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002 - Free like the Wind

Page 27

by Kira Mohn


  Etwas länger als eine Woche. So lange war ich von zu Hause fort. Dabei wollte ich anfangs am liebsten monatelang allein durch die Wildnis wandern. Und trotzdem hat sich in dieser Woche einiges verändert.

  Ich kann an Leah denken. Es schmerzt noch immer wie verrückt, aber da war vorher ein zusätzlicher Druck, den ich jetzt nicht mehr spüre. Gestern Abend war ich mir nicht sicher, wie es mir heute Morgen gehen würde, doch nach dem Aufwachen hat sich das Schuldgefühl nicht wieder zurückgemeldet.

  Und ich habe mir etwas vorgenommen. Ich werde mich richtig von Leah verabschieden, so wie wir es vor drei Jahren hätten tun sollen. Es ist unglaublich, wie sehr es helfen kann, sich etwas vorzunehmen.

  Mein Verhältnis zu Cayden hat sich auch verändert, doch was das betrifft, bin ich ratlos. Hilflos. Noch auf der Hinfahrt wollte ich ihn aus meinem Auto schmeißen, und in den letzten Tagen dann wollte ich ihn umarmen, ihm den Mund verbieten, Dinge nach ihm werfen, ihn trösten, für ihn da sein … ich wollte ihn küssen, und ich habe ihn geküsst.

  Verrückt.

  Es ist so viel passiert, und in dieser Sekunde kann ich nur daran denken, wie er seinen Kopf senkte und mich küsste, in einem Moment, in dem ich so gar nicht damit gerechnet habe.

  Nicht dass es vorher andere Momente gab, in denen ich eher damit gerechnet hätte.

  Oder vielleicht doch. Meine verletzte Hand pulsiert noch immer, wenn ich sie zur Faust schließe, und wenn ich ehrlich bin, habe ich mir an dem Morgen nach dem Sturm, als Cayden sich über mich beugte, gewünscht, ihn zu küssen. Mit den Fingerspitzen sein schönes Gesicht berühren, seine dunklen Brauen nachzeichnen und über diese perfekten Lippen gleiten. Kann irgendjemand ihn ansehen und sich nicht vorstellen, ihn zu küssen? Ich glaube nicht.

  Also, außer ich noch vor einigen Wochen, aber ich habe es ja schon festgestellt: Es hat sich einiges verändert.

  Ich wünschte, Haven wäre da. Sie ist die Einzige, mit der ich gern über alles reden würde. Allison fällt aus naheliegenden Gründen wohl raus, und Jackson ist mehr Havens Freund und mehr Caydens Freund als meiner. Und außerdem ist er auch nicht da.

  Mit Leah hätte ich reden können.

  Und ich weiß genau, was sie gesagt hätte: Warum fährst du nicht zu ihm und klärst das alles?

  Ich rutsche ein Stück tiefer in mein Kissen.

  Weil ich nicht weiß, was ich ihm sagen soll.

  Mit dieser Antwort würde sich Leah allerdings nie im Leben zufriedengeben. Das merkst du dann schon, wenn du vor ihm stehst.

  Leah, für dich war immer alles so leicht. Du warst so unbeschwert, so offen … aber ich war das doch nie. Und ich habe Cayden verletzt. Ich wollte es nicht, aber es ist trotzdem geschehen.

  Noch immer denke ich, dass meine Worte gestern Nachmittag die richtigen waren, aber mit Sicherheit kann auch die Wahrheit wehtun. Vor allem so direkt, nachdem Cayden erstmalig mit etwas rausgerückt ist, dass er ganz sicher noch nicht oft erzählt hat, wenn überhaupt. Mein Verhalten war … unüberlegt.

  Allerdings habe ich Cayden seinen Rückzieher unmittelbar nach unserem Kuss auch verziehen, und das ist mit Sicherheit auf der Skala der unüberlegten Dinge ebenfalls ziemlich weit oben angesetzt.

  Ach, verdammt.

  Ich lasse mich in meine Kissen gleiten und ziehe mir die Decke über den Kopf.

  Leah würde mir vorschlagen, einfach bei Cayden vorbeizufahren. Und nachdem sie lang genug auf mich eingeredet hätte, würde ich höchstwahrscheinlich irgendwann tatsächlich ins Auto steigen.

  Okay. Vielleicht mache ich das morgen.

  Oder ich warte erst einmal ein paar Tage, damit Cayden Zeit hat, runterzukommen.

