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002 - Free like the Wind

Page 10

by Kira Mohn


  Einen Moment lang überlege ich allen Ernstes, zurückzufahren und bei Marie dort wieder anzuknüpfen, wo ich aufgehört habe, komme mir bei dem Gedanken allerdings selten dämlich vor.

  Was also stattdessen? Es ist erst Viertel nach zehn. Dritte Staffel Sherlock und dazu einen zweiten Drink?

  Nein.

  Eine bessere Idee wäre wohl, den Spaziergang nach Hause als Aufwärmübung zu betrachten. Ich marschiere in mein Zimmer, um mir ein Shirt und eine Sporthose anzuziehen, bevor ich zurück nach unten gehe und die Tür zum Trainingsraum aufreiße.

  Atmen. Nicht denken. Gewichte auflegen, mit beiden Händen nach der Stange über meinem Kopf greifen. Langsam herunterziehen, Spannung halten, dann genauso langsam wieder zurück. Arme nicht durchstrecken. Nicht denken. Nur atmen.

  Sobald der Rhythmus gefunden ist, schaltet mein Kopf ab, und meine Konzentration richtet sich einzig und allein auf die saubere Ausführung der Bewegung. Die Zeit wird ein Fließen.

  Zwei Dinge gleichzeitig unterbrechen den losgelösten Zustand, auf den ich hingearbeitet habe: Mein Telefon beginnt zu summen, und es läutet an der Haustür. Steht Jax draußen? Hat er schon einmal geklingelt, ohne dass ich es mitbekommen hätte? Ich lege die Gewichte ab, greife zum Smartphone, während ich gleichzeitig in die Diele hinaustrete, und in dem Moment, in dem ich die Haustür öffne und nicht Jackson vorfinde, sondern Tessa mich anlächelt und mir beide Arme um den Hals schlingt, habe ich die kühle Stimme meines Vaters im Ohr. «Cayden? Guten Abend. Du hast noch nicht geschlafen, nehme ich an?»

  «Hi», murmelt Tessa auf der anderen Seite. «Ich dachte, ich schau mal vorbei.» Sie presst sich an mich, während mein Vater einfach weiterredet, ohne eine Antwort abzuwarten. In dieser Sekunde hätte ich auch keine, weder für ihn noch für Tessa. Was zur Hölle …?

  «Edward Thompson hat mich heute Nachmittag darüber informiert, dass du zum wiederholten Mal nicht wie vereinbart in der Kanzlei erschienen bist. Bist du krank?»

  «Nein.»

  Tessas Hände wandern unter mein Shirt, und ich drehe mich zur Seite, als sie Anstalten macht, mich zu küssen.

  «Dürfte ich dann wohl erfahren, was dich davon abhält, Thompson & White mit deiner Gegenwart zu beehren?»

  Er ist klar und deutlich zu verstehen, auch für Tessa, die sich mit einer Hand sowohl am Bund meiner Jogginghose vorbeischlängelt als auch am Bund der Boxershorts darunter. Sie kichert, und ich packe ihr Handgelenk, bevor sie noch tiefer gleiten kann.

  «Cayden?»

  Tessa streckt sich in Richtung des Telefons. «Cayden ist gerade ziemlich beschäftigt damit, sich flachlegen zu lassen, könntest du vielleicht später noch mal anrufen?»

  «Verflucht – Tessa!» Ich reiße mir das Handy vom Ohr, als habe es plötzlich zu glühen begonnen.

  «Ja?»

  Noch immer umklammere ich ihre Hand, die sich in meiner Hose befindet, und noch immer ist ihr Gesicht unmittelbar vor meinem. Sie küsst mein Kinn und sieht mir dabei in die Augen. «Ist das einer deiner Dozenten? Du könntest ihn fragen, ob er vielleicht vorbeikommen will.»

  Eine Frostsekunde später zerre ich ihre Hand hervor und trete gleichzeitig einen Schritt zurück. Lächelnd verschränkt sie die Arme und lehnt sich gegen die Wand.

  «Sorry», spreche ich wieder ins Telefon, ohne sie aus den Augen zu lassen. «Ich …»

  «Ich habe es mitbekommen», unterbricht mich mein Vater. Nichts an seiner Stimme hat sich verändert. «Da du gerade offensichtlich mit deinen Eskapaden beschäftigt bist, würde ich vorschlagen, wir reden morgen weiter. Ich bin ab zehn Uhr abends erreichbar. Und Cayden, ich gehe davon aus, dass Mr. Thompson sich nicht noch einmal bei mir melden wird.»

