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002 - Free like the Wind

Page 26

by Kira Mohn


  Ich finde einfach keinen Anfang.

  «Cayden!»

  Raes Stimme, und sie klingt schockiert. Ich schwanke ein wenig, weil ich zu hastig auf die Füße komme. Rae ist am Flussufer entlangspaziert und hat sich schon ein gutes Stück von unseren Zelten entfernt. Sie hat sich hingehockt, und während ich jetzt auf sie zulaufe, überlege ich, ob sie sich vielleicht verletzt hat, gestürzt ist, was auch immer.

  Als ich sie fast erreicht habe, dreht sie sich zu mir um, und ich sehe, dass sie etwas in den Händen hält. Ein … was ist …?

  «Es ist ertrunken.»

  Nasses Fell und schlaff herabhängende Hinterläufe. Das tote Kaninchen blickt mit starren, runden Augen zu mir auf.

  «Es ist in diese Mulde reingefallen, das Arme. Und nicht wieder rausgekommen, die Wände sind viel zu glatt und zu hoch für so ein kleines Tier …»

  Raes traurige Stimme durchdringt nur schwach den Nebel, der sich in meinem Schädel auszubreiten beginnt.

  «Cayden? Was ist los? Hast du …?»

  Ich sehe Rae reden, kann sie jedoch nicht mehr hören. In meinen Ohren rauscht es, es rauscht und rauscht, als ich mich umdrehe und einfach in den Wald hineingehe.

  Möchte Daddy’s little boy lieber weglaufen?

  Ja, das möchte er.

  18.

  Rae

  Das zweite Mal. Das ist jetzt das zweite Mal in nicht einmal vierundzwanzig Stunden, dass Cayden mich einfach stehen lässt. Aber diesmal werde ich so viele Fragen stellen, bis ich eine Erklärung für sein Verhalten kriege.

  Was auch immer da in ihm abgeht, ich will es jetzt wissen!

  «Cayden!»

  Er läuft nur ein kurzes Stück vor mir, doch er dreht sich nicht um, sondern ignoriert mich. Ich habe das Kaninchen neben einen Baum gelegt, um ihm zu folgen, unsicher, ob ich ihn einfach am Arm festhalten soll.

  «Cayden!»

  Verflucht, man könnte meinen, er hört mich gar nicht. Im ersten Moment dachte ich, der Anblick des toten Tieres hätte ihn so getroffen, aber kein erwachsener Mensch auf der Welt gerät wegen eines ertrunkenen Kaninchens so aus der Fassung, oder? Und Cayden wäre so ungefähr der Allerletzte gewesen, bei dem ich mir deshalb Gedanken gemacht hätte – ich habe vielmehr damit gerechnet, dass er mich auslachen wird, wenn ich ihm sage, dass ich es begraben will.

  Unwillig schnalze ich mit der Zunge. Das ist doch wirklich zu blöd!

  «Cayden, verdammt noch mal, was ist …?»

  Ich habe mich endlich dazu durchgerungen, ihm eine Hand auf den Arm zu legen, nachdem ich mit ein paar schnellen Schritten zu ihm aufgeschlossen habe, doch ich lasse sofort wieder los. Er sieht aus, als wäre er tot. Eine leere Hülle mit dunklen Augen. Ausdruckslos starrt er mich an, dann sinkt er in sich zusammen, einfach so. Wie eine Marionette, bei der man die Fäden durchtrennt hat, fällt er auf die Knie, mit gesenktem Kopf.

  «Cayden?», flüstere ich. Was passiert hier? Was ist los mit ihm?

  Ich habe absolut keine Ahnung, was ich tun soll, und schließlich setze ich mich einfach neben ihn, so dicht wie möglich, ohne ihn zu berühren, und so sitzen wir ewig, nur wenige hundert Meter vom Ufer des Athabasca River entfernt. Gelegentliche Geräusche aus der Richtung des Campingplatzes wehen nur leise an mein Ohr. In der Luft flimmern helle Sonnenstrahlen, die ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch bis zu uns gefunden haben und die das Unterholz, wo sie darauftreffen, grüngolden aufleuchten lassen. Alles hier scheint wie erschaffen für einen ganz besonders friedlichen Moment. Der Duft nach Harz und Erde, das gelegentliche Summen irgendeines kleinen Insekts.

  Und dazwischen Cayden, wie zerbrochen.

  Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bevor er aufsieht. Noch immer wirkt er so, als habe er sich sehr weit zurückgezogen, weit genug, um seinen Dämonen zu entkommen.

