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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Page 8

by Nikola Hotel


  »Mal sehen«, antwortete er einsilbig. »Vielleicht nach Kvilda und von dort aus zur Moldauquelle.«

  »Ah.« Ich nickte nur, weil mir nichts weiter einfallen wollte. Ein Ächzen war zu hören, dabei ging ein Ruck durch das Auto. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Was sollte ich tun? Ich konnte den Mann schlecht zwingen, den Kofferraum zu öffnen. Was, wenn er doch gefährlich war?

  Ich beschloss, so zu tun, als hätte ich das seltsame Geräusch nicht gehört. »Dann viel Spaß morgen. Und bitte denken Sie daran, dass Sie hier im Park kein Lagerfeuer anzünden dürfen.«

  Der Mann tippte sich an die Mütze. »Alles klar.«

  Geh, Isa! Geh jetzt!

  Meine Beine gehorchten zwar, dafür schwenkte mein Blick unwillkürlich zum Kofferraum zurück.

  »Ich sehe schon«, sagte er seufzend, »Sie glauben mir nicht. Wenn Sie wollen, können Sie sich gerne selbst davon überzeugen, dass ich keinen Hund bei dieser Kälte ins Auto sperre.«

  Wieso schwenkte er plötzlich um? Ein mulmiges Gefühl entstand in meinem Magen. Und auch, wenn meine Sinne mir dazu rieten, die Beine schnellstmöglich in die Hand zu nehmen und zu laufen, so hörte ich mich doch ein Okay murmeln.

  Mit einem Klackern entriegelten sich die Türen, doch anstatt den Kofferraum selbst zu öffnen, hob der Mann seinen Rucksack auf und begann darin zu wühlen. »Können Sie aufmachen?« Er deutete mit dem Kinn. »Ich habe gerade keine Hand frei.«

  »Klar«, sagte ich. »Kein Problem.«

  Ich spürte, wie seine Augen mir folgten, als ich zum Heck des Wagens ging. Meine Beine waren so schwer wie Sandsäcke. Ich hob die Hand und streckte sie aus, da sah ich im Augenwinkel, wie er etwas aus seinem Rucksack zog.

  Meine Hand berührte die Heckklappe.

  SCHLÄFENBLUT

  ISABEAU

  Kaum hatte ich die Heckklappe auch nur gestreift, unterbrach mich der Ruf einer Männerstimme.

  »Wo bleibst du, Isa? Erst machst du mich heiß, und dann lässt du mich ewig hängen.«

  Ich fuhr herum. Sergius kam direkt auf uns zu. »Ich war darauf eingestellt, mit dir ein paar krasse Szenen aus dem National-Geographic-Channel nachzustellen. Habe echt keinen Bock, dich erst im Dunkeln zu suchen.« Im Gehen stopfte er sich den T-Shirt-Saum in den Hosenbund. Er trug Alexejs Hosen. Darüber hatte er einen schwarzen Pullover gezogen, dessen Kapuze sein Gesicht halb verdeckte, nicht jedoch das dümmliche Grinsen, das er auf den Lippen trug.

  Ich ließ die Hand sinken, als hätte ich mich verbrannt. Irgendwas stimmte hier nicht. Was sollte dieser Auftritt? Ich warf dem Fremden einen Blick zu, der entschuldigend aussehen sollte, und zuckte mit den Schultern. »Ist schon gut, ich vertraue Ihnen da jetzt einfach mal. Und eigentlich geht es mich ja auch nichts an, was Sie da in Ihrem Auto transportieren.«

  Langsam wandte ich ihm den Rücken zu, aber seine ganze Aufmerksamkeit war ohnehin auf Sergius gerichtet.

  »Dann sind Sie Nico?«

  Sergius hatte uns erreicht. Er hielt dem Wanderer seine Hand hin. »Genau, Kumpel.«

  Der Fremde sah unschlüssig auf die ausgestreckten Finger. Vielleicht überlegte er, was Sergius damit eben noch angestellt hatte. Ich jedenfalls war auch nicht scharf darauf, mit Sergius in Berührung zu kommen. Der Mann zog die Hand aus dem Rucksack, stellte diesen aber nicht wieder ab. Im selben Moment, in dem er einschlug, riss Sergius ihn mit einem Ruck zu sich heran. Sein Kopf schoss nach vorn und traf den Mann krachend gegen das Nasenbein.

  Sakra! Ich sprang entsetzt zurück.

