[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen
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»Ach was, echt?«, fragte Lucien trocken. »Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Warum schleichst du dich hier so rein?«
»Ich wusste ja nicht, dass du mich für den Feind hältst.«
»Ziemlich leichtgläubig«, scherzte ich zittrig. »Und du willst das Beste sein, was die Schakale zu bieten haben?«
»Nicht alle meine Qualitäten sind zu jeder Zeit verfügbar«, ächzte er.
»Sollten sie das nicht immer sein?« Mein Puls beruhigte sich langsam.
»Ja, ja, mach dich nur lustig«, sagte er. »Meinst du, du könntest von mir runtergehen? Ich weiß diese Position sehr zu schätzen, aber leider bin ich nicht deswegen hier.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass er andere Kleidung trug als sonst. Sie war komplett schwarz, Oberteil und Jacke lagen eng an, die Hose hatte Taschen an den Seiten und der Gürtel ein Holster für eine Waffe. Am Arm trug Lucien ein Pad, seine Locken waren straff zurückgebunden. Ein Zucken seiner Pupillen verriet mir, dass er EyeLinks trug.
Ich stand auf und ließ mich auf dem Bett nieder.
»Der Exit-Job?«, fragte ich tonlos. Mein Magen wurde zu einem harten Knoten. Drei Wochen hatte es keinen Auftrag gegeben, niemand hatte ein Wort darüber verloren. Ich hatte gehofft, Phoenix hätte einen anderen Weg gefunden, um Ferro zu schnappen.
»Es hat eine Weile gedauert, das Gerücht zu streuen«, sagte Lucien und setzte sich neben mich. Ich griff nach seiner Hand.
»Wann geht es los?« Mein Hals war trocken. Ich schluckte.
»Vor fünf Minuten. Ich habe gesagt, ich hätte etwas vergessen.« Er beugte sich vor und küsste mich sanft.
Ich strich ihm über die Wange. Dass er extra hergekommen war, um mich zu sehen, löste ein warmes Gefühl in mir aus. Der Knoten blieb trotzdem.
»Wisst ihr denn mittlerweile, wer es ist?« Ich hatte öfter darüber nachgedacht, was es bedeuten würde, wenn sie Ferro schnappten. Doch dann hatte ich den Exit-Job verdrängt und es war nicht mehr wichtig gewesen.
»Nein, die Liste ist zu lang.« Lucien schüttelte den Kopf. »Aber das macht nichts. Ich hatte schon Aufträge mit schlechterer Prognose.«
Ich fasste seine Hand fester. »Können sie nicht jemand anders schicken?«
Er lächelte mich schief an. »Ich dachte, du hättest dieses Gespräch zwischen Leopold und Cohen mit angehört.«
»Ja, aber …« Ich brach ab. »Ich will nicht, dass du gehst.«
»Bisher bin ich immer zurückgekommen. Meistens sogar in einem Stück.« Lucien lächelte.
»Wie beruhigend.« Ich rückte näher an ihn heran und er legte den Arm um mich. »Mir war wohler bei dem Gedanken, dass du in der Villa Mare dabei sein würdest.«
»Ja, mir auch.« Er drückte einen Kuss auf meine Stirn. »Du musst mir etwas versprechen«, sagte er ernst.
Ich nickte. »Okay.«
»Pass auf Leopold auf.«
Mein Herz blieb einen Moment stehen.
Ich ließ ihn los.
»Du solltest dir eher Sorgen um dich machen«, sagte ich. »Leopold hat über dreißig Gardisten und Schakale, die ihn beschützen.«
»Ich weiß.« Lucien presste die Lippen aufeinander. »Aber ich habe bei diesem Empfang ein richtig mieses Gefühl. Ich hätte sonst niemals zugesagt, an dem Theater teilzunehmen.«
Seine Intuition war bemerkenswert. Ich hatte ihn mal gefragt, warum Phoenix ihn für noch besser hielt als Dufort. Er hatte mir gesagt, dass es vor allem an seinem Gespür für Menschen und Situationen lag. Lucien war nicht kopflastig und verließ sich einfach auf Fakten, sondern traute vor allem seinem Gefühl. Nur bei mir versagte es. Oder auch nicht.
