Book Read Free

Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Page 9

by Nikola Hotel


  Er streckte mir die Zunge heraus und griente. Es war das erste Mal, dass er lächelte, seit er bei mir war, und das gab mir ein winziges Gefühl von Normalität zurück, auch wenn Normalität von uns weiter entfernt schien als die Milchstraße. Wir mussten herausfinden, was Wassilij vorhatte und wohin man Alexej bringen würde. Sergius hatte, nachdem die Jäger geflüchtet waren, den Schlafplatz des Schwarms aufgesucht und Milo und Arwed dort vorgefunden. Die beiden waren sofort aufgebrochen und folgten dem Pathfinder. Aber ich wollte auf alles vorbereitet sein. Deshalb widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder ganz dieser Kladde.

  Die ersten Einträge lagen mehr als zwei Monate zurück und die dazugehörigen Tankquittungen waren in Polen ausgestellt worden. Aber das konnte alles und gar nichts bedeuten. Alles, weil dies vielleicht ihr Ausgangspunkt gewesen war und sie dorthin zurückfahren würden; und gar nichts, wenn der Wagen nur ein Leihwagen war oder gar als gestohlen gemeldet.

  »Sie werden den Wagen abstoßen, so schnell es geht«, sagte Jaro, der dabei war, meine letzten Cracker zu vertilgen. Sergius war im Bad verschwunden, um sich das fremde Blut abzuwaschen. »Mit Einschusslöchern können sie wohl schlecht damit rumfahren, das fällt auf. Und außerdem wissen sie, dass wir wissen, wie er aussieht.«

  »Ich weiß überhaupt nichts mehr«, gab ich ihm zur Antwort. Und das war kein bisschen gelogen. Diese Strecke, die der Pathfinder zurückgelegt hatte, ergab überhaupt keinen Sinn. Sie waren damit kreuz und quer durch Ost- und Mitteleuropa gereist. Erst Polen, dann Tschechien, dann die Slowakei, Ungarn und letzte Woche Österreich. Von dort ging es wieder nach Tschechien. Erst gestern hatten sie in Bayern getankt, direkt hinter der deutschen Grenze, was insofern ungewöhnlich war, weil der Diesel hier immer noch billiger war als in Deutschland. Niemand fuhr zum Tanken über die Grenze, wenn er nicht einen ganz anderen Grund dafür hatte.

  Und auch sonst gab der Rucksack nichts Brauchbares her. Ein paar Rechnungen von Restaurants oder Imbissbuden. Kein Ausweis, keine anderen Papiere, wenig Bargeld, dafür aber ein paar Souvenirs, die mir nur noch mehr Rätsel aufgaben: In einer Papiertüte fand ich kunstvoll geschnitzte Sterne aus Holz, die man am ehesten noch an Weihnachten gebrauchen konnte. Und einen Anhänger aus flaschengrünem Stein, der nicht allzu wertvoll aussah.

  »Aus Český Krumlov«, hatte Jaro mit einem Blick auf die Verpackung gesagt. »Das ist vielleicht zwei Stunden von hier. Also mit dem Auto.«

  Meine Hand spielte mit meinem Smartphone. Ich hatte Nikolaus noch nicht angerufen. Erstens, weil ich nicht wusste, wie ich ihm schonend beibringen sollte, dass sein Vater nicht aufgegeben hatte, sich an den Raben zu rächen, dann weil mir klar wurde, dass er uns sicher nicht helfen durfte. Allein schon, um seine Familie nicht in Gefahr zu bringen.

  Sergius kam aus dem Bad und rubbelte sich mit einem Handtuch das Haar trocken. Meinem Handtuch, um genau zu sein. Immerhin hatte er die Hosen direkt wieder angezogen. Hastig vergrub ich meine Nase erneut im Fahrtenbuch, in der Hoffnung, doch noch einen nützlichen Hinweis zu finden. Und auch, damit ich Sergius’ vernarbten Oberkörper nicht sehen musste. Ganz im Gegensatz zu seinem engelhaften Gesicht schien sein Körper geradezu durch die Hölle gegangen zu sein.

  Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen. Am Rande nahm ich wahr, wie Sergius sich den Kapuzenpulli überzog, und stieß erleichtert die Luft aus. Er warf das Handtuch neben Jaro auf mein Bett und begann, sich die Schuhe zuzubinden. Er schwankte, als er sich wieder aufrichtete, und ich musste daran denken, welche Probleme Alexej manchmal noch hatte, wenn er sich als Mensch bewegte. Offenbar ging es Sergius nicht anders, und auch er hatte mit Gleichgewichtsproblemen zu kämpfen.