  Der Mann taumelte gegen das Auto und verdrehte die Augen. Blut spritzte aus seinen Nasenlöchern. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, dass Sergius ihm den Rucksack aus der Hand riss, während sein Gegenüber langsam zu Boden rutschte. Sergius schwang herum und gab mir einen harten Stoß, der mich beinahe umgeworfen hätte. »Hau ab!«

  »Hey!«, brüllte jemand, und dann knallte es ohrenbetäubend. Ich hatte keine Ahnung, was das war, oder warum Sergius dem Mann einen Kopfstoß verpasst hatte, aber ich war keine Idiotin und würde mich ganz sicher nicht mit Fragen aufhalten. Ich rannte los. Das Herz hämmerte mir bis in den Hals, als ich die Stufen zu meiner Hütte nach oben hechtete. Die Tür schwang auf, bevor ich den Griff überhaupt berühren konnte. Jaro stand mit schreckgeweiteten Augen vor mir. Keuchend sprang Sergius hinter mir in das Zimmer und knallte die Tür zu. Mit der Faust schlug er gegen den Lichtschalter. Das Licht erlosch, und er verriegelte blitzschnell die Tür.

  Jaro und ich waren entsetzt in die Mitte des Zimmers zurückgewichen. »Runter auf den Boden!«, befahl Sergius und presste sich neben das Fenster an die Wand. Der Rucksack des Wanderers baumelte von seinem Arm herab.

  »Was sollte das? Bist du jetzt völlig durchgeknallt?«, schrie ich ihn an, zuckte aber zusammen, als Jaro mich am Arm zerrte. Der Junge kroch unter den Schreibtisch, und obwohl ich das total hirnrissig fand, alarmierte mich die Furcht, die er ausstrahlte, und ich folgte ihm.

  Das war das Blödeste, was du je in deinem Leben gemacht hast, Isa!, schimpfte ich stumm, während ich auf Knien unter den Tisch krabbelte. Rennst vor einem harmlosen Wanderer davon und flüchtest dann mit Sergius in deine Hütte. Ausgerechnet mit Sergius!

  Der sagte immer noch keinen Ton, sondern hielt hinter der Gardine den Blick starr auf den Platz vor dem Haus gerichtet.

  Mein Herz pochte wie wild. »Ich habe Angst«, sagte ich und hätte mir selbst auf die Zunge beißen können, weil ich diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Jaro sog hörbar die Luft ein.

  »Ich bin ja jetzt da.« Sergius sagte das in einem Ton, als spräche er zu einem Kleinkind. Dann ging er in die Hocke, um unter dem Fenster auf die andere Seite zu rutschen, den Rucksack schleifte er dabei über den Boden.

  Dieser Idiot verstand aber auch gar nichts! Und warum zum Teufel hatte er den Rucksack überhaupt mitgenommen? »Aber ich habe Angst vor dir«, platzte es aus mir heraus.

  »Scheiße«, ließ Jaro von sich hören.

  Sergius schnaubte nur und riss den Rucksack auf. Ein Griff, und er zog einen länglichen Gegenstand heraus. »Mädchen, im Gegensatz zu diesem Typen wollte ich dich nur ficken und nicht gleich umbringen.«

  »Scheiße, Scheiße!«, wiederholte Jaro, und mir war auch sehr danach zu fluchen. Als ob das einen so großen Unterschied machte!

  »Und was genau ist an einem Nein so schwer zu verstehen, du mieser, kleiner Bas…?« Mir blieb das Schimpfwort im Halse stecken, als mein Gehirn begriff, was Sergius da in der Hand hielt. »Ist das etwa ein Revolver?«, keuchte ich.

  Mit einer Drehbewegung schraubte Sergius ein schwarzes Rohr auf den Lauf. »Eine Pistole. Und die hättest du in der nächsten Sekunde im Nacken gespürt, wenn ich nicht gekommen wäre. Ich dachte, du wärst intelligenter.«

  »Wieso intelligenter? Weil ich einen Revolver nicht von einer Pistole unterscheiden kann, verdammt?!« Ich hätte explodieren können vor Wut und Entsetzen. »Was hast du denn jetzt vor? Du kannst doch nicht einfach dieses Ding …«

  Sergius gab ein knappes Zischen von sich, was mich sofort verstummen ließ.

  »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, jammerte Jaro wieder, und ich tastete nach seiner Hand und drückte sie. »Keine Panik, bloß keine Panik. Versuch’ ganz ruhig zu atmen, okay?« Jaro nickte, aber im Grunde hatte ich bloß zu mir selbst gesprochen. Ich war nämlich diejenige, die kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren. Denn wenn es einen Zeitpunkt im Leben gab, der sich perfekt für einen hysterischen Anfall eignete, dann doch wohl dieser!