»Deswegen wolltest du dabei sein? Nicht wegen der Viklunds?«
»Ach, die sind mir scheißegal.« Er winkte ab. »Stella Viklund kann noch so langbeinig und blond sein, Leopold mag sie nicht, und Amelie wird das nicht ändern. Aber immer wenn ich an die Villa denke, habe ich ein dumpfes Gefühl im Bauch. Ich glaube, jemand plant etwas.«
»Weiß Leopold, was du darüber denkst?«
»Natürlich. Aber er hält mich für paranoid. ›Du hast zu lange mit Phoenix gearbeitet, Luc‹«, imitierte er die Stimme seines Bruders. »›Mir passiert schon nichts.‹ Ich habe ihm gesagt, wenn das nicht stimmt, bringe ich ihn um.«
Ich musste lachen.
»Das heißt, aus unserem Date nach dem Empfang wird nichts.«
»Nein, leider nicht. Dabei wollte ich dir endlich meine Briefmarkensammlung zeigen.«
»Briefmarken?« Ich hob die Augenbraue. »Was ist das denn?«
»Ach, nur ein alter Witz. Sehr alt. Steinzeitlich. Es bedeu–«
Er brach ab und seine Hand glitt ans Ohr. Offenbar hatte er über seine EarLinks eine Nachricht bekommen.
»Sie sagen, wenn ich in fünf Minuten nicht da bin, kann ich nach Irkutsk laufen.« Er verdrehte die Augen. »Ich schwöre dir, eines Tages spiele ich die Wisst ihr eigentlich, wer ich bin-Karte aus.«
»Das würdest du nie.« Ich küsste ihn. »Russisches Gebiet also«, sagte ich und schmiegte mich an ihn. Er strich über meine Haare. »Zum Glück haben wir Sommer.« Wenn ich irgendeinen Unsinn redete, blieb er vielleicht noch eine Minute länger bei mir.
»Ja, zum Glück.« Er küsste mich, lange genug, um einen weiteren Hinweis zu bekommen. Diesmal hörte ich mit und die Stimme klang nicht freundlich. Lucien stand auf. Ich folgte ihm und umarmte ihn fest. Er drückte einen Kuss in meine Halsbeuge und nahm dann mein Gesicht in beide Hände.
»Du passt auf Leopold auf, oder?«, fragte er noch einmal. Seine graublauen Augen sahen mich bittend an. »Ich verlasse mich auf dich.«
»Versprochen.« Es fiel mir leichter als gedacht. »Allerdings nur, wenn du mir versicherst, dass du bald wieder da bist.«
»Ich hoffe es.« Er küsste mich noch einmal, dann ließ er mich los und ging zur Tür.
Das war meine letzte Chance. Die letzte Gelegenheit, ihm einen Vorsprung zu verschaffen.
»Luc?«
Er drehte sich zu mir um. »Ja?«
Aber da stockte ich. Wie hätte ich erklären sollen, dass ich wusste, wer die Agenten umbrachte, ohne zu sagen, dass ich Teil des Widerstandes war? Wenn ich Ferro verriet, dann lieferte ich auch mich aus und verlor alles, was ich hatte. Das ging nicht. Nicht jetzt.
»Sei bitte vorsichtig«, sagte ich also nur.
Lucien nickte, dann verschwand das Lächeln, und ein Ausdruck trat auf sein Gesicht, der mir zeigte, dass er nicht mehr er selbst war. Als die Tür hinter ihm zufiel, hatte es etwas Endgültiges.
Ich stand immer noch in meinem hell erleuchteten Zimmer, als er längst weg war. Erst als ich das Röhren einer FlightUnit hörte, gab ich mir einen Ruck und ging wieder ins Bett.
Den Rest der Nacht und die meiste Zeit des Morgens verbrachte ich damit, mir Luciens Chancen auszurechnen. Wenn er um seinen Gegner wüsste, wäre es dann eine todsichere Sache? Ferro war kein Fremder für die Schakale, seine Stärken, Schwächen und Vorgehensweisen mussten ihnen bekannt sein. Aber dennoch hatte ich keine Wahl gehabt. Trotz meiner Gefühle für Lucien war ich nicht bereit, mich zu opfern.
Was würde also passieren, wenn Ferro und Lucien unvorbereitet aufeinandertrafen? Lucien war bestimmt von Leidenschaft, Intuition und einem Funken Wahnsinn. Ferro hingegen von Kalkül, Taktik und jeder Menge Hass. Beide waren mehr als motiviert. Aber war Lucien wirklich so gut, wie Phoenix sagte? War seine Jugend ein Vorteil, war er schneller und trainierter – oder fehlte ihm Ferro gegenüber die Erfahrung?
