Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)
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»Streck die Arme aus, mach sie ganz steif, und dann rammst du sie mir mit dem ganzen Gewicht deines Oberkörpers gegen den Brustkorb wie ein Footballspieler. Schon besser, aber beim nächsten Mal machst du das tiefer, genau da, wo meine Lungen sind. Und wenn ich dann nach Luft schnappe, schlägst du mir deine Faust in die Eier, ist das klar?«
»Ich denke, das kriege ich hin, auch ohne, dass wir es proben.«
Ewa hatte große Augen bekommen, als sie sah, was wir da machten. Ihr Blick huschte zwischen ihrem Vater und mir hin und her.
»Wenn du jemandem die Finger ins Auge stichst, dann denk daran, sie steif zu machen. Du willst dir doch nicht deine hübschen Fingerchen brechen.« Er fasste mich am Hinterkopf und tat, als rammte er mir Zeige- und Mittelfinger genau in die Augen. Ich zuckte zusammen, obwohl ich wusste, dass er mir nicht wehtun würde, und auch Ewa gab ein Quieken von sich.
Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. »Ich werde bestimmt niemandem die Finger ins Auge stechen.«
»Du kannst nicht erwarten, dass jemand anders das für dich tut. Das Leben ist kein beschissenes Märchen, Isa. Da kommt kein Held auf einem beschissenen Schimmel und rettet dich.« Wie immer, wenn er sich aufregte, wurde seine Wortwahl etwas eintönig und jedes zweite Wort bestand aus einem Fluch.
Jetzt konnte ich erst recht nicht aufhören zu lächeln. »Ich weiß.«
»Und dreh dich zur Seite. Immer! Wenn jemand mit einem Messer auf dich losgeht, bietest du ihm nicht die volle Angriffsfläche, sondern drehst dich, packst das Handgelenk, mit dem er die Waffe hält, und schlägst sie ihm aus der Hand. Und vergiss deine Füße nicht. Du trittst ihm das Standbein weg, ist das klar?«
»Das kann ich mir nie im Leben alles merken. Wir hätten damit vielleicht vor ein paar Monaten anfangen sollen.«
»Vor ein paar Monaten wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt«, sagte er, und es klang seltsam dunkel aus seinem Mund. So als ob er das bedauerte. »Vor ein paar Monaten wusstest du nicht einmal, dass wir Raben überhaupt existieren.«
»Das fällt mir auch jetzt noch schwer zu glauben«, gab ich zu.
»Los, gehen wir«, sagte er plötzlich, und mein Herz begann sofort wie wild zu pochen. »Gehen wir zu den anderen. Und zu deinem Fürsten.« Er wandte sich noch einmal an Jaro und vermied es dabei, Ewa anzusehen. »Du weißt, was du zu tun hast, Junge, also benimm dich wie ein Mann und nicht wie eine Memme.«
Jaro knirschte mit den Zähnen, war aber so klug, nicht darauf zu antworten.
Warum nur musste Sergius immer nachsetzen, wenn man gerade das Gefühl hatte, ihn zu mögen? Jedes Mal, wenn ich davon überzeugt war, dass ich mich in ihm getäuscht hatte und er dieses Raue, Wilde in ihm nur vorschützte, um sich nicht verletzen zu lassen, dann bewies er mit seiner Grobheit wieder das genaue Gegenteil.
Durch das kaputte Fenster waren Geräusche von herannahenden Fahrzeugen zu hören.
»Schnell!« Sergius fuhr sich durch das zu lange Haar, das ihm trotzdem wieder ins Gesicht fiel. Ich wünschte, ich hätte gewusst, was er wirklich dachte. Ob er sich wirklich nach diesem Thrill sehnte, wie er angedeutet hatte?
Wir verließen die Bibliothek, ohne uns noch einmal umzudrehen. Im Korridor drückte ich auf den Lichtschalter, und die beiden Glühbirnen in den Wandlampen blitzten nur einmal kurz auf und gaben einen Knall von sich. Es war stockdunkel, als Sergius langsam voranschritt. Plötzlich blieb er stehen.