  »Er kommt wieder auf die Füße«, sagte Sergius, nachdem er erneut einen Blick nach draußen riskiert hatte. »Und leider läuft irgendwo da draußen noch ein Zweiter herum. Ich hätte dem Schwein das Genick brechen sollen, wie er es mit Laszlo getan hat.«

  »Also sind es die Jäger?« Jaro biss sich in die geballte Faust, dann rückte er noch näher an mich heran, was mich einerseits tröstete, aber andererseits auch daran erinnerte, dass er erst fünfzehn war. Kein Fünfzehnjähriger sollte in eine Situation wie diese geraten. Ich legte den Arm um seine Schultern. Trotz der Dunkelheit konnte ich an Sergius’ Silhouette erkennen, dass er nickte. »Die Leiche des Dritten muss im Kofferra
um liegen.«

  »Der Dritte ist tot? Wieso?«, fragte Jaro.

  »Das willst du gar nicht wissen, Junge.«

  Und ich wollte das erst recht nicht wissen! Danke, ich hatte noch von meinem letzten Erlebnis mit Sergius und einem Jäger genug! Das hinderte mein Gehirn aber nicht daran, sich die schlimmsten Bilder auszumalen. Bilder, die Erinnerung waren und kein Traum. Bilder, in denen Blut und Federn vorkamen. Eine Männerleiche und darüber ein ausgebreiteter Teppich aus schwarzen Rabenkrähen.

  Eine schreckliche Ahnung erfasste mich. Denn wenn die Männer wirklich keinen Hund bei sich hatten und der dritte Jäger tot war, musste etwas ganz anderes sich dort im Kofferraum gerührt haben. Etwas oder jemand anderes. »Aber das ist keine Leiche im Kofferraum«, raunte ich. »Ich habe Geräusche aus dem Auto gehört. Etwas hat sich da drin bewegt. Das ist auch der Grund, warum ich überhaupt reinsehen wollte. Denkst du, dass sie …«, ich stockte, »… oh Gott, denkst du, dass Alexej dort im Wagen sein könnte?«

  Mit einem lauten Fluch rutschte Sergius von der Tür weg und rannte gebückt zur anderen Seite meines Zimmers, wo ein zweites Fenster auf ein kleines Stück Wiese zeigte. »Es wäre besser gewesen, du hättest mir das gleich gesagt. Das hätte uns eine Menge Arbeit erspart.« Und bevor ich ihn davon abhalten konnte, hatte er den Riegel gedreht und den Fensterflügel weit aufgestoßen.

  »Du wirst doch jetzt nicht diese Waffe benutzen?«, fragte ich entgeistert und stürzte ihm hinterher zum Fenster.

  Sergius sah an sich hinunter, als hätte er ganz vergessen, dass er die Pistole noch immer in der linken Hand hielt. »Nein«, antwortete er lapidar. »Aber du.« Und damit drückte er mir die Waffe an die Brust. »Der Schalldämpfer dämpft nicht nur den Knall, sondern auch den Rückstoß. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass dir die Waffe um die Ohren fliegt, wenn du dich verteidigen musst.« Ohne abzuwarten, schwang er seine Beine durch die Öffnung. »Sperr das Fenster hinter mir zu und halte dich davon fern!«

  Geräuschlos ließ er sich nach unten gleiten und landete auf dem schneebedeckten Gras. Seine Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht, und sein Haarschopf leuchtete im Mondlicht wie pures Silber. Ich weiß nicht, warum mir das überhaupt auffiel. Ich hatte wahnsinnige Angst um Alexej, um Jaro und um mich selbst, doch das Mondlicht, das normalerweise alles grau abtönte, versilberte ihn, ließ Sergius aussehen wie einen Engel. Einen Gefallenen.

  Ich glaubte kein bisschen an die Existenz von Engeln, aber ich wusste, dass sie aus dem Himmel gestoßen werden, wenn sie zu stolz sind, zu willensfrei, zu lustvoll und keinen Respekt vor Gott und den Menschen haben. Wenn es danach ging, dann war Sergius ganz sicher ein Gefallener: Er war stolz, er war respektlos, ordnete sich niemandem unter und frönte in jeder Hinsicht seinen Gelüsten, was mich abstieß. Sergius war nicht aus Lehm geschaffen, dachte ich mit einem Gemisch aus Furcht und Faszination. Er bestand aus Feuer.