Ich hatte keinen von beiden je in Aktion gesehen. Aber ich erinnerte mich an Ferros kontrollierte Bewegungen und seine taktischen Fähigkeiten, genauso wie ich um Luciens Körperbeherrschung und sein unschlagbares Gespür wusste. Er war größer und stärker, er hatte diesen Pseudo-Radical von mir heruntergezogen wie eine Puppe. Aber Ferro war schmal und wendig, vielleicht war das ein Vorteil, weil man ihn nicht kommen sah …
Meine Gedanken rannten Runde um Runde. Mal war ich sicher, dass Ferro keine Chance hatte, dann wieder zweifelte ich an Luciens Überlegenheit. Als es Zeit für den Flug zur Villa Mare wurde, hatte ich immer noch kein Ergebnis.
Ich wusste nur, dass alles in mir wünschte, Lucien möge wohlbehalten zurückkommen. Ferros Werk würde ihn überleben. Aber das, was zwischen Lucien und mir war, würde mit ihm sterben.
Wird es das nicht ohnehin nach dem Attentat auf den König? Immer wieder fragte ich mich das. Die ganze Zeit suchte ich nach Auswegen. Wenn mich niemand mit dem Mord in Verbindung brachte, konnte ich dann weiterhin in Maraisville bleiben? Während du weißt, wer Leopold getötet hat? Mit dem Wissen, dass du es warst, der ihnen den Tipp gegeben hat? Die Stimme in meinem Inneren lachte hysterisch.
»Ophelia?« Es klopfte an meine offene Tür. Ich zuckte zusammen. Emile stand im Rahmen. »Bist du so weit?«
»Fast.« Ich sah mich um. Der Behälter mit meinen EyeLinks lag auf der Ablage neben dem Bett. Ich ließ ihn durch meine Finger gleiten, dann schob ich ihn in die Tasche. Heute würde er dort bleiben. »Gehen wir.«
»So, fertig.« Raleida Jones, Stylistin des Hofes, berührte mich federleicht an der Schulter. Bis vor einer Stunde hatte ich keine Ahnung gehabt, dass der König überhaupt jemanden wie Raleida beschäftigte. In der Zwischenzeit hatte sie mich in mein Kleid gesteckt, geschminkt und meine Haare zu einem eleganten Knoten hochgesteckt. Ich sah aus wie eine ältere, kultivierte Version von mir selbst.
»Vielen Dank«, sagte ich und lächelte. Raleida erwiderte es und ging zum nächsten Tisch.
Die Schakale nutzten den größten Raum im zweiten Stock der Villa zur Vorbereitung. Es sah jetzt schon aus wie bei einer Party – überall gut gekleidete Menschen mit raffinierten Frisuren und teurem Schmuck. Nur die Stimmung passte nicht dazu. Es war ruhig, jeder konzentrierte sich auf sich selbst, checkte Waffen, InterLinks oder Outfits. Manche sprachen über letzte Details, andere lasen sich noch einmal die Informationen ihrer Tarnung durch. In der Nähe stand Dufort in einem perfekt sitzenden Smoking. Echo und er steckten gerade die Köpfe zusammen. Alle waren fokussiert, aber gelassen – alle außer mir. Als ich meinen Schmuck anlegte, fühlte es sich an, als rüstete ich mich für einen Krieg.
»Woah. Du siehst krass aus.« Emile machte große Augen, als er in den Raum kam.
»Danke. Also, falls das ein Kompliment war.« Ich sah an mir herunter. Mein Kleid saß wie angegossen und das dunkle Blau schimmerte matt. Die Waffe war an meinem Bein befestigt und unter dem Stoff nicht zu sehen.
»Auf jeden Fall. Du siehst aus wie ein Filmstar von früher.« Emile hatte sich bereits in seine graue Kellner-Uniform geworfen und seine wilden Haare am Hinterkopf zu einem Miniaturzopf gedreht. Ein Löckchen hatte sich daraus hervorgekämpft und stand von seiner Stirn ab. Ich steckte es wieder fest.
»Die bleiben wohl nie da, wo sie sollen«, grinste ich.
»Niemals. Das ist mein italopäisches Erbe.« Emile sah gleichzeitig stolz und unzufrieden aus. Er zeigte zum Fenster. »Hast du die Aussicht gesehen? Der Hammer!«
Bisher hatte ich keinen Blick für die Umgebung gehabt. Bei unserer Ankunft hatte ich zwar das Haus und den Garten registriert, aber nicht genauer hingesehen. Jetzt schaute ich aus dem Fenster auf das Mittelmeer, dessen Wellen aussahen, als hätte man ein blaues Stück Stoff gekräuselt. Irgendwo in der Ferne dümpelte ein leeres Boot an einer Boje, die untergehende Sonne tauchte alles in warmes Licht. Ich musste bei diesem Anblick unwillkürlich an Eneas denken, der das hier sicher gern auf Leinwand festgehalten hätte, und spürte einen winzigen Stich. Es war wunderschön.