»Vertraust du mir?« Er tastete nach meiner Hand. Und auch, wenn es nachtschwarz in diesem Korridor war und ich nichts, aber auch gar nichts erkennen konnte, wusste ich doch ganz genau, dass er eine Gänsehaut hatte. Weil ich sie nämlich auch spürte. Überall.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich traue dir kein bisschen über den Weg.«
Aber das war gelogen. Ich legte meine Hand in seine. Wir waren Freunde, und ich würde ihm mein Leben anvertrauen.
»Gut so«, sagte er.
TODFREUND
ALEXEJ
Die Reifen der herannahenden Autos knirschten über den Kies. Keine Gewalt, darin waren wir uns alle einig. Wir würden Ewa nicht herausgeben, denn sie gehörte zu unserem Schwarm. Aber wir würden auch die Söldner nicht attackieren. Wir würden nicht anfangen!
»Ich öffne das Tor«, sagte ich.
»Ich halte das immer noch für eine Scheißidee.« Milos Bass dröhnte viel zu laut. Er konnte einfach nicht flüstern, selbst wenn es um sein Leben ginge. »Schon klar, dass wir sie nicht angreifen, aber sie gleich einladen?«
András lehnte lässig in einem der Alkoven, und Arwed stand neben ihm wie eine deutsche Eiche. Groß, breit und nahezu unverwüstlich. Das Bild hätte Isabeau gefallen, erinnerte es sie bestimmt an Schillers deutsches Heldenblut. Doch wir waren keine Helden, wir waren Raben.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht öffnete ich das große Tor. Diesmal aber nicht nur den einen Flügel, sondern beide Seiten. Drei schwarze BMWs standen auf dem großen Platz vor dem Eingang, etwa zwanzig Meter von uns entfernt. Die Scheinwerfer blendeten mich. Ich schützte meine Augen vor dem weißen Licht, indem ich sie mit der Hand abschirmte, und doch war ich völlig schutzlos.
Die hintere Tür des ersten Wagens öffnete sich. Wegen des Lichts konnte ich nur seine Silhouette sehen, doch auch so reichte es aus, um mir das Herz in die Hose rutschen zu lassen. Auf den ersten Blick sah er wirklich aus wie Wassilij, nur der Gang war zu jung, auch wenn die Person den Weg nicht mit festem Schritt zurücklegte. Wassilij war krank, er würde eingesunken gehen, immer eine Hand an der Brusttasche nach seinem Taschentuch tastend.
Nikolaus. Er hatte verdammt noch mal Nikolaus vorgeschickt, und der sah aus, als würde er zur Schlachtbank geführt. Zwei Meter von mir entfernt blieb er stehen. Seine Hand, die er zur Begrüßung kurz anhob, zitterte.
»Niki«, flüsterte ich.
»Mein Vater schickt mich, um den weißen Raben abzuholen«, sagte er tonlos. Aber mich konnte das nicht täuschen. Er war verzweifelt, auch wenn er äußerlich ganz starr wirkte. Seine Augen bewegten sich hektisch von links nach rechts.
»Sie hat sich verwandelt«, sagte ich.
Nikolaus zuckte zusammen, und ich verspürte alles andere als Genugtuung dabei, die nächsten Worte auszusprechen. »Ein Mädchen, vielleicht so alt wie deine Marina.«
»Das ist nicht wahr!«
»Du weißt, dass ich dich nie anlügen würde. Und auch, dass ich sie dir jetzt nicht mehr geben kann.«
»Scheiße«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, dann nickte er langsam. »Und du weißt, dass er nicht auf sie verzichten wird.«
Ich nickte ebenfalls.
Nikolaus wirkte gehetzt, als er weitersprach. »Er hat meine Frau«, zischte er. »Katha sitzt im letzten Wagen. Er hat gesagt, dass er niemals seinen Enkelkindern wehtun könnte, aber er hätte keine Bedenken, ihr wehzutun.«
Mir stockte der Atem. »Die… dieses Schwein.«
»Er hat außerdem gesagt, dass es an dir liegt, Alexej. Du hast es in der Hand, das Ganze zu beenden. Du hast quasi das Leben meiner Frau in der Hand.«
»Du weißt nicht, was du da sprichst!« Wut kochte in mir hoch. Wie konnte Wassilij es wagen, mich dafür verantwortlich zu machen? Wie konnte er es wagen, mir diese Entscheidung aufzuzwingen? »Nichts habe ich in der Hand«, raunte ich. »Gar nichts. Ich stehe mit leeren Händen vor dir. Ich kann dir nicht geben, was mir nicht gehört.«
»Aber du kannst mir auch nicht nehmen, was dir nicht gehört!«, stieß er verzweifelt hervor.
