002 - Free like the Wind
Page 25
17.
Rae
Cayden so überstürzt aus dem Zelt stolpern zu sehen, reißt mich endgültig aus der Vergangenheit zurück in die Realität, trotzdem benötige ich ein paar Sekunden, um mich aus meinem Schlafsack zu schälen und den Zelteingang beiseitezuschlagen.
Wo ist er?
Ich krieche ganz aus dem Zelt heraus und richte mich auf, blicke mich suchend um. Die Dämmerung beginnt gerade erst, sich über den Fluss herabzusenken. Wäre er links oder rechts am Flussufer, müsste ich ihn sehen, er kann also nur zwischen den Bäumen zum Campingplatz gegangen sein. Mit nackten Füßen steige ich in meine klatschnassen Wanderstiefel und laufe los. Wenn Cayden einen anderen Weg genommen hat als den, den ich jetzt ansteuere, finde ich ihn nie.
Was um alles in der Welt ist gerade passiert? Wieso schockiert es Cayden so sehr, dass jemand ihn weinen sieht?
Ich haste zu dem inoffiziellen Wanderweg, den ich jetzt zum dritten Mal betrete, und binde mir, nachdem ich mehrfach fast gestürzt wäre, endlich die Schnürsenkel zu. Bärenspray habe ich nicht dabei. Cayden mit Sicherheit auch nicht.
«Cayden?», rufe ich, ohne eine Antwort zu erhalten. Aber vielleicht hört er mich ja und bleibt stehen. Außerdem mache ich so auch alle Bären im Umkreis auf mich aufmerksam, und das soll man ja. Bären stehen nicht darauf, wenn man sie überrascht, heißt es. Ich gebe zu, in der Dämmerung fällt es mir schwer, mich nicht zu fühlen, als würde jeder Bär nur Snack! Hier kommt ein Snack! verstehen, aber egal.
Zweige aus dem Weg schlagend, arbeite ich mich vorwärts, bereits jetzt mit stechenden Schmerzen in der Seite, weil ich viel zu schnell ein- und wieder ausatme.
«Cayden!»
Er hat es nicht mal bemerkt, glaube ich. Dass er weint. Es hat ihn wirklich überrascht. Ach was, es hat ihn richtiggehend entsetzt. Ich denke an das, was Cayden mir heute Nachmittag über seinen Vater erzählt hat. War Weinen im Hause Terrell etwa verboten? Ein Indianer kennt keinen Schmerz und so? Aber wie bringt man das einem Kind bei, dass auch noch der erwachsene Mann so heftig reagiert wie Cayden gerade eben?
Langsam schwindet das Licht, und ich weiß, ich müsste meine Suche eigentlich beenden und umkehren. Es wird hier demnächst sehr, sehr finster sein, und es wird schwer werden, dann noch den Weg zurück zu finden, trotzdem hetze ich weiter und immer weiter.
«Cayden! Verflucht!»
Vielleicht ist er gar nicht hier. Herrgott, vielleicht ist er einfach in sein Zelt gegangen! Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, dort nachzuschauen, und wie bescheuert wäre es, wenn …
«Uff!»
Gegen Cayden zu rennen fühlt sich an, als pralle man mit einer Statue zusammen. An diesem Mann gibt es absolut nichts Weiches.
«Alles in Ordnung?» Er hat nach meinem Arm gegriffen und sieht mich jetzt prüfend an.
«Geht schon. Warum bist du … warum hast du …?»
«Wir müssen zurück.» Cayden schiebt mich in die Richtung, aus der ich gekommen bin, ohne mir die Zeit zu geben, meine Frage zu formulieren. «Ich habe keine Taschenlampe dabei, und das Smartphone liegt auch noch im Zelt. Hast du deins mit?»
«Nein.»
«Dann sollten wir uns besser beeilen. Es ist auch noch bewölkt, da werden wir in kürzester Zeit absolut gar nichts mehr erkennen können.»
Er hat recht. Man kann förmlich dabei zusehen, wie sich die Konturen von Büschen und Bäumen im Grau der hereinbrechenden Nacht aufzulösen beginnen.
«Hast du mich rufen gehört?», will ich wissen. «Bist du deshalb umgekehrt?»
«Ja und ja.»