  »Aber was hast du jetzt vor?«

  »Ganz einfach: Deinen Fürsten aus diesem verdammten Wagen herausholen.« Sein Kopf tauchte ab und verschmolz mit der Dunkelheit, als er die Kapuze bis über seine Stirn zog. Ich verriegelte das Fenster. Jaro hatte den Platz unter dem Schreibtisch verlassen und war neben die Haustür gerobbt.

  »Der ist total irre«, flüsterte er mir zu.

  Und wie! Und jetzt rannte dieser Irre mehr oder weniger wehrlos ohne eine Waffe da draußen herum. Dabei war ihm der Schwarm und Alexej eigentlich völlig egal. Sergius wusste doch überhaupt nicht, was es hieß, sich um jemanden zu kümmern. Er wusste nicht, was Leid und Trauer bedeuteten, oder Reue. Für ihn war das ganze Leben ein Rausch, und er würde in seinen Tod rennen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.

  Hastig legte ich die Waffe zurück auf den Tisch, denn allein sie anzufassen, bereitete mir Übelkeit. »Kannst du was sehen?«, flüsterte ich Jaro zu, was aber völlig unnötig war, denn kaum hatte ich das gefragt, durchdrang ein Knall die Stille. Es hatte sich nicht nach einem Schuss angehört, sondern eher danach, als ob ein Schädel hart auf Metall stoßen würde. Trotzdem ließen wir uns beide sofort reflexartig auf den Boden fallen. Jaro legte seine Hände schützend über den Kopf, als zur Antwort gleich darauf mehrere gedämpfte Schüsse folgten. Bitte lass Sergius da wieder heil rauskommen, flehte ich stumm. Und bitte lass sie nicht das Auto getroffen haben! Was, wenn Alexej im Wageninneren dabei verletzt würde?

  Jemand brüllte, und das war ganz sicher nicht Sergius’ Stimme. Dann heulte ein Motor. Eine Sekunde später hörte ich Geräusche von durchdrehenden Reifen auf Schotter und einem sich entfernenden Auto. Als ich es wagte, wieder meinen Kopf zu heben und aus dem Fenster zu sehen, war dort draußen nichts als fahles Mondlicht und Schotter, auf dem Schneereste glitzerten. Von Sergius keine Spur.

  »Er ist weg«, rief ich verzweifelt aus. »Und das Auto auch.«

  Jaros Kopf tauchte neben mir am Fenster auf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde …«

  »Was?« Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

  »Ich wäre jetzt wirklich lieber zu Hause bei meiner Mutter.«

  Ich hätte gleichzeitig lachen und heulen können und klammerte mich am Fensterbrett fest. Eine gefühlte Ewigkeit starrten wir in die Dunkelheit, dabei konnte es nicht länger als eine halbe Stunde gewesen sein, in der Jaro und ich uns immer wieder Mut zusprachen.

  Da! War das nicht ein Schatten? Und tatsächlich tauchte aus dem angrenzenden Wald eine Gestalt auf, die seltsam schief aussah. Sergius kam mit langsamen Schritten auf die Hütte zu. Er wankte und zog seinen Pullover, der ihm über dem Rücken hochgerutscht war, herunter.

  Alle Vorsicht fiel von mir ab, und ich schloss die Tür auf. »Was denkst du nur, wer du bist? Bruce Willis?«, fuhr ich ihn an. Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung, weil er offenbar unverletzt war, und Wut, da er gedacht hatte, er könnte mit bloßen Händen mal eben zwei bewaffnete Verbrecher aufhalten.

  Aber auch Sergius sah wütend aus und kein bisschen nach jemandem, der meine Sorge zu schätzen wusste.

  Hastig wischte ich mir über die Augen. Ich wollte nicht, dass Sergius bemerkte, wie schwach ich eigentlich war. Und ich wollte auch nicht vor Jaro zusammenklappen. Er war noch ein Teenager, jünger als mein Bruder Timo. Er sollte nicht sehen, wie hilflos ich war, wenn er eigentlich Halt brauchte und jemanden an seiner Seite, der die Fahne hochhielt.

  Sergius strich sich das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. Dann starrte er auf seine blutverschmierte Hand.

  Oh Gott, er war angeschossen worden! Mir drehte sich der Magen um, und ich hielt mir die Hand vor den Mund.

  Sergius sah meinen entsetzten Ausdruck und wischte sich mit dem Ärmel über die Schläfe. »Krieg dich wieder ein, Isa. Das ist nicht mein Blut.« Er ließ sich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und wich meinen prüfenden Augen aus.