Heilige Mutter Gottes, er wollte, dass ich dieses Kind herausgab! Er verlangte es! Nicht für seinen Vater, sondern für sich, für Katharina. Magensäure stieg in mir auf, und ich schluckte den sauren Geschmack herunter. Wie konnte Wassilij uns das nur antun?
»Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem wir einsehen müssen, dass wir wegen der Geschichte unserer Väter keine Freunde sein können«, sagte ich, und das Herz wurde mir unendlich schwer.
»Nein!«, rief Nikolaus aus. All seine Verzweiflung schien sich aus ihm Bahn zu brechen. »Natürlich können wir das! Wir geben ihm diesen weißen Raben, und dann wird er zufrieden sein.« Er nickte, wie um sich selbst in d
ieser irrsinnigen Aussage zu bestätigen. »Wir geben ihm den Raben, Alexej. Sag mir, dass du ihn herausgibst, und ich verspreche dir, dass es endlich ein Ende hat.«
Wie unendlich hilflos er war. Wie unendlich hilflos wir beide waren. Denn Wassilij würde niemals zufrieden sein, solange noch ein Rabe von uns atmete.
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte ich tonlos.
»Ich werde dich hassen, Alexej. Was auch immer nun passiert, ich werde wissen, dass du es hättest verhindern können, und ich werde dich hassen.«
»Du kannst mir nicht die Verbrechen deines Vaters aufbürden, Niki.« Ich war hin- und hergerissen. »Du weißt, dass ich dich liebe wie einen Bruder –«
»Aber du bist nicht der Hüter deines Bruders, willst du das damit sagen?«
Er wusste, dass er verloren hatte, und hasste mich bereits jetzt. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn Wassilij hatte mich in eine Situation gebracht, für die ich mich selbst hassen musste. Aber war ich ein Mörder, weil ich das eine Verbrechen in Kauf nahm, um das andere zu verhindern? Ich war nicht Kain, verdammt! Hier ging es doch gar nicht um mich!
»Sie heißt Ewa«, begann ich.
»Es ist mir scheißegal, wie sie heißt!«, brüllte Nikolaus unbeherrscht. »Sie ist nur ein Rabe! Sergius kann Dutzende Raben zeugen, wenn er das will. Sie ist nichts Besonderes, nicht real.« Er schluchzte auf wie ein kleines Kind. »Wir sind seit sieben Jahren verheiratet. Ich liebe Katha mehr als mein eigenes Leben. Denkst du mal an unsere Kinder? Denkst du mal daran, wie es wäre, wenn Isa –«
»Sie heißt Ewa!«, schrie ich ihn an. »Sie ist vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Sie hat ein Recht darauf zu leben, Niki! Ich kann sie dir nicht geben. Ich kann sie dir nicht geben!«, wiederholte ich.
»Aber er wird sie sich so oder so holen!«
Für einen Moment herrschte eine gespenstige Stille zwischen uns. Eine Stille von einer Farbe, die mir neongelb ins Auge stach.
»Du bist doch so bibelfest«, flüsterte er plötzlich. »Und du weißt sicher, dass Kain nach dem Mord an seinem Bruder gebrandmarkt worden ist, damit jeder sehen konnte, dass er ein Mörder ist.«
Nikolaus war keinen Schritt näher gekommen, aber seine Worte nahmen mir die Luft zum Atmen, als drückte er mir die Kehle zu. Den Raben zwischen meinen Schulterblättern verdankte ich ihm. Das Tattoo – es war sein Werk.
»Ich bin bereits gebrandmarkt.«
»Ja.«
Das schlichte Wort reichte aus, um mir zu drohen. Jede Luft schien meinen Körper zu verlassen. Hätte er mich jetzt geschlagen, ich wäre zu keiner Gegenwehr fähig gewesen.
»Tu das nicht, Niki«, sagte ich. »Lass uns nicht für unsere Väter büßen.«
Er wandte sich ab. Jeder Schritt, den er sich von mir entfernte, war ein Felsen, der fiel; der alles zum Einsturz brachte. Ein letztes Mal drehte er sich um. In seinen Augen standen Tränen.
