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002 - Free like the Wind

Page 24

by Kira Mohn


  Immerhin hat er den Anstand, nicht so zu tun, als hätte er keine Ahnung, warum ich ihn so anfahre.

  «Okay, hör zu», sagt er und bleibt stehen. «Das vorhin war … es war …»

  «Was war es? Bist du gestolpert? Hast du mich mit jemandem verwechselt?»

  «Nein, es war … unüberlegt.»

  «Unüberlegt? Es war unüberlegt? Du meinst, dir war gerade so danach, und zufällig stand ich da? Weißt du was?» Ich überwinde die kurze Distanz zwischen uns und bremse erst dicht vor ihm ab. Unfassbar, dass ich diesem Gesicht vor wenigen Stunden so nahe gekommen bin, dass ich ihn geküsst habe. Er trägt die übliche glatte Cayden-Maske vor sich her, und ich möchte sie am liebsten von ihm herunterschütteln. «Such dir das nächste Mal doch einfach einen Grizzly für deine unüberlegten Ideen.»

  Wütend marschiere ich an ihm vorbei, und ich sehe mich kein einziges Mal nach ihm um, bis ich unseren Zeltplatz auf dem Wapiti Campground erreicht habe.

  Ich bin so schnell gelaufen, dass ich mich trotz der kühlen Temperaturen verschwitzt und klebrig fühle, dennoch öffne ich als Erstes den Eingang zu Caydens Zelt, um meinen Schlafsack herauszuholen. Cayden selbst ist noch nicht da, anscheinend hatte er kein Interesse daran, mit mir Schritt zu halten.

  Beim ersten heftigen Versuch, die beiden Schlafsäcke voneinander zu trennen, verhakt sich einer der Reißverschlüsse im Stoff, und ich benötige mehrere Minuten, um das Mistding wieder freizubekommen. Dann allerdings zerre ich meinen Schlafsack und auch meine Isomatte heraus, die Cayden heute Morgen nach dem Frühstück zurück in sein Zelt geworfen hat. Dachte er etwa, ich würde noch einmal eine Nacht neben ihm verbringen?

  Falls ja, kann er das vergessen. Lieber frage ich Steven, ob ich im Kassenhaus übernachten darf, sollte mir aus welchen Gründen auch immer das Zelt über dem Kopf zusammenbrechen.

  Ordentlich mache ich mir mein Lager zurecht, bevor ich mich ein weiteres Mal in Caydens Chaos-Zelt hineinwage, um auch noch meinen Rucksack zu holen. Ich bin schon fast draußen, da knistert etwas unter meinem Fuß.

  Das glaube ich jetzt nicht.

  Ich starre auf die quadratischen Plastikpäckchen, die zwischen einem von Caydens Shirts liegen.

  Er hat allen Ernstes Kondome eingepackt?

  Sehr optimistisch, Cayden, wirklich sehr optimistisch.

  Kurz überlege ich, die Dinger einfach mitzunehmen und irgendwo zu entsorgen, dann jedoch kommt mir ein besserer Gedanke.

  Als Cayden endlich bei unserem Zeltlager ankommt, sitze ich auf dem Felsen direkt am Flussufer und sehe ihm entgegen. Unnahbar sieht er aus, distanziert, wie ich ihn schon so oft erlebt habe. Aber heute nicht, du Idiot.

  Beim Näherkommen wird er langsamer. Vielleicht irritiert es ihn, dass ich ihn so unverwandt anstarre, doch netterweise bleibt er erst endgültig stehen, als er in Reichweite ist.

  Ich greife hinter den Felsen, und einen Augenblick später fliegt das erste Geschoss durch die Luft, trifft Cayden direkt vor die Brust und zerplatzt.

  Noch während er entgeistert an sich herunterblickt, kommt der zweite Ballon angeflogen und explodiert an seiner Schläfe.

  «Fuck!» Er springt zurück, doch nicht schnell genug, um der dritten und letzten Wasserbombe zu entgehen.

  Eigentlich hatte ich noch einmal auf sein Gesicht gezielt. Durch seinen Sprung erwische ich ihn nur noch am Ellbogen, aber egal. Insgesamt bin ich ziemlich zufrieden mit dem Ergebnis.

  Cayden nicht so. «Hast du sie noch alle? Was soll denn das?» Wasser tropft ihm vom Kinn, und er fährt sich mit der Hand übers Gesicht.