  «Klar.»

  «Viel Spaß noch.»

  Es tutet in der Leitung. Einen Moment mustere ich das Smartphone in meiner Hand, dann sehe ich auf. Tessa stößt sich von der Wand ab, und ich weiche nicht zurück, als sie auf mich zugeht.

  «Entschuldige», sagt sie. «Es war nur ein Scherz. Wer war das?»

  Ich atme einmal tief durch. «Du gehst jetzt besser.»

  «Sicher?»

  «Verschwinde.»

  Das selbstsichere Lächeln auf ihren Lippen verblasst, als sie mir in die Augen sieht. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht, und ich sehe ihr nicht hinterher, als ich ihr folge, um die Tür zu schließen, die sie offen gelassen hat.

  Noch immer umfasse ich das kühle Metall der Klinke, meine Stirn habe ich gegen die Tür sinken lassen, als mein Telefon einen Summton von sich gibt.

  Wir sollten uns mal wieder treffen. Ich melde mich, sobald ich weiß, wann ich es einrichten kann.

  Es ist eine Weile her, dass ich meinen Vater gesehen habe. Es war irgendwann im letzten Jahr. Er kam mich hier besuchen, trank einen Espresso, wir redeten über mein Studium, wobei mein Vater wie immer ganz selbstverständlich davon ausging, dass ich später für ihn arbeite und all die undurchsichtigen Geschäfte, in die er so verwickelt ist, reinwasche. Er blieb keine zwei Stunden. Meine Mutter hatte er «zu Hause gelassen», wie er mir erklärte, sie kümmere sich gerade um die Inneneinrichtung eines der Anwesen, das sie im Wechsel bewohnen.

  Ich stand jede einzelne Sekunde während seines Besuchs kurz davor, ihm zu sagen, wie sehr ich ihn hasse, und er hat es nicht bemerkt. Er wäre so stolz auf mich, wüsste er, wie perfekt ich seine Lektionen noch immer umsetze.

  Als Jackson nach Hause kommt, sitze ich vor der dritten Staffel Sherlock, den Kopf in die Hand gestützt, und wende den Blick nicht vom Bildschirm, als er im Wohnzimmer erscheint.

  «Hi», sagt er und tritt neben das Sofa. «Hör mal, wegen vorhin …»

  «Haven kann Rae ausrichten, ich komme mit.»

  Stille.

  «Was?» Das Wort drückt puren Unglauben aus. «Wieso das jetzt?»

  Noch mehr Sekunden verstreichen, während ich einen Schluck direkt aus der Ginflasche nehme und geistesabwesend darüber nachdenke, wie viele davon sich in einem Rucksack unterbringen ließen.

  «Ich hab einfach nichts Besseres zu tun.»

  7.

  Rae

  Gestern Abend nach der Vorstellung habe ich mit Maverick noch lange über meine Idee gesprochen, einen Rucksack zu packen und damit loszulaufen. Deutlich weiter ist meine bisherige Planung noch nicht gekommen, aber im Moment sieht es ohnehin nicht danach aus, als müsse ich mir um Details Gedanken machen. Vielleicht fahre ich ja mit Haven zusammen für ein paar Tage nach Jasper, sobald sie aus den USA zurück ist, aber das ist einfach nicht das, was mir ursprünglich vorschwebte.

  Maverick war überraschenderweise Feuer und Flamme. Ich kenne ihn als gemütlichen Typen, der sich gern mal an den Schokoriegeln vergreift und in aller Ruhe Computerspiele zockt, während er im Filmvorführraum sitzt und nur gelegentlich aufsieht, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Er trägt ausschließlich Chucks, immer dieselben völlig abgelaufenen, knöchelhohen Dinger, und riesige Hoodies, die ihn noch runder wirken lassen, als er ohnehin schon ist.

  «Wenn ich mir das leisten könnte – ich käme sofort mit!», hat er gesagt, nachdem er sich eine gute halbe Stunde lang darüber ausgelassen hat, wie großartig es sein muss, einfach alles hinter sich zu lassen und mal für eine Weile den Kopf völlig frei zu bekommen. Völlig frei. Von allem.

  Ich gebe zu, er hat mich weiter angefixt.