Emile trat neben mich. »Wo ist denn dein Verlobter?«
Und schon war die Stimmung dahin. Ich konnte gerade noch ein genervtes Stöhnen unterdrücken.
»Keine Ahnung.« Ich sah mich um. »Wahrscheinlich steht er vor dem Spiegel und sagt sich selbst, wie scharf er ist.«
Wie aufs Stichwort kam Troy aus dem angrenzenden Bad. Er war wie aus dem Ei gepellt. Gel hielt seine braunen Haare aus dem Gesicht, sein Anzug war wie für ihn gemacht. Ich neigte mich zu Emile. »Und hier, meine Damen und Herren, sehen Sie das beste Beispiel dafür, dass gutes Aussehen nicht alles ist.«
»Das solltest du für heute Abend wohl besser vergessen.« Er grinste.
»Sagt mir wer, ein Kellner?«
»Aua, das tat weh.« Das Grinsen blieb und bekam Gesellschaft von einer gehobenen Augenbraue. »Aber ich dachte, wir haben eine heiße Affäre?«
Ich grinste mit. »Natürlich haben wir die, Schatz. Allein der Gedanke an das, was sich unter dieser Uniform befindet …« Ich tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust und schnurrte.
»Na, spielt ihr wieder Kindergarten?« Troy hatte uns entdeckt.
»Na, spielst du wieder eitler Idiot?«, fragte ich zurück. »Ach nein, das ist ja dein wahres Ich.«
»Der Appell beginnt in fünf Minuten.« Dufort hatte sein Gespräch beendet. Er zupfte an Emiles Fliege und an Troys Einstecktuch herum, schließlich rückte er meine Halskette zurecht. »Seid ihr so weit?«
Der Appell. Wenn er vorbei war, mussten wir nach unten, um dort zu sein, bevor die Gäste ankamen. Mein Magen vibrierte, als ich daran dachte, was bevorstand. Heute konnte eine neue Zeitrechnung beginnen, heute konnte ReVerse dafür sorgen, dass die Abkehr endete. Ich fragte mich, wieso ich bei dem Gedanken so ein aufdringlich mieses Gefühl hatte.
Haslock kam in den Raum, in eine schicke schwarze Uniform gekleidet. Er wurde begleitet von den Gardisten, die heute Abend für den Schutz des Königs sorgen würden. Sie waren alle groß, muskulös und einschüchternd, in ihren Gala-Uniformen noch mehr als sonst. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Kind, das ein Kleid seiner Mutter angezogen hatte, um Erwachsene zu spielen.
»Ladys und Gentlemen, wir haben einen wichtigen Abend vor uns.« Haslock legte die Hände aneinander. »Seine Majestät hat heute bedeutsame Gespräche zu führen. Unsere Aufgabe ist es, ihn dabei zu beschützen.« Er sprach von Leopolds Verdiensten, von Loyalität und Ehre, Verpflichtung und Treue. Es war ein kurzer Monolog, der mit einem Blick auf seine Uhr endete. »Ich verlange absolute Aufmerksamkeit. Es darf keine Sekunde geben, in der ihr mit den Gedanken woanders seid. Keinen Wimpernschlag, in dem ihr nicht eure Aufgabe erfüllt. Wenn der König fällt, fallen wir alle. Viel Erfolg.«
Alle Anwesenden schlugen die Fingerknöchel gegeneinander, was eine merkwürdige Art von Applaus erzeugte. Offenbar war es ein Ritual, also machte ich mit. Wenn der König fällt, fallen wir alle. Das hatte ich schon einmal gehört. Würde ich heute erfahren, ob es stimmte?
Die Truppe ging zur Tür, aber Dufort hielt uns drei zurück. »Denkt daran: Nicht mit dem König sprechen, wenn er nicht darum bittet. Nicht auf die Gäste zugehen, niemanden berühren und euren Bereich nicht verlassen.« Das hatte er uns jetzt schon mehrfach gesagt. Ich nickte trotzdem.
Wir gingen zur Treppe und blieben stehen. Meine EyeLinks kalibrierten sich.