  «Sorry.» Ich rutsche vom Stein und schlendere ein paar Meter in seine Richtung. «Wolltest du mitspielen? Dann hättest du allerdings mehr mitbringen sollen und nicht nur drei – wie unüberlegt.»

  Erst jetzt scheint Cayden zu kapieren, was ihm da gerade an den Kopf geflogen ist. Er blickt auf die Gummifetzen zu seinen Füßen, und seine Mundwinkel zucken.

  Dann beginnt er zu lachen.

  Erst verdutzt, dann fasziniert starre ich ihn an. Ich muss daran denken, dass ich mich vor einiger Zeit gefragt habe, ob es im Jasper National Park etwas geben könnte, dass Cayden tatsächlich mal richtig zum Lachen bringt. Nicht nur grinsen, richtig lachen. Nicht im Traum wäre ich allerdings auf die Idee gekommen, das würde geschehen, weil ich ihn mit wassergefüllten Kondomen beworfen habe.

  Noch immer lachend lässt er die Jacke von seinen Schultern gleiten und zieht sich als Nächstes das durchnässte Shirt über den Kopf. Es ist das erste Mal, das ich ihn mit nacktem Oberkörper sehe, und nur weil der so unbeschwert lachende Cayden einfach unwiderstehlich ist, gelingt es mir, meinen Blick von seinem flachen Bauch wegzureißen.

  Aus demselben Grund wird mir auch zu spät klar, was Cayden vorhat, und er hält bereits seine Wasserflasche in den Händen, bevor ich auf die Idee komme, mich in Sicherheit zu bringen.

  «Stopp!», kreische ich, als er die Plastikflasche zusammendrückt und mich der erste Wasserstrahl trifft. Ich hechte hinter sein Zelt, stürze in der nächsten Sekunde wieder aus meiner Deckung hervor, schnappe mir den Kochtopf und renne damit zum Ufer.

  Eine neue Salve erwischt mich im Rücken, und mir bleibt kaum Zeit zum Zielen, nachdem ich den Kochtopf ins Wasser getaucht habe und seinen Inhalt, noch während ich mich umdrehe, Cayden entgegenschleudere.

  Der dünne Strahl aus seiner Flasche ist nichts gegen einen Zweiliterkochtopf, aber Cayden hält sich nicht weiter damit auf. Stattdessen schöpft er mir in dem Moment, in dem ich mich vorbeuge, um den Topf erneut zu füllen, mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Prustend versuche ich auszuweichen, rutsche auf den glitschigen Steinen aus und gerate ins Stolpern. Ob Cayden mich tatsächlich auffangen will, weiß ich nicht, aber falls ja, hat er eindeutig unterschätzt, wie wenig Halt man auf den teilweise moosbewachsenen, nassen Felsen findet. Er erwischt noch meinen Arm, bevor ich auf ihn drauffalle und wir gemeinsam im aufspritzenden Wasser landen.

  In einem Film wäre das jetzt ein amüsanter und gleichzeitig überaus romantischer Moment, in dem Cayden seinen Arm um mich legen und mir hingerissen ins Gesicht blicken würde, das Zurückstreichen einiger nasser Haarsträhnen inklusive.

  In der Realität brüllt er «Fuck!» und beginnt als Nächstes zu husten, während ich mir den Ellbogen reibe, mit dem ich nur geringfügig abgemildert auf die unter Wasser liegenden Felsen geknallt bin. Zumindest der Rest von mir ist einigermaßen weich gelandet, ein Umstand, über den Cayden sich nicht freuen kann.

  So schnell ich kann, rappele ich mich auf, nur um sofort wieder auszurutschen. Diesmal lande ich auf Händen und Knien, und Cayden, der sich immerhin schon in eine sitzende Position gebracht hat, beginnt unter anhaltenden Hustenattacken schon wieder zu lachen.

  Bis auf die Haut durchnässt und uns gegenseitig stützend, schaffen wir es irgendwie ans Ufer. Wasser schwappt mir aus den Schuhen, bei Cayden sieht es nicht besser aus.

  Schwer lässt er sich auf einen der Felsen nieder, um die Schuhe auszuziehen.

  «Sobald wir wieder in Edmonton sind, beschwere ich mich», erklärt er und leert die Stiefel aus. «Angeblich sind die wasserdicht.»

  Ich beginne zu kichern und kann nicht mehr aufhören, selbst dann nicht, als mir der schwache Wind eine Gänsehaut verursacht und ich erschauernd kurz davorstehe, mit den Zähnen zu klappern. Klar, dass wir uns für so eine Aktion den kältesten Tag hier aussuchen mussten.