  Jaro hatte nichts davon beachtet. »Was machen wir jetzt?«, fragte er.

  Mir lag ein verzweifeltes »Woher soll ich das wissen?« auf den Lippen. Unwillkürlich flog mein Blick zurück zu Sergius, als erhoffte ich mir von ihm einen ausgeklügelten Plan B.

  Wir sollten die Polizei rufen. Das wäre wahrscheinlich vernünftig, und alles in mir schrie nach Vernunft, nach Hilfe. Aber was sollten wir denen erzählen? Dass Jäger ein paar Raben erschossen hatten und wir vermuteten, dass sie in ihrem Kofferraum einen weiteren Raben gefangen hielten? Einen Raben, einen einfachen Singvogel? Ich biss mir auf die Lippe. Im Augenblick sah es verdammt danach aus, als würden wir keine Hilfe von außen bekommen. Nicht einmal Lara und Marek konnte ich gestehen, was hier passiert war. Ein Wunder, dass die beiden nach dem Lärm noch nicht aufgetaucht waren.

  »Ich rufe Nikolaus an«, sagte ich und griff nach meinem Handy. »Vielleicht kann er uns irgendwie helfen. Er muss doch wissen, wo sich sein Vater aufhält oder was er im Schilde führt. Er muss doch irgendeine Ahnung haben.« Ich hasste es, wie verzweifelt und dumm meine Stimme klang. Keinesfalls wollte ich mich dieser Mutlosigkeit hingeben. Heulen konnte ich immer noch, wenn ich allein war. Wenn ich wusste, dass es wirklich einen Grund dazu gab. Noch musste ich hoffen. »Und wir müssen den Rest eures Schwarms finden. Vielleicht sind sie inzwi
schen an euren Schlafplatz zurückgekehrt. Einer von ihnen könnte etwas wissen, was uns weiterhilft.«

  Sergius winkte nachdenklich ab. »Sie wissen auch nicht mehr als wir.« Dann bückte er sich nach dem Rucksack des Jägers und hob ihn auf. »Erst einmal sehen wir nach, was sie eigentlich genau vorhaben.« Und ohne viel Federlesens schob er mit dem Unterarm alles bis auf die Waffe von meinem Schreibtisch herunter. Ich sah mit offenem Mund zu, wie meine wenigen Habseligkeiten zu Boden schepperten. Sergius verzog seine Lippen zu einem Grinsen, dann kippte er den gesamten Inhalt des Rucksacks auf den Tisch.

  DROHATEM

  ISABEAU

  »Sieht ganz so aus, als hätten sie wirklich vorgehabt zu wandern.« Sergius zog mit einem spöttischen Gesichtsausdruck eine Schachtel Munition für Jagdgewehre aus dem Haufen. Das Pendant zu dem Fetzen Pappe, den ich gefunden hatte. Außerdem zwei weitere Magazine mit je fünfzehn Schuss für die Pistole, die er als eine SIG-Sauer identifiziert hatte. Ich fand die Tatsache, dass er wusste, wie diese Waffe hieß, beinahe genauso erschreckend wie den Umstand, dass sie auf meinem Schreibtisch lag.

  Mir war nicht zum Scherzen zumute. Ich griff nach einer schwarzen Kladde in DIN-A5-Größe und klappte sie auf. Darin standen akribisch aufgelistet mehrere Seiten mit Kilometerangaben.

  »Sie haben ein Fahrtenbuch geführt.« Ich konnte nicht fassen, dass diese Verbrecher, diese Mörder tatsächlich aufschrieben, wann sie wie viele Kilometer gefahren waren und wie oft sie tankten! Das war einfach nur absurd. »Und sie haben die Quittungen eingeklebt.«

  »Deutsche Gründlichkeit«, unkte Jaro, dessen Gesicht wieder an Farbe gewonnen hatte und der jetzt in meiner Jogginghose auf dem Bett lümmelte.

  Ich blickte auf meine typische Unordnung: den Klamottenberg vor dem Kleiderschrank, die Kekskrümel auf dem Bettlaken, meine Berichte über Luchse, die ich mit viel Enthusiasmus begonnen, aber nicht beendet hatte und die sich nun als lose Zettel auf dem Fußboden verteilten, und musste feststellen, dass ich wohl absolut undeutsch war. »Ja«, sagte ich gedehnt. »Und ihr Tschechen seid natürlich alle wahnsinnig erfinderisch und gewitzt.«

 

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