  Auf meinen vorsichtigen Einwand, dass eine solche Tour ja kaum sehr teuer sei, hat er allerdings abgewinkt. Immerhin habe er gleich zwei Jobs, den im Kino und einen weiteren in einem Computerladen, und mit beidem könne er nicht mal so eben für mehrere Wochen aussetzen.

  Ich war allen Ernstes drauf und dran gewesen, Maverick vorzuschlagen, mich zu begleiten, und war fast ein wenig enttäuscht. Dabei will ich ja nicht mal, dass jemand den ganzen Weg hinter mir herläuft.

  Aber ich will auch nicht jeden Morgen ewig an die Decke starren, bevor ich mich zwinge aufzustehen.

  Irgendwas muss sich ändern, ich weiß nur nicht, wie ich es angehen soll. Doch irgendwas studieren? Was auch immer? So wie Haven Umweltwissenschaften vielleicht. Oder würde ich eine gute Lehrerin abgeben?

 
Nein. Mit Sicherheit nicht. Von uns beiden war schon immer Leah die Geduldigere.

  Leah.

  Fluchend drehe ich das Wasser in der Dusche an, und der harte Strahl treibt den Schmerz zurück, der sich zum einmillionsten Mal in meinem Schädel ausgebreitet hat.

  Es ist normal, dass es sich manchmal so anfühlt, als sei das alles gestern erst geschehen, hat meine Therapeutin mal gesagt. Das könne immer wieder vorkommen, mein ganzes Leben lang.

  Ich rutsche an den warmen, nassen Fliesen herunter, verschränke die Arme um meine Beine und lege die Stirn auf meine Knie.

  Aber das schaffe ich nicht. Ich werde irgendwann verrückt werden, wenn ich immer wieder an Leah denken muss, wie sie in den letzten Minuten, in denen ich sie lebendig sah, vor mir stand. So aufgekratzt. So voller Vorfreude. Und dann so wütend auf mich, weil ich ihr sagte, dass ich doch nicht mitgehen würde.

  Hätte ich nicht die Hausarbeit für Englisch wochenlang vor mir hergeschoben, hätte ich nicht am Abend vor der Abgabe die Nacht durcharbeiten müssen. Und genau das tat ich – bis plötzlich meine Mutter zu schreien begann und ich aufsah und feststellte, dass die dunkle Nacht draußen vor dem Fenster in flackerndes, blaues Licht getaucht war.

  Leah. Scheiße, Leah, wo bist du? Wo bist du jetzt? Kannst du mir nicht ein Zeichen geben? Ich war so sicher, in den ersten Tagen und Wochen danach, du würdest mir ein Zeichen geben, aber du hast es nicht getan.

  Etwas in mir möchte ausbrechen, möchte explodieren, doch ich sitze nur da und lasse das heiße Wasser auf meinen Kopf niederprasseln, so lange, bis das Gefühl vorüber ist, bis ich alles wieder vergraben habe und ich aufstehen, das Wasser abdrehen und mich abtrocknen und anziehen kann.

  Mum ist schon weg, als ich nach unten in die Küche komme, sie arbeitet halbtags in einer öffentlichen Bibliothek. Auf dem Esstisch liegt ein Zettel, so wie jeden Morgen. Ich weiß, was darauf geschrieben steht. Ich hab dich lieb.

  Es sind immer dieselben Worte, aber nie derselbe Zettel.

  Mit einer Schale Cornflakes und einem Orangensaft trotte ich wieder nach oben in mein Zimmer. An den meisten Tagen lese ich morgens und gehe gegen halb drei ins Phoenix, um mir die Nachmittagsvorstellung anzusehen. Philippe ist der Ansicht, Maverick und ich müssten jederzeit auf alle Fragen zu den Filmen, die bei uns laufen, Auskunft geben können, aber es ist auch nicht so, dass er mich zwingen müsste. Nachmittags ist kaum etwas los, es sei denn, wir zeigen einen Kinderfilm. Ich sitze gern im halbleeren Saal allein in einer Reihe und tauche für zwei Stunden in andere Welten und andere Personen ein.

  Als mein Telefon klingelt, habe ich die Cornflakesschale und das Glas gerade auf den Schreibtisch gestellt. Es ist Haven, und ich ziehe mir meinen Stuhl zurecht.

  «Hallo, Rae.»