  «Schnapp dir was Trockenes zum Anziehen, wir gehen duschen.» Cayden ist schon auf dem Weg zu seinem Zelt, und kurz darauf stapfen wir, auf warmes Wasser hoffend, in Richtung der Sanitäranlagen.

  Auf den ersten Strahl folgt schnell Ernüchterung – mal wieder kalt. Mittlerweile friere ich so erbärmlich, dass nicht einmal das Abrubbeln mit dem Handtuch meine Haut erwärmen kann. Ich schlüpfe in meine mitgebrachten Sachen – Unterwäsche, T-Shirt und eine kurze Hose, weil die einzige lange Hose, die ich dabeihabe, die ist, mit der ich in den Fluss gefallen bin –, wickele mich zusätzlich in mein feuchtes Handtuch und treffe vor den Duschen wieder mit Cayden zusammen, der so verfroren aussieht, wie ich mich fühle.

  Der Wind scheint noch zuzunehmen, und a
ls wir wieder bei den Zelten ankommen, klappere ich wirklich mit den Zähnen.

  «Hast du Hunger?», will Cayden wissen. «Ich könnte schnell was kochen.»

  «Ist … dir nicht … auch kalt?», stammele ich.

  «Eindeutig nicht so kalt wie dir. Am besten, du verkriechst dich direkt in den Schlafsack.»

  In den Schlafsack – gute Idee.

  Ich höre Cayden mit dem Kocher hantieren, während ich darauf warte, dass es erst im Schlafsack und dann auch in mir endlich warm wird, und als er mit zwei Tassen gebückt in mein Zelt reinkommt, habe ich endlich mit dem Zittern aufgehört.

  «Sie hatten die Suppe bestellt?» Er deutet mit einem Kopfnicken eine Verbeugung an.

  «Oh ja, bitte – kipp sie einfach in den Schlafsack.» Ich greife nach der Tasse, bevor Cayden auf dumme Ideen kommt. «Danke. Könntest du heute das Geschirr abspülen? Dafür koche ich morgen.»

  «Klar.» Cayden hat sich neben mich gesetzt, hält seine Tasse mit beiden Händen und wirkt irgendwie nicht so, als plane er in absehbarer Zeit, das Zelt wieder zu verlassen.

  Umständlich setze ich mich in meinem Schlafsack ebenfalls auf, vorsichtig, um nichts zu verschütten, und nippe an der heißen Flüssigkeit.

  Salzig. Könnte Spargelcreme sein oder so was. Auf jeden Fall wärmt es von innen.

  Mir wird bewusst, dass Cayden mich ansieht, und ich lasse die Tasse weit genug sinken, um seinen Blick erwidern zu können. «Was ist?»

  «Entschuldige. Wegen vorhin, meine ich.»

  Seine feuchten Haare fallen ihm noch nicht wieder so seidig glatt vor die Augen wie sonst immer, und er zerzaust sie noch mehr, als er sie jetzt mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Gesicht befördert.

  Ich habe mich so oft gefragt, was die vernünftige Allison dazu brachte, mit ihm ins Bett zu gehen, doch jetzt gerade denke ich, dass ich es vielleicht sogar irgendwann bereuen werde, die Kondome vernichtet zu haben. Wieso zum Teufel passiert mir das? Ich war doch völlig immun. Nie von einem Typen geschwärmt zu haben, nur weil er gut aussieht, war sicher hilfreich, aber ich fand seine spöttische Art auch blöd. Und dann renne ich eine Woche lang mit ihm durch einen Wald, wir frühstücken Timbits und Porridge, ich lasse mir in einer Nacht von ihm die Hand verbinden, falle mit ihm zusammen in einen verdammten Fluss, und jetzt sitze ich hier und bin bereit, wegen einer einzigen Entschuldigung für seinen dämlichen, unüberlegten Kuss irgendwas in Richtung Vergiss es zu sagen.

  Wo, verflucht noch mal, ist denn meine Selbstachtung hin?

  Auf gar keinen Fall werde ich das tun.

  Cayden scheint auf keine Erwiderung zu warten. Er lässt die Suppe nachdenklich in der Tasse hin und her schwappen, die er zwischen seinen aufgestützten Knien hält. Dann sieht er auf. «Was hältst du davon? Jeder von uns beantwortet dem anderen drei Fragen. Man darf fragen, was man will. Du darfst anfangen.»