«Wieso bist du überhaupt weggerannt? Was ist so schlimm daran, dass ich dich weinen sehe? Ich werde es niemandem verraten, keine Sorge. Dein Status als gefühlloser Mistkerl wird absolut unangetastet bleiben.»
Ich bemühe mich um einen möglichst lockeren Tonfall, und es ist noch nicht zu dunkel, um zu erkennen, dass diese Bemerkung ihm dennoch kein Lächeln entlockt.
«Cayden? Krieg ich eine Antwort?»
«Ich habe schon drei Fragen beantwortet.»
«Was?» Ich bleibe so plötzlich stehen, dass Cayden bei dem Versuch, mir auszuweichen, mit dem Shirt in den Zweigen eines Strauchs hängenbleibt. «Ich habe dir noch gar keine Fragen gestellt!»
«Ich habe dein Rufen gehört, ja, und deshalb bin ich umgedreht, ja. Und mein Lieblingseis ist –»
«Das ist nicht fair!»
Cayden, dem es gelungen ist, den Stoff seines Shirts von den dünnen Ästen des Buschs zu befreien, schiebt mich einfach weiter.
So typisch Cayden. So verflucht typisch. An diese drei Fragen habe ich gerade nicht mal mehr gedacht, und dass Cayden sich darauf bezieht, um sich mal wieder hinter Sprüchen zu verschanzen, nehme ich ihm ernsthaft übel. Ist ja nicht so, dass er von mir keine Antworten erhalten hätte.
Trotzdem bin ich aktuell froh, dass er bei mir ist. Es ist fast schon verrückt, wie schnell es jetzt finster wird. Wie lange bin ich denn hier langgerannt? Müssten wir nicht schon die Lagerfeuer auf dem Zeltplatz sehen? Meine Füße bleiben an einem unsichtbaren Hindernis hängen, ein Ast oder ein Stein, und ich taumele nach vorn, doch Cayden bekommt mich am Arm zu fassen, bevor ich hinschlagen kann.
Mittlerweile ist es schon so dunkel, dass wir den schmalen Weg vor uns mehr erahnen, als dass wir ihn sehen könnten. Immer wieder gerate ich ins Stolpern. Bei hellem Tageslicht ist mir gar nicht aufgefallen, wie wurzeldurchsetzt dieser Weg ist.
«Wir müssen uns links halten.» Cayden, der meinen Arm noch nicht wieder losgelassen hat, bleibt plötzlich stehen.
«Nein, hier geht es lang.»
«Wenn wir uns links halten, kommen wir auf jeden Fall beim Fluss raus.»
«Wir wollen aber doch gar nicht zum Fluss.»
«Von dort aus finden wir leichter zum Zeltplatz zurück.»
«Aber man kann nicht überall am Ufer langgehen. Wir müssten immer wieder in den Wald hinein.»
«Rae, wir sehen den Weg nicht mehr. Wenn wir uns jetzt nicht links halten, kann es passieren, dass wir mitten in den Wald reinlaufen.»
«Aber ich weiß, dass wir hier lang müssen.»
Wir stehen voreinander, zwei Schatten in der Dunkelheit. Nur Caydens Atem kann ich hören, der ebenso laut ist wie meiner, weil wir aufgeregt sind und viel zu schnell gerannt.
Und natürlich spüre ich die Berührung seiner Hand um meinen Oberarm.
«Glaub mir einfach, okay?», sage ich und löse seinen Griff, umschließe seine Finger. «Ich bin sicher, dass wir in die Richtung müssen.»
Als ich jetzt weitergehe, lässt Cayden sich widerstandslos mitziehen. Ich hoffe nur, ich habe recht. Leah hat mich immer eine Art lebende Kompassnadel genannt. Ihr Orientierungssinn war quasi nicht vorhanden, sie hat sich immer auf mich verlassen, ganz egal, wo wir waren.
Ach, Leah.
Ich warte darauf, dass meine Lungen sich zusammenpressen und die Sauerstoffaufnahme verweigern, so wie immer, sobald mich der Gedanke an Leah zu plötzlich überfällt, doch das Gefühl bleibt aus.
Eine Weile lausche ich erstaunt in mich hinein.
Vielleicht bin ich gerade zu aufgeregt. Oder heute ist einfach bereits zu viel geschehen.
«Okay, ich lasse deine letzten beiden Fragen nicht gelten», sagt Cayden.
«Was?»