  Seufzend nahm ich das Handtuch vom Bett auf. Ich würde Sergius ganz sicher nicht darauf hinweisen, dass man ein nasses Handtuch zum Trocknen aufhängte. Das war alles völlig belanglos, und ich wollte ihn auch nicht unnötig reizen. Als ich ins Bad ging und das Badetuch über die Halterung warf, sah ich die hellroten Blutflecken darauf. Es würgte mich im Hals, und ich drehte den Hahn auf, um mir frisches Wasser über das Gesicht zu spritzen. Ein Schluchzen brach aus meiner Kehle hervor. Mehrmals schöpfte ich Wasser und klatschte es mir ins Gesicht. Nicht heulen, Isa! Du darfst dich jetzt nicht hängen lassen.

  Ich putzte mir die Nase und vermied den Blick in den Spiegel, der mir eh nur das zeigen würde, was ich schon wusste. Nämlich dass ich völlig fertig aussah. Ich war hundemüde, aber an Schlaf war nicht zu denken. Das Taschentuch stopfte ich mir in die Hosentasche, da stießen meine Finger an die Kompresse, mit der ich noch gestern Abend Alexejs Verletzung durch den Greifvogel abgetupft hatte. Ich warf sie in den Mülleimer, dann verließ ich das winzige Badezimmer und knallte die Tür hinter mir zu.

  »Wo ist Jaro?« Mein Bett war leer, und Sergius stand am Fenster und hatte die Gardine zur Seite gezogen. Nun ließ er sie fallen und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl.

  »Er besorgt uns die Autoschlüssel von diesem Kerl, der hier mit dir arbeitet.«

  »Marek«, sagte ich eine Spur zu giftig. »Er heißt Marek. Wäre schön gewesen, wir hätten das vorher abgesprochen. Wir müssen ihm den Autoschlüssel nicht klauen, er würde mir das Auto auch leihen, wenn ich ihn frage. Ganz abgesehen davon finde ich es nicht richtig, wenn du Jaro zu so was anstiftest.«

  »Hättest du ihn jetzt danach fragen wollen?« Mit dem Po rutschte Sergius im Sitz nach vorn und lehnte sich bequem zurück, die Arme hinter dem Kopf gekreuzt.

  »Natürlich nicht.« Er musste mich nicht erst darauf hinweisen, wie spät es war und dass Marek vermutlich längst schlief. Ich hätte einfach nur gern die Wahl gehabt, dachte ich und zog eine Grimasse. Gleich darauf sah ich, wie sich Sergius’ Mundwinkel zu einem Lächeln anhoben. Einem ehrlichen Lächeln, das mich in seiner Form an eine Apfelspalte erinnerte. Eine Apfelspalte mit geraden Zähnen und einem harten Kinn darunter, dem ich nur zu gerne einmal meine Faust entgegenschleudern würde.

  »Ich werde nirgendwo mit dir hinfahren«, teilte ich ihm mit, was sein Lächeln noch breiter werden ließ. »Jaro kann mich begleiten, und du kannst das tun, was du am allerbesten kannst.«

  »Und das wäre?«

  »Keine Ahnung«, sagte ich boshaft.

  Er schnalzte mit der Zunge.

  »Okay«, sagte ich und tat, als überlegte ich. »Vielleicht fliegen? Aas aufstöbern? Wehrlosen Frauen auflauern und versuchen, sie zu missbrauchen?«

  Er sprang so plötzlich auf, dass der Drehstuhl herumschwang und gegen den Schreibtisch krachte. Erschrocken wich ich zurück. Nicht so sehr erschrocken über seine Reaktion, als viel mehr über meine eigenen Worte. Wie konnte ich nur so blöd sein und riskieren, ihn damit in Rage zu versetzen? Musste ich ihn jetzt daran erinnern, was zwischen uns vorgefallen war? Ausgerechnet jetzt, wo wir hier alleine waren? Alexej verschleppt, Jaro in der Nacht unterwegs und Marek im Tiefschlaf knapp zweihundert Meter von mir entfernt?