»Du hättest es verhindern können, Alexej. Wenn du gewollt hättest, dann hättest du es verhindern können.«
NACHTJÄGER
ALEXEJ
Kaum war Nikolaus losgegangen, startete der Motor des letzten Wagens. Der Wagen, in dem Katharina saß. Das Scheinwerferlicht fuhr in einem Bogen über den Platz, dann sahen wir beide nur noch seine Rücklichter wie zwei Wolfsaugen, die in der Dunkelheit glühten.
Nikolaus blieb stehen und ballte seine Hände zu Fäusten. Fast erwartete ich, er würde in sich zusammensinken, einfach umfallen wie ein gefällter Baum – dann bewegte er sich wie ein Geist und stieg ins Auto.
Ich schloss das Tor, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hörte, wie auch die anderen Motoren starteten und über die Auffahrt das Schlossgelände verließen. Aber sie würden wiederkommen. Sie würden wiederkommen, um sich Ewa zu holen. Nur dass es Katharina vermutlich nicht mehr helfen konnte. Und ich hatte, obwohl ich es nicht wollte, eine Entscheidung getroffen, die Nikolaus’ und meine Freundschaft auf immer zerstörte. Eine Entscheidung, die mich zum Mörder machte und mit der ich leben musste.
»Dann können wir ja jetzt alle wieder ins Bett gehen.« Sergius trat aus dem Schatten heraus. Ich wusste gar nicht, dass er gekommen war, geschweige denn, wie lange er schon dort stand. Seine Worte wirkten wie eine Eisdusche.
»Habt ihr nicht gehört, was Nikolaus gesagt hat?«, fragte ich.
»Doch.« Milo nickte, die anderen schwiegen betreten.
»Klar haben wir alles gehört.« Sergius verschränkte seine Arme vor der Brust. »Du bist wirklich ein wahrer Freund. Falls ich mal in so eine Situation kommen sollte, vergewissere ich mich vorher, dass du an meiner Seite stehst.«
»Halt die Klappe!«, fuhr ihm Milo über den Mund. »Es ist unfassbar. Können wir denn gar nichts für seine Frau tun? Wir können doch nicht einfach so zusehen!«
Sergius schnaubte. »Auf jeden Fall können wir dafür sorgen, dass ihr großes Opfer nicht umsonst gewesen –«
Eine Explosion durchschlug die Stille. Der Knall war so ohrenbetäubend laut, als käme er aus nächster Nähe. Wir zuckten zusammen und duckten uns auf den Boden, der zu schwanken schien, als am Himmel ein roter Feuerball aufstieg. Arwed war der Erste, der in seinen Rabenkörper einbrach und nach oben schoss, um die Ursache festzustellen. Er kreiste über dem Innenhof und verschwand dann in westlicher Richtung. Genau dorthin, wo die Straße von der Burg an den Schiffsanlegeplätzen vorbeiführte.
»Bis eben war ich noch sicher, dass sie nicht auf die Idee kommen würden, die Burg in die Luft zu jagen. Jetzt kommen mir Zweifel.« Selbst András hatte die Explosion aus der Reserve gelockt. Der sonst so zurückhaltende Ungar stieß einen Fluch aus.
»Wo ist Isabeau?«, fragte ich, und aus irgendeinem Grund sah ich Sergius an, als müsste ausgerechnet er wissen, wo sie war.
»Wo hast du sie denn hingeschickt?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. Seine Miene war undurchdringlich.
Die Bibliothek! Offenbar war sie wirklich mit dem General und Ewa in die Bibliothek gegangen. Gott sei Dank!
Es dauerte lange, bis Arwed zurückkam. Er landete in der Mitte des Hofes und krächzte.
Sergius wiederholte laut, was wir alle aus seinem Krächzen verstanden. »Sie sind drin. Scheiße, sie sind im Haus.«
»Aber wie –?«
Sergius deutete nach oben zum Balkongeländer des ersten Stocks, wo sich eine weiße Gardine nach außen bauschte.
»Nein!«, stieß ich hervor.
Der General! Sie hatten den General! Aber sie konnten doch unmöglich so schnell sein? Die Angst schnürte mir die Kehle zu, als die knochige Hand meiner Großmutter zum Vorschein kam. Wenn sie wirklich mit Isabeau und Ewa zusammengewesen ist, dann hatten wir bereits verloren. Dann war auch Isabeau in den Händen der Söldner.