  «Hi. Ich frühstücke gerade und will nicht, dass meine Cornflakes aufweichen. Du bist also gewarnt.» Ich tauche den Löffel in die Milch. Es ist eklig, wenn alles matschig wird. Auf einer Wandertour hätte ich es mit meinen etwas heiklen Essgewohnheiten bestimmt nicht leicht.

  «Kein Problem. Ich wollte sowieso nur fragen, ob du zu Hause bist.»

  «Ja, wieso?»

  «Dann komme ich gleich mal vorbei, ist das okay?»

  «Klar … stimmt was nicht? Was macht eure Reiseplanung? Ich dachte, du und Jackson verbringt die Woche damit, eure Tour vorzubereiten.»

  «Wir liegen gut in der Zeit. Aber jetzt geht es erst einmal um deine Tour.»

  «Um meine … was ist mit meiner Tour?»

  «Die könnte stattfinden.»

  «Wie meinst du …?»

  «Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.»

  Sie legt auf, und überrumpelt starre ich auf das Smartphone in meiner Hand. Meine Tour könnte stattfinden? Wirklich? Das kann nach unserem Gespräch gestern Vormittag im Herbs & Beans eigentlich nur bedeuten, dass sie jemanden aufgetrieben hat, der ebenfalls einen Wanderurlaub plant. Wen hat sie gefragt? Ich kenne ihre Freunde aus der Uni kaum, abgesehen von Allison. Ob es Ally ist? Mit Ally zusammen könnte ich mir das Ganze sogar vorstellen. Irgendwie. Sie ist nicht der Typ, der sich ständig unterhalten muss.

  Bis Haven endlich an der Haustür klingelt, bin ich ziemlich nervös, und die Cornflakes sind doch matschig geworden. Außer Ally kommt eigentlich niemand in die engere Auswahl. Mit irgendjemandem, den ich gar nicht kenne, werde ich mit Sicherheit nicht tage- oder sogar wochenlang herumwandern.

  «Hi!» Haven lächelt, trotzdem finde ich, dass sie ein wenig angespannt wirkt. Oder bin ich das?

  «Fertig mit Essen?», will sie wissen, während sie an mir vorbei die Diele betritt und auf die Treppe zugeht.

  «Ja, wieso fragst du? Magst du noch was frühstücken?» Hinter ihr her steige ich die Stufen hinauf.

  Haven lacht. «Es ist halb zwölf. Eher nicht.» Sie öffnet meine Zimmertür und steuert das Bett an. Dort sitzen wir immer, wenn sie bei mir ist, Haven zwischen den Kissen am Fußende und ich zwischen den Kissen am Kopfteil.

  «Okay.» Ich lasse mich ihr gegenüber auf die Matratze fallen. «Meine Tour könnte also stattfinden. Du hast eine Freundin gefragt, ob sie mich begleitet, damit meine Mutter aufhören kann, sich Sorgen zu machen, stimmt’s?» Nicht dass sie deshalb wirklich aufhören würde, sich Sorgen zu machen.

  «Stimmt beinahe.»

  «Wen? Ally?», frage ich hoffnungsvoll.

  «Ally ist seit gestern in Frankreich. Nein, ich habe mit Jackson darüber geredet, und … er hat Cayden vorgeschlagen.»

  Stille breitet sich aus.

  Cayden.

  Cayden?

  Nicht einmal im Traum!

  Schockiert starre ich Haven an. «Das ist nicht dein Ernst. Du hast Jax hoffentlich ausgelacht, oder?»

  Haven schüttelt bedächtig den Kopf. «Es ist so – Jackson macht sich seit einiger Zeit Gedanken um Cayden und …»

  «Moment mal – Jackson macht sich Sorgen um Cayden, und deshalb soll ich mich jetzt mit ihm herumschlagen? Du hast gesagt, ich soll diese Wanderung machen, um mal aus allem rauszukommen!»

  «Ich weiß …»

  «Und jetzt fragst du mich, ob ich mit Cayden losziehe?»

  «Weil ich dachte …»

  «Auf gar keinen Fall.»

  Haven sieht schuldbewusst aus. Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden, während sie eines der Kissen zusammenknautscht. «Jackson dachte sich, dass ihr ja gar nicht zusammen laufen müsst. Aber wenn deine Mutter das denken würde …»

  «Wenn ich meiner Mutter sage, dass jemand mitkommt, dann weil derjenige mitkommt. Ich lüge nicht.»

  «Ja, das hab ich ihm auch gesagt.»