  In der nächsten Sekunde spürte ich die Wand in meinem Rücken und Sergius’ Hand auf meinen Mund gepresst. Verdammt, er sah nicht einmal richtig wütend aus. Eher so, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Das Herz schlug mir so hart gegen die Rippen wie eine Faust gegen einen Sandsack. Sergius’ Augen leuchteten grün wie Moldavit. Wie der Anhänger, den wir im Rucksack der Jäger gefunden hatten. Ein Glas, das durch Meteoriteneinschläge vor mehr als fünfzehn Millionen Jahren entstanden war, dunkel wie Oliven. Mein Brustkorb wurde von seinem Unterarm zusammengequetscht, sodass ich nur schwer Luft holen konnte. Sergius griff nach meiner Hand, die hilflos an mir herabbaumelte, und schob sie sich zwischen die Beine. Meine Augen schrien ihm ein hilfloses Nein entgegen, doch ich konnte nur ein Stöhnen von mir geben. Meine Hand an seinen Schritt reibend, beugte er sich vor und lehnte seine Stirn gegen meine. Ganz leicht, beinahe zärtlich.

  »Ich dachte«, raunte er, »wir wären inzwischen quitt.«

  Meine Panik musste mir deutlich anzusehen gewesen sein, denn er verstärkte den Druck nicht, sondern wartete auf eine Erwiderung.

  Quitt?? Weil er mich vor einer blutrünstigen Hundemeute gerettet hatte? Weil er den Jäger zur Strecke gebracht hatte, der Alexej mit dem Pfeilgift angeschossen
hatte? Weil er versucht hatte, Alexej aus dem Auto zu befreien?

  Unter meiner Hand spürte ich sein Glied hart werden und kniff die Augen zusammen, weil ich den Kopf nicht bewegen konnte. Die Finger über meinem Mund lockerten sich endlich, und ich nickte. Einmal, zweimal. Okay, wir sind quitt. Quitt. Ich nickte wieder. Ich versuchte es auszusprechen, aber es kam nur ein undeutliches Gebrabbel heraus.

  Sergius zog seine Hand weg. »Was hast du gesagt?«

  Gierig holte ich Luft und schluckte dann die Angst hinunter. »Sch…wamm drüber«, stammelte ich. Erst dann gab er meine Hand frei.

  WUTSCHWUR

  ISABEAU

  »Was ist los?« Jaro war hereingestiefelt und hatte den Autoschlüssel triumphierend in die Höhe gehalten. Als er bemerkte, dass ich eng an der Zimmerwand stand und Sergius seine Hände nun langsam in den Hosentaschen verschwinden ließ, zuckten seine Augenbrauen in die Höhe. »Habt ihr euch gestritten?«

  »Ganz im Gegenteil.« Erst jetzt wandte Sergius ihm den Kopf zu. Aus dem noch feuchten Haar liefen Wassertropfen über seine Schläfe. »Wir haben uns einmal so richtig ausgesprochen, nicht wahr, Isa?«

  Mein Blick klebte an diesen Tropfen an seiner Schläfe fest, die sich plötzlich rot färbten. Blutrot. Ich wünschte, er würde endlich weggehen. Er war mir so nah, dass der Stoff seines Pullovers meinen Bauch streifte. »Ich glaube, du blutest«, sagte ich anstelle einer Antwort und war selbst überrascht über meine Worte, weil es nicht sein konnte.

  »Was?« Sergius’ Kopf schwang zu mir herum, und mit dieser Bewegung sickerte ein dickes Rinnsal hellroten Blutes über seine Wange, hing für Sekunden von seinem Kinn herunter, bevor es sich löste und zu Boden tropfte. Sergius schwankte, schien davon aber überhaupt nichts zu spüren. Wie hypnotisiert starrte ich auf das Muster, das nun immer schneller auf seine Schulter tröpfelte.

  »Du blutest, Sergius.«

  Er verdrehte die Augen, und ich erwartete, dass er sich genervt von mir abwenden würde, doch dann sackte er ganz plötzlich nach unten weg. Es krachte, als er mit Schulter und Kopf gegen mein Bettgestell stieß und schließlich auf dem Boden aufprallte.

  Jaro ließ den Autoschlüssel fallen. »Was hast du mit ihm gemacht?«

  Ich stürzte auf die Knie und beugte mich über Sergius, diesen verdammten Idioten! »Sergius?« Mit der flachen Hand klatschte ich ihm gegen die Wange. »Hörst du mich?« Und an Jaro gewandt: »Ich habe überhaupt nichts gemacht, er ist einfach so umgefallen.«

  Neben mir kniend drehte Jaro Sergius’ Kopf zu sich und schob mit der Hand ein paar Haarsträhnen zur Seite. Er gab ein Ekelgeräusch von sich, und ich konnte diese Reaktion sehr gut verstehen, als ich sah, woher das Blut stammte: Oberhalb von Sergius’ rechtem Ohr verlief über mehrere Zentimeter eine kerzengerade Wunde. Etwas hatte die Kopfhaut hinter der Schläfe aufgerissen und einen Graben gezogen. Das Blut sickerte immer noch heraus. Vom viel zu langen Haar verdeckt, hatte ich das vorher nicht gesehen.