Ich war wie erstarrt, als meine Großmutter unendlich langsam nach draußen humpelte. Den Mann dahinter sah ich erst, als mir bewusst wurde, welche seltsam krumme Haltung sie eingenommen hatte. Meine Großmutter war ihr ganzes Leben lang aufrecht gegangen. Sie hatte sich nie gebeugt, egal, was das Schicksal ihr zugemutet hatte, und ich war mir sicher gewesen, dass sie uns alle überleben würde. Jetzt hielt sie ihren Kopf unnatürlich steif. Es war die Waffe in ihrem Nacken, die sie dazu zwang.
Mit einem dumpfen Aufschrei riss ich mich von Sergius los, der nach meinem Arm gegriffen hatte. Er raunte mir etwas zu, aber ich hörte nicht hin.
In diesem Augenblick dachte ich nicht daran, dass die Söldner mich dazu bringen wollten, mich zu verwandeln. Ich dachte nicht daran, wie leicht es für sie war, mich als Rabe zu erschießen. Das Einzige, was sich in meinem Kopf klar ausbildete, war die Gewissheit, dass ich niemals zulassen durfte, dass der General auf diese Art starb. Sie hatte in ihrem Leben so viel verloren: ihren Mann, ihren einzigen Sohn; man hatte ihr Titel, Anwesen und Geld genommen und sie in der Fabrik schuften und fast verhungern lassen, und nun, wo sie sich ihr Leben zurückgeholt hatte, wo sie sich so viel erarbeitet hatte, würde ich nicht zulassen, dass sie gewaltsam starb.
Der General war alt, und hätte sie mit mir sprechen können, dann hätte sie mir gesagt, dass sie bereit war zu gehen. Aber nicht so! Sie verdiente es, in ihrem Bett einzuschlafen. Dort ob
en in der Burg, die immer schon ihrer Familie gehört hatte und für die sie so lange gekämpft hatte. Friedlich. Zwischen den Bildern ihrer Ahnen.
Nicht auf diese abartige Weise.
In der nächsten Sekunde fiel mein Körper in sich zusammen. Ich flatterte auf, befreite mich aus meiner Kleidung und schoss nach oben. Der General hatte beide Hände um das Geländer verkrampft. Ihre Augen waren geschlossen.
»Aki«, flüsterte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Ich sah das Grinsen in dem Gesicht des Jägers und dann den dunkelbraunen Handschuh, der sich steif bis zu seinem Ellbogen hochzog, und wusste sogleich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Er hatte nie vorgehabt, auf den General zu schießen. Und das, was er trug, war kein gewöhnlicher Handschuh.
Es war der eines Falkners.
Kaum ein Laut war zu hören, und doch nahm ich den Luftzug wahr, lange bevor der Habicht aus der Dunkelheit auf mich zuschoss. Seine Flügelschläge klangen hellblau wie Engelsschwingen. Da richtete der Jäger die Waffe auf mich.
SEELENFALL
ISABEAU
Dieser verfluchte Bastard! Vielleicht zum hundertsten Mal klopfte ich die Wand auf der Suche nach einem Lichtschalter ab. Wie hatte ich nur so entsetzlich naiv sein und Sergius vertrauen können? Hatte er mir gegenüber auch nur ein einziges Mal eingehalten, was er versprach? Dieser dreckige Mistkerl!
Vertraust du mir?, hatte er mich gefragt, und ich Idiot hatte mich davon tatsächlich einlullen lassen. Dabei war dieses ganze »Ich zeige dir, wie du einem Mann das Genick brichst«-Getue von ihm nur eine beschissene Taktik gewesen.
Und sein Gerede darüber, dass ich die Türen nicht abschließen sollte, war auch nur darauf gemünzt, dass ich den Schlüssel im Salon liegen ließ, damit er ihn sich schnappen und mich bei der nächstbesten Gelegenheit einschließen konnte. Er war durch und durch manipulativ, und ich war ihm voll auf den Leim gegangen. Doch in einem hatte Sergius tatsächlich die Wahrheit gesagt: Ich fühlte mich sehr von Gewalt angezogen. Gerade jetzt sehnte ich mich unendlich danach, an ihm Gewalt auszuüben.