  Was ist das jetzt wieder für eine perfide Cayden-Idee? Wieso sollte ich ihm auch nur eine einzige Frage beantworten? Und will ich tatsächlich die eine Frage, die mir seit heute Nachmittag im Kopf herumgeht, laut aussprechen? Wieso bereust du es, mich geküsst zu haben? Was, wenn er nur wieder spöttisch grinst?

  Diesmal wartet er eindeutig auf eine Antwort, und sein Blick setzt mich zunehmend unter Druck. «Das ist ein ziemlich albernes Spiel. Warum holst du nicht gleich eine Flasche, und wir spielen Flaschendrehen?»

  «Du machst also nicht mit?»

  «Doch, klar. Was ist deine Lieblingseissorte?»

  «Salziges Karamell. Ich bin dran. Erzähl mir von Leah.»

  Cayden

  Rae starrt mich schockiert an, doch ich halte ihrem Blick stand. Die Idee ist mir gerade erst gekommen. Ich schulde ihr eine Erklärung für die Sache von vorhin, weiß aber nicht, wie ich anfangen soll. Und ich würde wirklich gern ein wenig mehr über ihre Beziehung zu ihrer Schwester und über die Umstände von Leahs Tod erfahren. Mal angenommen, Rae schafft es, darüber zu reden – vielleicht gelingt es mir dann auch.

  Irgendeine meiner Bettbeziehungen meinte mal, sie könne nicht verstehen, warum Menschen nicht einfach den Mund aufmachen und sagen, was Sache ist. Es sollte ein Kompliment sein. Ich weiß noch, dass sie der Meinung war, ich würde genau das immer tun. Und ich weiß auch noch, dass ich in diesem Moment dachte, dass diese Frau ja mal so was von keine Ahnung hat, wie es sich anfühlt, stacheldrahtumwickelte Sätze hervorzuwürgen und sich mit jeder Wahrheit, die man ausspricht, selbst zu zerreißen. Der Hass auf meinen Vater. Das einzige Gefühl, das ich nie in den Griff bekommen habe.

  «Das ist keine wirkliche Frage», unterbricht Rae meine Gedanken.

  «Okay, dann … was war Leah für ein Mensch?»

  Das ist noch nicht das eigentliche Thema, über das ich reden will, aber ich kann mir vorstellen, wie zermürbend es für Rae sein muss, immer und immer wieder nur über die letzten Stunden mit ihrer Schwester zu sprechen, weil jeden nur die schrecklichen Details ihres Todes interessieren. Und ich will wirklich wissen, wie Leah war – es wird mir auch mehr über Rae verraten.

  «Leah war … lebensfroh. Offen. Kommunikativ. Hat dauernd gelacht, fand alles irgendwie leicht.»

  Rae hält mit beiden Händen ihre Tasse umfasst und mustert die helle Flüssigkeit darin. Zwischen ihren ersten Worten liegen sekundenlange Pausen, doch dieses Stocken verschwindet mehr und mehr.

  «Sie war ein paar Minuten älter als ich, aber jeder, der uns danach gefragt hat, hielt sie für die Jüngere, weil ich die Ernstere von uns beiden war, die Ruhigere. Jeder hat Leah gemocht, und Leah mochte einfach Menschen.»

  Jetzt fließen die Sätze aus Rae heraus.

  «Sie fand an jedem etwas Gutes, und es fiel ihr immer so leicht, andere in Gespräche zu verwickeln. Leah hatte tausend Freunde und ich nur wenige, aber das war egal, denn meine beste Freundin war immer sie, und umgekehrt war es genauso. Unsere Eltern wollten, dass wir in der Schule in getrennte Klassen gehen, weil sie dachten, wir würden zu sehr aneinanderhängen und das sei nicht gut für die Entwicklung unserer individuellen Persönlichkeiten …», Rae sagt es so, als zitiere sie jemanden, «… aber wir haben das nicht zugelassen. Leah kam immer einfach mit in meine Klasse, so lange, bis alle es aufgaben. Wir wollten gemeinsam studieren und uns eine Wohnung teilen, eine WG, vielleicht noch mit anderen, aber Hauptsache, zusammen. Wir waren bis zu ihrem Tod nie länger voneinander getrennt als vielleicht mal eine Nacht, weil Leah bei einer Freundin schlief. Sie war …» Rae sucht nach Worten, hebt hilflos eine Hand. «Sie war ein liebenswerter Mensch. Ein guter Mensch. Sie war meine Schwester, sie war ein Teil von mir, verstehst du? Ich bin ohne sie nur noch … halb.»