«Zwei Fragen hast du also noch.»
«Zu großzügig.»
«So bin ich.»
Wir bewegen uns langsam, jeder hält tastend die freie Hand vor sich gestreckt, und immer wieder müssen wir uns an Buschwerk vorbeidrängen, das mir die nackten Beine und Arme zerkratzt.
«Okay. Wieso rennst du also weg, nur weil du weinen musst?»
«Keine Ahnung.»
«Ich dachte, wir hätten ausgemacht, dass wir jede Frage …»
«Ich weiß es wirklich nicht. Ich … weiß es nicht.»
Er lügt. Ich bin mir sicher. Doch bevor ich etwas dazu sagen kann, redet Cayden weiter, genauso tastend, wie wir uns hier gerade vorwärtsbewegen.
«In meiner Familie werden Gefühlsäußerungen nicht gern gesehen. Vermutlich hängt es damit zusammen.»
«Bei euch durfte niema
nd weinen?»
«Man steht lieber souverän über allem.»
Cayden klingt nicht bitter oder traurig. Seine Stimme ist locker, und ich kann sogar den typischen, leicht spöttischen Unterton heraushören.
«Wer ist Man – dein Vater?»
«Genau.» Er atmet einmal tief durch. «Ich glaube, das waren jetzt zwei Fragen.»
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf, und ich ignoriere Caydens Hinweis. «Wieso schleppst du in deinem Rucksack sogar beim Campen eine Ginflasche mit dir rum?»
In der nächtlichen Stille des Waldes atmet Cayden scharf ein. «Ich bin kein Alkoholiker, falls du das denkst.»
«Die meisten Alkoholiker würden sagen, sie seien keine Alkoholiker.»
«In Edmonton habe ich in letzter Zeit etwas viel getrunken», räumt Cayden ein. «Wenn ich gelangweilt war. Oder gestresst. Mir ist oft langweilig», fügt er hinzu.
«Warum?»
«Keine Ahnung. Mich interessiert einfach nicht viel.»
«Dir stehen alle Möglichkeiten offen, du hast Kohle ohne Ende, siehst gut aus, alle Welt rennt dir nach, und daraus machst du absolut nix», sage ich. «Stattdessen langweilst du dich? Das hört sich ziemlich verwöhnt an, weißt du?» Jetzt ist es raus, das, was ich Cayden heimlich schon von Anfang an vorwerfe.
«Ja, kann sein», sagt er nach einer Weile, und irgendwie weiß ich, dass ihn meine Worte verletzt haben. In der Dunkelheit fällt es mir leichter, ihn zu durchschauen. Wenn sein Blick und seine glatte Perfektion mich nicht ablenken können.
«Warum versuchst du nicht, etwas zu finden …»
«Da vorn sind Lichter.»
Cayden hat sie zuerst entdeckt, doch jetzt sehe ich sie auch. Vor Erleichterung werden mir fast die Knie weich. Der Campingplatz. Ich habe uns also nicht in die Irre geführt.
Caydens Hand löst sich aus meiner, und einen kurzen Moment lang vermisse ich ihre Wärme.
Jedes Mal, wenn der Schein eines der Lagerfeuer oder einer Campinglampe auf uns fällt, mustere ich Cayden, der meinen Blick jedoch nicht erwidert. Erst als wir unseren eigenen Zeltplatz wieder erreicht haben, wendet er sich mir kurz zu. «Okay, dann also gute Nacht.»
Es sagt vermutlich einiges aus, dass ich in dieser Sekunde bereit wäre, alles beiseitezuschieben, was heute geschehen ist: Caydens unüberlegten Kuss, seine Fragen über Leah, die Tatsache, das wir gerade aus dem stockdunklen Wald zurückgefunden haben, in den wir überhaupt nur hineingeraten sind, weil Cayden meinte, plötzlich losstürmen zu müssen. Ich würde tatsächlich all das beiseiteschieben und noch einmal nach seiner Hand greifen, vielleicht noch mehr Fragen stellen, doch in diesem Moment dreht Cayden sich weg, bückt sich hinunter zu seinem Zelt und ist unmittelbar darauf verschwunden. Das leise Zippen des Reißverschlusses ist noch zu hören, und das war’s.
Ich lausche, vielleicht auf das Geräusch einer Flasche, die geöffnet wird, oder auf das typische Plätschern, das erklingt, wenn Flüssigkeit in ein Glas läuft.