  Andererseits …

  Mein Telefon summt. Einmal. Eine Nachricht.

  Mit angehaltenem Atem liege ich da und gehe die Möglichkeiten durch. Haven? Die mir ein Foto schickt?

  Bisher hat sie das noch nicht getan, und was Haven betrifft, ist das auch nicht weiter ungewöhnlich. Die Möglichkeiten eines Smartphones interessieren sie nicht wirklich.

  Allison? Philippe? Maverick? Denken alle, ich mache gerade noch einen netten Wanderurlaub im Jasper National Park.

  Meine Eltern?

  Okay, ich werde albern. Meine Mutter würde mir niemals eine Nachricht schreiben, wenn ich wenige Meter von ihr entfernt in meinem Zimmer liege, und Dad schickt zwar hin und wieder ein paar Zeilen von seinen Geschäftsreisen aus, aber nie um – ich taste nach dem Telefon – fast ein Uhr morgens.

  Die Nachricht ist von Cayden.

  Und als ich sie gelesen habe, frage ich mich, ob er in den letzten Stunden den Gin aus seinem Rucksack auf einen Schlag vernichtet hat.

  Cayden

  Direkt nachdem sich die Haustür hinter mir geschlossen hatte, habe ich den Rucksack ausgeleert, mir die Ginflasche gegriffen und bin damit nach oben in die Küche gegangen.

  Ein endgültiger Absturz. So viel trinken, dass ich einfach zur Seite falle und bis zum nächsten Morgen im Koma liege. Nicht mehr nachdenken müssen. Weder über das, was ich Rae erzählt habe, noch über das, was sie dazu gesagt hat.

  Ein gutes Drittel einer Flasche Tonic schütte ich in den Ausguss, um sie mit dem Gin aufzufüllen. Damit wandere ich ins Wohnzimmer, wo Rae nicht auf dem Sofa sitzt. Wieso sollte sie auch?

  Eine Weile stehe ich da und stelle mir vor, sie würde doch dort sitzen und auf mich warten, die Füße auf dem niedrigen Tisch abgelegt. Vielleicht würde sie auch mit Wasserbomben werfen, und als ich an diese Wasserbomben denke, nach zwei, drei kräftigen Schlucken aus der Flasche, stelle ich mir Rae nackt vor, nur um direkt festzustellen, dass mit mir, was den fucking Sex betrifft, doch alles in Ordnung zu sein scheint.

  Ich will bloß keine Emmas und Tessas und Gwens und wie sie alle heißen, ich will Rae. Ich will sie jetzt und hier auf dem Sofa vögeln, der Typ mit dem weißen Haar und das Mädchen mit dem blauen Haar, wie in einem fucking Anime, und ich will sie dabei ansehen, und ich will, dass sie zurücknimmt, was sie gestern gesagt hat, es irgendwie wieder aus meinem Hirn ätzt. Weil ich nämlich fuckverflucht noch mal nicht stolz darauf bin, dass mein Scheißvater mich zu jemandem gemacht hat, der kotzen könnte bei all dem, was gerade in ihm aufsteigt. Weil es zu viel ist. Weil ich es nicht mehr im Griff habe.

  Und zeigt sich nicht genau dadurch, dass Rae recht hat?

  Wäre ich in diesem Moment nicht zufrieden mit mir und der Welt und maximal ein wenig gelangweilt, wenn ich alles wie immer unter Kontrolle hätte? Wäre ich nicht stolz darauf, alles ordentlich in meinem Hirn wegsortieren zu können, Gedanken an tote Kaninchen und Rennmäuse und noch ganz andere Maßnahmen, die mein Vater verwendet hat, um mir klarzumachen, dass jegliche Gefühlsausbrüche im Hause Terrell unerwünscht sind?

  Meine erbärmliche Waffe. Stolz. Stolz, das leisten zu können, was er von mir verlangt hat. Und meine einzige Freude dabei ist, meine Gefühle so perfekt verbergen zu können, dass er nicht einmal mitkriegt, wie sehr ich ihn hasse.

  Der Gin … ich mustere die Flasche.

  Vielleicht habe ich mich nicht immer so zugedröhnt, weil mir langweilig war. Vielleicht habe ich den Alkohol wirklich gebraucht, um weiterhin die Kontrolle zu behalten.