»Bereit?« Dufort sah mich an.
Ich nahm Troys Arm und atmete aus.
»Bereit.«
29
Eine Stunde später war ich längst nicht mehr ich selbst. Irgendwann, während ich mit hochgestellten Persönlichkeiten über meine angebliche Familie redete, war Ophelia Scale verloren gegangen. Jetzt war ich eine Kopie von Sophie Forestier, die man mit Fakten gefüttert hatte, die sie im passenden Moment ausspuckte: mein bester Dozent an der Uni? Das persönliche Lieblingsbuch? Die entzückende Geschichte, wie ich meinen Verlobten kennengelernt hatte? Ich spulte die Antworten herunter, ohne darüber nachzudenken. Sophie Forestier war wie das Kleid, das ich trug: eine Hülle. Mehr nicht.
Ich hatte Erfahrung damit, für ReVerse Rollen zu spielen. Mal hier das ängstliche Mädchen in Nöten, mal dort eine Idle oder sogar eine Phobe. Und hier spielte ich ohnehin seit Monaten eine andere Version meiner selbst. Aber eben eine Version. Darunter war immer noch ich gewesen, meine Persönlichkeit, meine Gefühle. Jetzt nicht mehr. Ich funktionierte, reagierte, lächelte, als würde jemand anders mich steuern. Langsam wusste ich, warum Lucien diesen Job hasste.
Troys und mein Bereich war der kleine Raum neben dem Hauptsaal, in dem sich die meisten Gäste und auch der König befanden. Ich war froh, nicht mitten im Geschehen zu sein. Wen immer ReVerse schickte, würde vielleicht nicht nur den König töten.
Zivile Opfer waren Ferro vermutlich egal und ein paar Schakale nahm er sicher auch gerne mit.
Wenn ich mich nicht gerade im Gespräch befand, beobachtete ich die Leute. Zum Beispiel Amelie de Marais, die in einem hochgeschlossenen Kleid und mit strenger Frisur um Stella Viklund und ihren Vater herumscharwenzelte. Es wirkte fast, als wäre Ludvig Viklund der König, so sehr hofierte Luciens Schwester ihn. Stella, die in einem eisblauen Kleid steckte, sah sehr hübsch aus, war aber ungefähr so spannend wie ein Kleiderständer. Sie sprach höflich mit Amelie, zeigte aber deutlich, wie gelangweilt sie war. Leopold hatte seit der Begrüßung kein Wort mehr mit ihr geredet. Offenbar hatte Lucien recht gehabt.
Der König selbst trug einen modernen Gehrock aus dunkelblauem Stoff und sah damit elegant und hoheitsvoll aus. Er lächelte viel und gab sich nahbar, scherzte mit den Damen und lachte mit den Herren. So wenig ich ihn mochte, ich musste zugeben, dass er der perfekte Gastgeber war. Niemand außer Stella schien sich vernachlässigt zu fühlen.
»Montoya ist total verrückt«, hörte ich Emile auf meinen EarLinks sagen. Er musste gerade in der Küche sein, sodass er auf einem Kanal frei mit mir reden konnte. Beinahe hätte ich gegrinst.
Felipe Montoya, südamerikanischer Präsident und Ehrengast des heutigen Abends, war ein sehr großer und korpulenter Mann um die 60, der meist dröhnend lachte und kein Freund von Etikette zu sein schien. Mit seinem Gefolge, das aus seiner Frau, seinem Sohn und drei Beschützern bestand, war er wie ein Tornado in die Villa gefegt und lobte nun überschwänglich das Essen, die Gesellschaft und die Musik. Dazu schlug er Leopold ständig auf den Rücken, als wären sie Saufbrüder und nicht zwei der einflussreichsten Menschen der Welt. Sein Sohn Gabrio, ein hübscher dunkelhaariger Kerl in meinem Alter, sah aus, als wäre er gerne woanders. Es erinnerte mich an Zeiten, als mein Vater auf Dancefloor-Legende gemacht und jede Peinlichkeitsskala gesprengt hatte. Montoya und er hätten sich früher bestimmt gut verstanden.
»Immerhin ist er harmlos«, murmelte ich.
Wenig später wurde mir die Gesellschaft von Stella Viklund zuteil. Troy redete gerade mit einem Mann, der nach den Informationen meiner EyeLinks ein alter Freund des Königs war, als sie neben mir auftauchte. Sie sagte kein Wort, sondern stand nur da. Ich hätte mich gern verdrückt, aber leider war das keine Option.