  Ich nicke, als würde ich das alles verstehen, während mein Hirn noch damit beschäftigt ist, die Dimension dessen, was Rae mir da erzählt hat, zu begreifen. Ich war immer allein. Ein Einzelkind, dessen Freunde vorsortiert wurden bis in das Eliteinternat hinein, und dieser Kontrolle entkam ich erst, als ich durchgesetzt hatte, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Eine Wohnung, die mein Vater für mich gekauft hat, aber egal. Erst einmal raus.

  Wie wäre das alles mit einem Bruder gewesen? Der die ganze Scheiße mit mir zusammen erlebt hätte? Mit dem ich mich verbunden gefühlt hätte, so eng verbunden, dass ich nie das Gefühl gehabt hätte, allein zu sein?

  Es löst nichts in mir aus. Ich bin wie ein Blinder, der sich bemüht, Farben zu begreifen.

  Und Rae erzählt weiter und immer weiter, als könne sie nicht mehr aufhören, jetzt, wo sie einmal damit begonnen hat, über Leah zu reden. «Sogar dieser Kerl, der … der sie … er hat gesagt, Leah wäre ihm aufgefallen, weil sie so geleuchtet hat. Geleuchtet. Vermutlich waren das eher die Drogen in seinem Hirn, aber … verdammt, wäre ich doch mitgekommen! Cayden, wäre ich doch mitgekommen! Warum waren mir diese Scheißhausaufgaben wichtiger als Leah?»

  Ihr Blick ist klar, obwohl ihre Stimme klingt, als müsse sie vor Tränen ersticken. Sie weine nie, hat sie gesagt. Noch so eine schräge Gemeinsamkeit, die uns verbindet.

  «Dir war der Schulkram nicht wichtiger als deine Schwester», sage ich. «Es war dir nur an diesem Abend wichtiger als das Konzert.»

  Rae presst die Li
ppen zusammen. «Dieses blöde Konzert. Ich hatte keine Lust, da hinzugehen, zu einem bescheuerten Rapper mit frauenfeindlichen Texten. Leah hat die Tickets bei einer Instagramverlosung gewonnen. Sie wollte nur hin, um mal was Neues kennenzulernen. Wenn ich mitgegangen wäre …»

  «Du denkst echt, du bist irgendwie mit schuld an ihrem Tod, oder?»

  Lange sieht sie mich nur an, als müsse sie überlegen, ob sie mir darauf überhaupt antworten will. Vorsichtig stellt sie schließlich die Tasse neben ihrem Schlafsack ab. «Ist das deine zweite Frage?»

  Fast hätte ich vergessen, wieso Rae überhaupt damit angefangen hat, über ihre Schwester zu sprechen. Ich nicke.

  «Ja. Ja, das denke ich. Ich meine, ich habe sie nicht getötet, das war ganz allein dieser … dieser … Scheißkerl, aber ich habe Leah im Stich gelassen. Ich hätte für sie da sein müssen, aber ich war nicht da. Und ich kann das nie wiedergutmachen. Sie war ganz allein, dabei waren wir doch nie wirklich allein. Aber sie war es in dieser dreckigen Fabrikhalle, und sie hatte gegen diesen Typen überhaupt keine Chance, und sie hat bestimmt Angst gehabt, und ich frage mich immer, ob sie an mich gedacht hat und ob sie sich gewünscht hat, wir hätten uns wenigstens richtig voneinander verabschiedet, und ob sie vielleicht … ob sie vielleicht noch mal bei mir war, irgendwie, und ich habe es nicht bemerkt. Sie wäre doch nie einfach so gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden, oder?»

  Raes Blick ist so unfassbar verletzt und gleichzeitig so hoffnungsvoll – was soll ich ihr sagen? Ganz egal, was, sie wird spüren, dass ich nur versuche, sie zu trösten, und ich …

  Rae beugt sich plötzlich vor und streicht mit ihren Fingerspitzen über meine Wange. Was zum …?

  «Du weinst», stellt sie fest.

  Langsam wische ich mir mit der Hand übers Gesicht. Scheiße, was …? Feuchte Spuren in meiner Handfläche, der kühle Hauch trocknender Tränen auf meiner Haut. Ich versuche zu schlucken und kann nicht.

  Ich weine nie. Niemals.

  Abrupt stehe ich auf. Raus hier.

  Einfach nur raus hier.

  Ich brauche frische Luft.

 

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