  Ich lasse die Flasche einfach fallen und gehe zum Fenster, blicke hinunter auf den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

  Als ich Rae im Wald geküsst habe, war es das erste Mal seit … Ewigkeiten, dass ich das Gefühl hatte, alles ist richtig. Niemand musste sich verstellen, keine aufrechterhaltene Distanz, keine Manipulation. Selbst wenn ich mit irgendwelchen Frauen im Bett bin, achte ich normalerweise immer auf einen gewissen Abstand, psychisch, meine ich, aber bei Rae …

  Langsam drehe ich mich wieder um, betrachte das Sofa, den riesigen Flachbildschirm an der Wand, den Tisch, auf dem seit über einer Woche ein Glas steht, das ich vor meinem Aufbruch nicht weggeräumt habe. Der Inhalt der Tonicflasche hat sich auf dem Parkettboden ausgebreitet.

  Ich muss aufhören, darüber nachzudenken, wie alles vielleicht wird, sobald ich einen ersten Schritt unternehme. Ich muss endlich diesen Schritt gehen.

  Entweder das, oder aber ich werde in absehbarer Zukunft
tatsächlich ein erbärmlicher Alkoholiker sein, einer, der nach Gelegenheiten Ausschau hält, sich aus einem Fenster zu stürzen.

  Auf meinem Konto befindet sich genug Geld, um eine Weile in Ruhe nachdenken zu können.

  Ich will hier weg. Sofort.

  Der erste Schritt muss genau jetzt passieren.

  In den Rucksack packe ich so viele Klamotten wie eben reinpassen und außerdem meinen Rechner und den Kulturbeutel.

  Dann schreibe ich Rae eine Nachricht und verlasse das Haus.

  20.

  Rae

  Als ich Cayden anrufe, mitten in der Nacht, geht er sofort ans Telefon.

  «Okay», beginne ich. «Was für eine blöde Verarsche soll das jetzt sein?»

  «Ich meine jedes Wort völlig ernst.»

  Im Hintergrund ist das Geräusch fahrender Autos zu hören, und ich wechsele das Smartphone vom rechten auf das linke Ohr. Das gibt’s doch alles gar nicht.

  «Wo bist du gerade?», frage ich.

  «Ich stehe vor dem Holiday Inn.»

  «Du stehst vor dem Holiday Inn.»

  «Also, eigentlich gehe ich jetzt rein.»

  «Du gehst da jetzt echt rein.»

  «Irgendwie hat mein Telefon einen Hall, ist das bei dir auch so?»

  Eine Cayden-Idee. Es ist einfach nur so eine Cayden-Idee. Gleich wird er spöttisch auflachen, wahrscheinlich grinst er schon, und ich sehe es nur nicht.

  «Was machst du jetzt?», frage ich.

  «Ich buche ein Zimmer.»

  «Ich glaub dir kein Wort.»

  Im nächsten Moment summt mein Telefon erneut. Cayden hat mir ein Foto geschickt. Er selbst ist darauf zu sehen und im Hintergrund eindeutig eine Rezeptionistin, die nicht in die Kamera lächelt, sondern in Richtung Cayden.

  Ich glaube es trotzdem nicht.

  So etwas macht man doch nicht einfach so.

  «Also?», höre ich Caydens Stimme.

  «Ich muss darüber nachdenken.»

  «Klar.»

  «Cayden … ist noch was von dem Gin übrig?»

  «Wieso, brauchst du welchen?»

  «Nein.»

  «Du hättest einen Drink haben können. Es ist noch jede Menge von dem Zeug da.» Eine kurze Pause, in der ich Cayden mit der Rezeptionistin sprechen höre. «Allerdings habe ich es nicht dabei», fügt er dann hinzu.

  «Was genau hast du vor?»

  «Ich weiß es noch nicht. Aber der erste Schritt ist gemacht. Ruf mich an, wenn du nachgedacht hast. Ich bin hier. Vorerst. Und ganz egal, wo ich demnächst sein werde, unter dieser Nummer erreichst du mich immer.»

  «Okay.»

  «Gut, dann … werde ich mich jetzt mal bei Jackson melden.»

  «Es ist fast zwei.»

  «Ach, der ist bestimmt noch wach. Bis dann.»

  Er legt auf, ohne meine Antwort abzuwarten, und langsam lasse ich das Telefon sinken.

  Es ist eine Cayden-Idee. Alles andere wäre absurd.