  Ich muss an den Abend denken, als ich bei Haven und Jackson saß und Cayden betrunken nach Hause kam. Es ist, als könne ich nun den Schmerz, den ich damals bereits erahnt habe, ausgebreitet vor mir sehen.

  Damals dachte ich, er sehe aus wie jemand, der gleich zusammenbrechen werde. Jetzt ist es passiert, und ich kann nicht mehr tun als bei ihm sein.

  Und ich dachte auch, dass ich diesen Blick von mir selbst kenne, und als mir das wieder einfällt, bekomme ich Angst vor dem, was Cayden mir gleich erzählen wird.

  Aber ich will es trotzdem wissen.

  «Was ist los?», flüstere ich, um die Ruhe um uns herum nicht zu zerstören. «Woran hast du dich erinnert?»

  Er atmet einmal tief durch. Dann steht er plötzlich auf, geschmeidiger, als ich es für möglich gehalten hätte, und hält mir seine Hand hin.

  Überrumpelt sehe ich zu ihm auf. «Wo willst du denn hin?»

  «Zurück zum Fluss.»

  Ich verschränke die Arme. Oh nein. Diesmal nicht. Was auch immer in ihm vorgeht, diesmal werde ich nicht zulassen, dass er alles wieder beiseiteschiebt. Und deshalb werden wir jetzt auch nicht zu unseren Zelten zurückschlendern und dort einfach das Spiel Es ist gar nichts passiert weiterspielen.

  Cayden spreizt kurz die Finger der Hand, die er mir noch immer entgegenstreckt, eine hilflose, beinahe bittende Geste. «Ich beantworte deine Fragen, okay? Ich will … ich will nur vorher das Kaninchen begraben.»

  Das Kaninchen begraben. Ich ergreife seine Hand.

  Ein paar Minuten später sind wir damit beschäftigt, mit Steinen ein Loch in den weichen Waldboden zu scharren, tief genug, damit irgendwelche anderen Waldbewohner das Kaninchen nicht wieder ausbuddeln können. Schweigend schiebe ich mehrere Handvoll Erde zur Seite, bevor ich mit dem Stein das nächste Stück auflockere. Ich will, dass das Kaninchen ein ungestörtes Grab bekommt, wenn ich schon nicht rechtzeitig zu der Stelle gekommen bin, an der es gestorben ist. Eine halbe Stunde. Vielleicht hätte das schon gereicht. Es war noch weich und geschmeidig. Nur ein wenig früher, ein paar Sätze weniger, die ich mit Cayden gewechselt habe, dann hätte ich es vielleicht noch aus dem Wasser herausholen können. Ich halte im Graben inne.

  Ich hätte das Kaninchen retten können. Und ich hätte auch Leah retten können. Wenn ich nur …

  «Es ist nicht deine Schuld, Rae», sagt Cayden, ohne sich dabei zu unterbrechen, das Loch zu vergrößern. Nur kurz sieht er mich an.

  Noch immer wirkt er blass und erschüttert, und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, wie erstaunlich es ist, dass er trotz seines Zustands mitbekommen hat, was gerade in mir vorgeht. Wie typisch Cayden. Man muss ziemlich viel durchgemacht haben, um ein solches Gespür zu entwickeln, wird mir bewusst. Und dennoch hat auch er nicht geahnt, dass ein paar hundert Meter entfernt ein Kaninchen ertrinkt, während wir uns unterhalten. Wie auch? Woher hätte er es wissen sollen? Aber wenn nicht einmal ein Mensch wie Cayden etwas hätte tun können …

  Plötzlich wird mir bewusst, wie unfassbar begrenzt ich bin. Wie sehr ich einfach nur ich bin, Rae, immer nur auf diesen einen Augenblick beschränkt, eine Million Meilen weit davon entfernt, allmächtig zu sein. Unendlich viele Dinge geschehen gleichzeitig, ohne dass ich sie beeinflussen könnte, ohne dass ich auch nur davon weiß.

  Ich hätte das Kaninchen nicht retten können. Es tut mir leid, dass es ertrunken ist. Aber ich bin nicht daran schuld.

  Und ich hätte auch Leah nicht retten können. Das Einzige, was ich wirklich versäumt habe, ist, mich von ihr zu verabschieden. Wir haben es beide versäumt, Leah und ich. Hätten wir gewusst, dass es unser letzter Abschied sein würde, wir hätten es getan. Schulzeug und Konzerte und dieser Anflug von Ärger, weil wir beide uns mehr Verständnis von der anderen gewünscht haben … nichts davon wäre mehr wichtig gewesen. Natürlich kann man nicht immer so leben, als müsse man damit rechnen, sich nie wiederzusehen … aber man kann sich trotzdem voneinander verabschieden. Und ich werde das nachholen, Leah. Ich weiß noch nicht, wie, aber ich werde es tun.