  «Warum tust du dann so, als sei Cayden eine Option? Mit dem würde ich nicht mal gemeinsam über die Straße gehen.»

  «Wieso nicht?» Haven sieht tatsächlich so aus, als sei sie ernsthaft interessiert an meiner Antwort.

  «Weil …» Ich kann immer wieder nicht fassen, wie blind sie ist, was Cayden betrifft. «Weil er ein Egomane ist, der ungerechterweise gleich zwei Vorteile hat: Er sieht gut aus, und seine Eltern sind stinkreich. Ich mag solche Leute nicht.»

  «Du magst ihn nicht, weil er gut aussieht?»

  «Nein! Mir ist völlig egal, wie er aussieht. Ich mag ihn nicht, weil er so wahnsinnig viel Glück in seinem Leben hat, aber absolut nichts daraus macht. Stattdessen verhält er sich meistens wie ein Arsch. Wie kann man so jemanden bitte mögen?»

  «Du kennst ihn nicht sehr gut.»

  «Ich will ihn auch nicht gut kennen.»

  «Aber du kennst mich, oder? Ziemlich gut sogar. Und du kennst Jackson, wenn auch nicht ganz so gut. Und glaubst du echt, ich würde dir das hier vorschlagen, wenn Cayden wirklich so wäre, wie du ihn siehst?»

  «Haven.» Ungeduldig seufze ich auf. «Nimm’s mir nicht übel, ja? Aber du hast eine sehr eigenwillige Art, Leute zu sehen.»

  «Wie meinst du das?»

  Ich beuge mich vor. «Du blendest manchmal alles aus, was nicht in dein Bild von einem Menschen passt. Ich finde das nett, aber es ist auch … na ja … naiv.»

  Haven mustert mich lange. Dann streckt sie die Beine aus, bis ihre Waden neben meinen aufgestützten Knien liegen.
«Was übersehe ich an Cayden?»

  «Zum Beispiel dass er … sich immer nur über alles lustig macht.» Kurz denke ich an unser Gespräch in der Küche. «Meistens. Und dass er sich eigentlich für niemanden wirklich interessiert. Er ist total oberflächlich und hat ständig neue Bettgeschichten laufen, und alles, was ihm wichtig ist, ist sein Aussehen.»

  Überrascht zieht Haven die Brauen in die Höhe. «Du denkst, ihm ist wichtig, wie er aussieht?»

  «Der Typ hat ein Fitnessstudio in seinem Haus. Und wenn man ihn nicht gerade auf einer Party sieht oder wie er von einer Party kommt oder zu einer Party geht, dann trägt er Sportklamotten und macht Klimmzüge.»

  «Okay. Du hast mir gesagt, wie du ihn siehst, und jetzt sage ich dir, wie ich ihn sehe. Und ich will damit nicht behaupten, ihn gut zu kennen – das tue ich nämlich nicht. Ich glaube, es gibt fast niemanden, der ihn wirklich gut kennt, nicht einmal Jackson. Aber er war zusammen mit Dylan der Einzige, der Jackson unterstützt hat, als er sich entschieden hat, das Jurastudium aufzugeben. Und er war immer da, wenn es darauf ankam, und er … ich habe das Gefühl, dass er jemand ist, der mit etwas kämpft. Ich weiß nicht, was das ist – ich weiß das übrigens auch bei dir nicht.» Unwillkürlich öffne ich den Mund, um irgendetwas zu sagen, was auch immer, aber Haven kommt mir mit einer Frage dazwischen. «Was genau hat er denn gemacht, dass du ihn so schrecklich findest?»

  «Er hat … weil er eben …» Ich schüttele den Kopf. «Jetzt tu nicht so, als sei er einfach nur ein netter, unverstandener Kerl, okay? Jeder hat irgendwelche Probleme, und ja, ich auch, aber deshalb verhalte ich mich ja wohl nicht total mies. Er nimmt einfach nichts ernst!»

  «Er nimmt sich selbst nicht ernst.»

  «Sorry, Haven, aber ich bin einfach nicht so der alles verzeihende Mensch, nur weil jemand mit einer traurigen Vergangenheit herumwedelt.»

  «Tut er das?»

  «Nein. Aber das tust du gerade. Warum eigentlich? Warum ist es dir so wichtig, dass ich meine Wandertour ausgerechnet mit Cayden zusammen antrete?»

 

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