Ach was, er würde aus der Flasche trinken.
Plötzlich erschöpft, wende ich mich ab und gehe die paar Schritte hinüber zu meinem eigenen Zelt.
Mum muss ich noch schreiben. Dass alles in bester Ordnung ist.
Cayden
Letzte Nacht bin ich fast sofort eingeschlafen, etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Überhaupt entwickele ich hier Schlafgewohnheiten wie jeder normale Mensch. Einschlafen irgendwann gegen Mitternacht. Aufwachen, wenn die Sonne schon am Himmel steht.
Das Erste, das mir in den Sinn kommt, ist, dass ich gestern Rae geküsst habe, und unvermittelt verspüre ich ein Ziehen in der Leistengegend. Es war so, wie ich es mir vorgestellt habe. Nein, es war besser. Es war so, dass ich mich ein paar Sekunden lang völlig darauf einlassen konnte, nur noch Rae gespürt habe, und dann … habe ich es vermasselt.
Ein unüberlegter Kuss, eine gekränkte Rae. Drei Fragen, die jeder von uns stellen darf, Rae, die über Leah spricht, und ich … ich habe geweint. Fuck, ich habe geweint. Das letzte Mal rumgeheult habe ich, da war ich sechs, und danach nie wieder, weil … weil … stopp. Aufhören, Hirn. Stopp, verflucht!
Rae sagte, ich sei verwöhnt, die Tore der Welt stünden mir doch offen. Ich könnte fair sein und ihr zugestehen, dass sie keine Ahnung hat, wie vorgefertigt mein Weg schon immer war. Ich habe es ihr ja nie erzählt.
Mir ist nur nicht danach, fair zu sein.
Sie sieht so viel, warum nicht auch das? Aber wenn sie mich genau wie jeder andere für einen dekadenten, gleichgültigen Egoisten halten will, werde ich sie nicht daran hindern.
An diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen, habe ich angemessen schlechte Laune.
Draußen knallt die Sonne vom Himmel, als hätte es gestern nie einen Kälteeinbruch gegeben, und ich blinzele, nachdem ich den Reißverschluss des Eingangs aufgezogen habe. Auf dem großen Felsen am Fluss liegen Raes Sachen zum Trocknen ausgebreitet, daneben hat sie ihre und auch meine Wanderschuhe gestellt. Von Rae selbst ist nichts zu sehen.
Als ich mich außerhalb des Zelts aufrichte, entdecke ich meine eigenen Klamotten, die Rae über einen tiefhängenden Ast geworfen hat.
«Rae?»
Ihr Zelt ist geschlossen, aber ich glaube nicht, dass sie sich bei diesem Wetter darin verschanzt hat. Vielleicht ist sie duschen.
Ein Blick auf mein Smartphone sagt mir, dass es bereits kurz vor zehn ist. So lange habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen – mehr als neun Stunden, ein neuer Rekord.
Rae taucht wieder auf, als ich gerade dabei bin, die Porridgepampe umzurühren. Mit Sicherheit esse ich das nach unserem Trip nie wieder. Ob man in einem der Restaurants bei den Bungalowanlagen auch frühstücken kann? Eigentlich könnte ich heute Abend mal essen gehen und das herausfinden.
«Guten Morgen.»
Raes Ton ist ähnlich reserviert wie meine Stimmung. Da harmonieren wir doch wieder mal bestens. Schweigend kratzen wir unsere Schüsseln leer, und ebenso schweigend stapelt Rae anschließend das Geschirr zusammen und verzieht sich zu den Spülbecken.
Unsere Kleider sind nach dem Frühstück fast trocken, was man von den Schuhen allerdings nicht sagen kann. Hoffentlich habe ich Glück und muss heute Abend nicht mit Flipflops ins Restaurant.
Und jetzt? Normalerweise wandern wir um diese Zeit los, doch mit den nassen Schuhen können wir das heute wohl vergessen.
Schließlich hole ich die Isomatte und Sonnencreme aus meinem Zelt heraus, ziehe mir das Shirt über den Kopf und lege mich in die Sonne. Irgendwie wird dieser Tag sich wohl rumbringen lassen. Und wenn die Stimmung morgen immer noch so scheiße ist, sehen wir weiter.