  »Er muss das doch gemerkt haben!« Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Lass ihn uns auf das Bett legen«, sagte ich. Jaro packte ihn unter den Armen, und ich übernahm die Beine. Gemeinsam wuchteten wir den schlaffen Körper unter Ächzen auf die Matratze. Schnell holte ich Verbandszeug aus dem Badezimmer. Hatte ich gestern noch gescherzt, ich sollte meinen lange zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurs auffrischen, bekam ich diesen heute gleich gratis. Und so langsam, ganz ehrlich, hatte ich die Schnauze voll davon. Hektisch riss ich eine neue Verpackung steriler Kompressen auf und schob damit die blutverklebten Haare beiseite.

  »Eigentlich müsste ich alles rund um die Wunde wegrasieren«, überlegte ich laut.

  »Und warum tust du es dann nicht?« Mit großen Augen starrte Jaro auf die Sachen, die ich auf dem Kopfkissen ausgebreitet hatte. Er vermied jeden weiteren Blick auf die Wunde.

  »Ich tu’s ja«, raunte ich. »Ich tu’s, aber es … Kannst du mir helfen? Kriegst du das auf die Reihe?«

  »Nnja«, machte er und räusperte sich. Er hielt Sergius’ Kopf nach oben, damit ich ein Handtuch darunter ausbreiten konnte. Ich beobachtete, wie sich dessen Brustkorb hob und senkte.

  Wir hatten nicht mal ein paar Einmal-Handschuhe, aber das war nun auch schon egal, wo Sergius’ Haare bereits in der Wunde klebten. Prüfend tippte ich mit der Fingerspitze auf meinen Rasierer, den ich normalerweise für meine Beine verwendete. Ich spülte ihn unter fließendem Wasser ab, was bestimmt besser war als nichts, und sprühte ihn mit Desinfektionsmittel ein. Dicht gebeugt über Sergius’ Schläfe dachte ich daran, dass es ganz sicher ein Vorteil war, ihn gerade k. o. zu erleben, sonst würde er mich umbringen, wenn er mich mit einer Klinge in der Hand sah. Ich biss die Zähne zusammen, bevor ich den Rasierer ansetzte und knapp neben der Wunde entlangzog. Blut lief mir über die Finger, und ich blaffte Jaro an, weil er mir nicht schnell genug abtupfte.

  »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich sofort. »Ich meine das nicht so, es ist nur …« Ich verzog das Gesicht.

  »Scheißegal, Isa! Mach einfach, ich nehm’s nicht persönlich.«

  Dafür musste man diesen Jungen einfach lieben!

  »Wieso hat er das nicht gespürt?«, fragte ich mich laut, während ich eine kleine Plastikphiole mit Salzlösung über der Wunde ausdrückte, um sie zu reinigen. »Er muss das doch merken, wenn er verletzt ist.« Das sah ganz nach einem Streifschuss aus. Zumindest so, wie ich mir einen Streifschuss vorstellte, denn so was hatte ich noch nie zu sehen bekommen. Natürlich hatte ich auch schon Wild gefunden, das erschossen worden war, aber dabei handelte es sich meistens um einen glatten Durchschuss, der sich durch den Körper tunnelte und an anderer Stelle wieder austrat. Oder um Verletzungen durch Schrotkugeln, die viele kleine einzelne Löcher im Fell hinterließen. Ganz abgesehen davon, bei einem Menschen konnte ich auf diesen Anblick wirklich verzichten!

  »Ich glaube, er merkt überhaupt nichts«, raunte Jaro mir zu.

  »Wie meinst du das?« Mit zusammengebissenen Zähnen klebte ich mehrere halbdurchsichtige Steri-Stripes unter Zug über die Wunde, um sie so weit wie möglich zu schließen.

  »Na ja«, druckste er herum. »Er friert nie. Ganz ehrlich, ich friere mir den Arsch ab, wenn ich mich verwandle und ohne Klamotten draußen herumlaufen muss. Auch wenn’s nur zwei Minuten sind.«

  »Und du meinst, er friert nicht?« Ich lehnte mich zurück und begutachtete den Sitz des Pflasters.