  Aber nehmen wir mal an, er würde es tatsächlich ernst meinen … nein. Es würde nicht funktionieren.

  Noch einmal tippe ich das Display meines Smartphones an, das inzwischen wieder schwarz geworden ist.

  Ich ziehe aus. Was hältst du von einer WG? Jackson, Haven, du und ich?

  Ich starre so lange auf die Worte, bis das Display sich abermals verdunkelt, und dann bringe ich die Nachricht zum dritten Mal zum Aufleuchten.

  Vielleicht würde es mit Haven funktionieren, vielleicht auch mit Haven und Jackson. Aber in einer WG mit Cayden?

  Und was würde Mum dazu sagen? Ich kann sie doch nicht allein lassen. Und es würde Geld kosten, jede Menge, und würde ich die Einzige in einer Vierer-WG sein wollen, die abends in einem Kino jobbt, während die anderen studieren?

  Und möchte ich mit Cayden in einer Wohnung leben, ihn jeden Tag sehen, mich von diesem Mann in den Wahnsinn treiben lassen und mir gleichzeitig wünschen, ihn in den Arm zu nehmen?

  Warum ich? Cayden, warum fragst du ausgerechnet mich das? Du könntest das vierte Zimmer einfach untervermieten, nacheinander an all die Frauen, mit denen du dich sonst so triffst …

  Über all diese Dinge und über mehr denke ich nach, bis die Morgendämmerung in meinem Zimmer die ersten Konturen nachzeichnet, und dann noch etwas länger, bis ich Mum ins Bad gehen höre.

  Ich bin noch immer nicht damit fertig, als ich schließlich die Decke zur Seite werfe, aber irgendetwas muss ich jetzt tun. Noch immer habe ich Leahs Stimme im Ohr. Fahr einfach hin.

  Es ist erst Viertel nach sieben, aber egal. Er wird schon wach sein. Jedenfalls gleich.

  Mum ist einigermaßen überrascht, als ich ihr mitteile, ich müsse dringend los.

  «Wohin willst du denn? Du hast ja noch nicht mal gefrühstückt.»

  «Ich frühstücke unterwegs.»

  «Ist irgendwas passiert?»

  «Nein. Nein, es ist alles in Ordnung.»

  «Aber warum musst du dann so früh irgendwohin? Du musst doch nie so früh irgendwohin.»

  Sie sieht mal wieder so aufgelöst aus, dass ich kurz davorstehe, ihr zu sagen, dass sie mich doch einmal im Leben einfach mal machen lassen soll. Einmal soll sie mir vertrauen, ohne mir ein schlechtes Gewissen einzupflanzen, weil alles, was ich unvorhergesehen tue, bei ihr Ängste auslöst. Aber so komme ich nicht weiter. Ich muss es anders angehen. Wie wäre es also mal mit dem Beenden der ständigen Mum-Dauerschonung?

  «Ich fahre jetzt zu Cayden. Wir haben letzte Nacht telefoniert. Er ist in ein Hotel gezogen, und ich habe keine Ahnung, warum. Wenn ich ihn richtig verstehe, hat er vor, sich ein neue Wohnung zu suchen.»

  «Cayden zieht mitten in der Nacht in ein Hotel? Ich verstehe nicht … er wohnt doch mit Jackson zusammen, richtig? Haben die beiden sich gestritten?»

  «Jackson ist gar nicht da, Mum», erinnere ich sie. «Der ist mit Haven irgendwo in den USA unterwegs. Nein, ich glaube, es hat mit Caydens Vater zu tun, dem das Haus gehört, in dem Cayden lebt. Ich glaube … ich glaube, er will sich freimachen. Und das musste offenbar sofort sein.»

  Mum sieht mich an, und ihr ist anzumerken, dass sie sich Mühe gibt, die Zusammenhänge zu verstehen.

  «Und du willst ihn jetzt unterstützen?», fragt sie schließlich.

  «Genau. Und ich will … Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammenziehen würde. Und mit Haven und Jackson», füge ich schnell hinzu.

  Jetzt wird meine Mutter blass. Das war vielleicht doch etwas zu viel Anti-Mutter-Schonung.

  «Zusammenziehen? Du willst hier weg? Also … seid ihr beide denn ein Paar, du und Cayden?»

  Tja. Das ist jetzt so eine Frage.

  «Ich weiß es nicht», erwidere ich vorsichtig. «Ich glaube, noch nicht.»

