hielt mich nicht mit Fragen auf. Blitzartig packte ich meinen Angreifer, stieß mich von der Matratze ab und riss ihn mit mir herum. Wir landeten auf dem Boden neben dem Bett, ich über ihm, die Faust zum Schlag bereit. Jeder Muskel in mir war angespannt.

  »Licht an!«, keuchte ich.

  Das System reagierte und bescherte mir einen Blick auf den Eindringling.

  »Scheiße, hast du mich erschreckt!« Erleichtert stieß ich die Luft aus.

 

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