  »Er hat nicht einmal eine Gänsehaut. Nie. Ich habe schon mal daran gedacht, dass er deshalb vielleicht manchmal so … grob ist. Weil er anders gar nichts merkt.«

  Überrascht hob ich den Kopf, denn das fand ich äußerst interessant. Meiner Meinung nach gab es nichts, was Sergius’ Verhalten in irgendeiner Weise rechtfertigen würde, auch wenn Alexej noch so oft betonte, er habe eine schreckliche Kindheit gehabt. Das konnte doch wohl nicht als Entschuldigung für alles herhalten. Und nur, weil Sergius selbst vielleicht ein grober Klotz ohne empathische Fähigkeiten war, gab ihm das nicht das Recht, andere zu verletzen.

  Trotzdem war es interessant.

  Jaro füllte etwas Schnee in einen Plastikbeutel und wickelte ihn in ein Küchentuch. Damit hatten wir eine perfekte Kühlkompresse, die ich vorsichtig auf seiner Schläfe ablegte.

  »Was machen wir, wenn er nicht aufwacht?«, fragte Jaro tonlos.

  Darüber grübelte ich auch nach. Ob es nicht fahrlässig war, diesen Streifschuss selbst zu behandeln? Ich hatte zwar noch nie davon gehört, dass jemand daran gestorben wäre, aber eine Infektion wollte ich auch nicht riskieren. »Dann bringen wir ihn ins Krankenhaus«, sagte ich bestimmt. »Aber nur, wenn er nicht aufwacht.«

  Doch selbst, wenn er aufwachte, konnte ich unmöglich von ihm verlangen zu fliegen. Alles lief darauf hinaus, dass er und ich uns gemeinsam in Mareks Auto setzen mussten, um den Jägern zu folgen. Und das gefiel mir ganz und gar nicht.

  »Ich kläre das mit dem Schwarm«, sagte Jaro und unterbrach damit meine Überlegungen. »Ich treffe mich mit Milo und Arwed, und wir wechseln uns ab, damit wir die Spur nicht verlieren, und Sergius und du nehmt das Auto.« Er warf mir den Schlüssel zu, den er zuvor aufgeklaubt hatte und der nun klirrend in meinem Schoß landete.
Sein breites Grinsen zeigte mir, dass es ihm offensichtlich guttat, etwas entscheiden und anpacken zu dürfen.

  »Okay«, sagte ich. Bevor ich meine müden Glieder vom Bett stemmte, kontrollierte ich, ob Sergius’ Verband nicht durchblutete, dann öffnete ich meinen Kleiderschrank und zog eine kleine Reisetasche heraus. Wer wusste schon, wie lange wir unterwegs sein würden?

  Es gab nicht viel mitzunehmen, denn das Wichtigste würde ohnehin etwas zu essen sein und vermutlich Verbandsmaterial. Wenn wir Alexej fanden – und das würden wir, das schwor ich mir! –, dann war er unter Umständen verletzt, unterkühlt und geschwächt. Es war mir egal, ob ich darauf verzichten musste, unterwegs meine Zähne zu putzen, aber ich würde nichts vergessen, was lebenswichtig war. Überlebenswichtig.

  Von meinem Bett aus war ein Stöhnen zu hören. Sergius rollte sich umständlich auf die Seite und fasste sich an seinen Hinterkopf, womit er eben nicht sehr sanft aufgeschlagen war. Geschah ihm recht! Kleine Sünden strafte der liebe Gott sofort, und Sergius hatte in seinem Leben vermutlich schon einiges angehäuft.

  »Kannst du aufstehen?«

  »Bestimmt«, nuschelte er. »Aber ich will nicht.« Noch hatte er die Augen geschlossen, und solange ich diese olivgrünen Tiefen nicht sah, konnte ich mir einbilden, dass er ein netter Kerl war. Ein netter junger Kerl mit weichen Gesichtszügen.

  Ich bat Jaro, den Rucksack des Jägers schon ins Auto zu bringen, und stopfte schnell noch einige Klamotten in die Tasche. Sachen, die die Raben brauchen würden, wenn sie sich verwandelten. Kaum hatte Jaro das Zimmer verlassen, setzte ich mich neben Sergius aufs Bett und holte tief Luft.

  »Bevor wir zusammen in dieses Auto steigen, musst du mir etwas versprechen.«

  Sein blondes Haar fiel über den Verband, als er mit der Hand hindurchfuhr. Die kahle Stelle wurde fast vollständig verdeckt. Seine Brauen verengten sich.

 

‹ Prev