Ich blicke auf, weil ein Schatten über mich fällt. «Cayden?»
Eine Hand über die Augen gelegt, blinzele ich zu Rae auf. «Was?»
«Ich wollte gestern nicht behaupten, dass du … na ja, dass du oberflächlich bist.»
«Okay.»
«Ich weiß ja nicht, wie sehr dich dein schlechtes Verhältnis zu deinem Vater belastet …»
«Rae, lass es gut sein.»
«… ich wollte nur sagen … dass du einfach so viele Möglichkeiten hast.»
«Mh.»
«Und du nutzt sie irgendwie nicht.»
«Mh.»
«Wieso nicht?»
Innerlich rolle ich mit den Augen, nach außen hin lächle ich. «Wieso arbeitest du seit Ewigkeiten in einem Kino? Hast du nicht auch mehr auf dem Kasten?»
Dass Rae blass wird, ist sogar im Gegenlicht zu erkennen. «Das lässt sich wohl kaum vergleichen.»
«Wieso nicht?»
«Ich werde mich dann nach etwas anderem umsehen, wenn ich mich bereit dafür fühle!»
«Während die Jahre vergehen.»
«Du hast doch keine Ahnung! Lass uns doch mal tauschen! Und ich sehe mich in deinem stinkreichen Leben um und saufe mich zu und hänge mit irgendwelchen Frauen rum – aber vielleicht versöhne ich mich auch mit deinem Vater? Könnte es nicht sein, dass den einfach ankotzt, dass du nur sein Geld ausgibst, und sonst interessiert dich nichts? Abgesehen von irgendwelchen Bettgeschichten? Und du kannst … du kannst dann ja versuchen, eine Lücke zu füllen, obwohl es dich n
ur noch zur Hälfte gibt, und hörst dir an, wie deine Mutter nachts weint und …»
Raes Stimme ist bei den letzten Sätzen bereits brüchig geworden, und nun erstirbt sie ganz. Sie reibt sich die Stirn. «Es tut mir leid», sagt sie leise. «Das war … ich bin … ich verstehe einfach nicht … ach, egal.»
Sie dreht sich um und geht, und ich schließe erneut die Augen in dem Versuch, mich zu beruhigen.
Ihre letzten Worte haben meinen aufsteigenden Ärger massiv gedämpft, aber es ist noch immer genug davon übrig. Klar, Rae. Mit Sicherheit würdest du dich mit meinem Vater versöhnen. Du gehst nur leider von einem normalen Menschen aus – mein Vater aber hält sich für eine Art Gott. Und Götter stehen über allem, die versöhnen sich nicht. Das haben sie gar nicht nötig. Hauptsache, man betet sie an und stellt ihre in Stein gehauenen Regeln niemals in Frage.
Ihm ist es absolut recht, dass ich sein Geld ausgebe, denn auf diese Art kauft er mich jeden Tag neu.
Ich schlage die Augen wieder auf.
Das muss sich ändern. Das muss sich endlich ändern. Jackson wird nicht sehr begeistert sein, aber ich muss aus diesem Haus raus, aus dieser Scheißvilla, die meinem Vater gehört, mit allem, was sich darin befindet.
Und dann? Was kommt danach?
An diesem Punkt war ich in meinen Überlegungen schon häufiger mal, und auch die nächsten Gedanken sind nicht wirklich neu.
Mal angenommen, ich finde einen Platz in einem der Studentenwohnheime … ohne die Fürsprache meines Vaters müsste ich mich vor einem Job wie bei Thompson & White nicht mehr drücken, so etwas gäbe es dann nämlich nicht. Und vermutlich auch nichts anderes in dieser Richtung. Mein Vater hat nicht nur die Möglichkeit, mir Wege freizuräumen, er kann sie mir auch verbauen. Und ich traue ihm auch ohne weiteres zu, dass er das tun würde.
Ich wäre ein guter Anwalt, da bin ich mir ziemlich sicher, aber würde ich jemals irgendwo Fuß fassen können, wenn mein Vater beschließen würde, all die großartigen Tore, die Rae vor Augen hat, eines nach dem anderen für mich zu schließen?
Und wenn ich mit etwas anderem noch einmal ganz von vorn beginnen würde, mit etwas, in das mein Vater seine Beziehungsfäden nicht hineinspinnen kann – was sollte das sein?