  «Noch nicht? Aber du wärst gern mit Cayden zusammen?»

  Wieso sage ich denn noch nicht?

  Weil Mum vielleicht recht hat? Wäre ich gern mit Cayden zusammen? Kann man mit so einem Typen überhaupt zusammen sein?

  «Ich weiß es nicht, Mum», erwidere ich schließlich. «Aber das ist auch ein Grund, warum ich jetzt zu ihm fahren will.»

  «Er schläft bestimmt noch.»

  Ich zucke mit den Schultern.

  Mum sieht mich lange an. Dann tritt sie einen Schritt zurück und lächelt. Lächelt tapfer, aber lächelt.

  «Also, dann … ich hoffe, es wird alles gut. Für euch beide», sagt sie, und plötzlich bin ich es, die noch einmal auf sie zugeht und sie in den Arm nimmt, bevor ich das Haus verlasse.

  Die Rezeptionistin im Holiday Inn ist weit weniger verständnisvoll als meine Mutter. Es ist die von letzter Nacht, und erst als ich ihr das Bild zeige, das Cayden mir von ihr und ihm zusammen geschickt hat, und zum bestimmt fünften Mal versichert habe, dass es sich um einen Notfall handelt, ruft sie endlich auf seinem Zimmer an. Sein eigenes Telefon hat er mal wieder ausgeschaltet. Es klingelt ewig, und ich beginne gerade, mir Sorgen zu machen, dass meine Aktion jetzt an Caydens Tiefschlaf scheitern könnte, da nimmt er offenbar endlich den Hörer ab.

  «Zimmer 727», sagt die Rezeptionistin und klingt noch immer etwas angesäuert.

  Egal. Leah, du wärst stolz auf mich. Ich
gehe einfach hin. Ich kläre das.

  Meine Euphorie über meinen erstaunlichen Aktionismus trägt mich bis vor die Tür von Nummer 727, dann fällt sie in sich zusammen und weicht einem Gefühl von … Angst.

  Mit Angst hätte ich jetzt überhaupt nicht gerechnet.

  Wovor denn?, frage ich mich und klopfe gleichzeitig an die Tür. Ich bin zwar nicht allmächtig, aber ich kann bis zu einem gewissen Grad durchaus bestimmen, was in meinem Umfeld passiert. Entscheidungen treffen. Nein sagen. Oder auch …

  Cayden öffnet die Tür. Dass er gerade noch geschlafen hat, würde niemand glauben, der ihn jetzt sieht. Einzig seine Haare sind nicht perfekt gestylt, aber ich finde, es sieht sogar besser aus, wenn sie nicht so perfekt in Form zurückgegelt sind. Ich mag es, wenn ihm einzelne Strähnen in die Stirn hängen und …

  «Kommst du rein?», fragt er. «Oder überlegst du noch?»

  Hastig trete ich einen Schritt an ihm vorbei in das Zimmer. Ein dunkler Eichenholzparkettboden, die Wand hinter dem Kopfende des weiß bezogenen Doppelbettes ist grau. Eine Seite ist zerwühlt, neben dem Nachtschrank lehnt ein mir mittlerweile bekannter Rucksack.

  «Okay.» Ich drehe mich zu Cayden um. Er trägt ein helles Shirt mit dem Namen irgendeiner Band darauf. Radiohead. Hab ich mal gehört, bringe ich aber jetzt mit keinem Song in Verbindung. «Okay», wiederhole ich, «also, zu deiner Nachricht …»

  «Moment», unterbricht mich Cayden. «Bin gleich wieder da.»

  Verblüfft sehe ich ihm nach, wie er ins Badezimmer verschwindet. Es dauert mehrere Minuten, bis er endlich wieder rauskommt, und er ist eindeutig nicht ins Bad gegangen, um sich die Haare zu kämmen. Die Toilettenspülung habe ich auch nicht gehört, er trägt noch dasselbe Shirt und …

  «Das tun sie nur in blöden Filmen», sagt Cayden und versenkt die Hände in den Taschen seiner grauen Jogginghose. Der Saum rutscht hinunter, nicht genug, als dass ein Streifen Haut zu erkennen wäre, dazu ist das Shirt zu lang, aber es lässt ein Bild in meinem Kopf entstehen, das mich schlucken lässt. Darüber, was es in mir auslösen würde, Cayden gegenüberzustehen, der gerade aus dem Bett gestiegen ist, habe ich nicht nachgedacht.

 

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