  Ich verschränke die Arme um meine Beine und stütze das Kinn auf meine Knie. Noch immer hallt die Wucht meiner Erkenntnis in mir nach.

  Es ist keine besonders bahnbrechende Erkenntnis. Vielleicht würde meine Mutter nur sagen: Aber das habe ich doch die ganze Zeit versucht, dir zu erklären: Es war
nicht deine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können.

  Mein Kopf wusste, dass sie recht hat, aber ich habe es nie gefühlt.

  «Das reicht.» Cayden wirft den Stein zur Seite. Seine Arme und sein Shirt, alles ist voller Erde, als er jetzt aufsteht, um das Kaninchen zu holen. Er hält es so behutsam, als wäre es nicht nur irgendein Kaninchen, und genauso vorsichtig legt er es in das Loch, das wir ausgehoben haben.

  Gemeinsam füllen wir das Grab wieder auf und schichten am Ende noch schwere Steine vom Flussufer darüber.

  Ich war mir sicher, Cayden würde jetzt zu reden beginnen, doch noch einmal geht er zurück zum Wasser.

  «Wo war dieses fucking Loch?», ruft er mir zu, weil ich ihm nicht hinterhergegangen bin.

  «Ich glaube, es war weiter links.»

  Erst als wir beide neben der Felsmulde stehen, die vermutlich bei stärkeren Regenfällen vom Fluss überschwemmt wird und nur langsam wieder austrocknet – nicht schnell genug für das arme Kaninchen –, holt Cayden Luft. Er bückt sich und wirft einen Stein ins Wasser. Dann noch einen. Es ist ein tiefes Loch, es wird dauern.

  «Wo fange ich an?», sagt er, mehr zu sich selbst, und mit einem beklommenen Gefühl im Magen setze ich mich hin und höre zu.

  Cayden

  Einen Stein nach dem anderen aufzuheben und zu dem Loch zu tragen, hilft. Es hilft mir dabei, meine Gedanken zu ordnen, und es verhindert außerdem, dass ich einfach gehe. Mich zurückziehe. Wie so oft. Auf jeden Fall muss erst diese Todesfalle aus der Welt geschafft sein.

  «Als ich fünf Jahre alt wurde, bekam ich Rennmäuse», beginne ich ins Blaue hinein. «Zwei. Meine Mutter hat sie mir geschenkt, zusammen mit einem riesigen Terrarium. Ich hatte monatelang gebettelt, ich wollte unbedingt ein Tier, am liebsten einen Hund, aber mein Vater meinte, ein Hund mache zu viel Arbeit und zu viel Dreck.»

  Ich sehe mich nach größeren Steinen um, damit es schneller geht. «Sie hießen Ernie und Bert, nicht meine Idee. Meine Mutter hat mir gesagt, sie hießen so, also hießen sie eben so. Ernie war weiß und Bert hellbraun, und obwohl mein Vater meinte, sie würden nie zahm werden, weil sie ja einander hätten und mich gar nicht bräuchten, wurden sie es. Vielleicht hatte ich einfach Glück, aber ich glaube, es lag eher daran, dass ich mich ewig mit ihnen beschäftigt habe, in jeder freien Minute. Sie hüpften mir auf die Hand und wanderten von da aus meine Arme hinauf. Ernie saß oft auf meiner Schulter, ganz nah an meinen Hals geschmiegt. Ein paarmal ist er mir in den Pullover gefallen.»

  Rae lächelt auf diese Bemerkung hin, und auch ich muss lächeln, wenn auch nur kurz. Ich kenne ja schon das Ende dieser niedlichen Geschichte.

  «Irgendwann ging ich morgens zum Terrarium, und nur Ernie kam angerannt, als ich die Körnerschale nachfüllen wollte. Normalerweise kamen sie beide, sie waren völlig verfressen. Ich fütterte also Ernie, und als er fertig war, lief er über meinen Arm hinauf auf meine Schulter, und ich suchte Bert. Er lag in einem der Gänge, die die beiden gegraben hatten, und war einfach … tot. Einfach gestorben. Er sah aus, als würde er nur schlafen, sogar seine Augen waren geschlossen, aber er schlief nicht, und ich begann zu heulen. Meine Mutter kam.»

  Noch ein Stein. Noch ein Stein. Noch ein Stein.

  «Sie meinte, es seien eben Rennmäuse und die würden oft nicht so alt und ich könne eine neue Maus haben. Aber ich heulte und heulte und heulte, mit Bert in den Händen, den meine Mutter in den Müll befördern wollte. Und dann kam mein Vater.»

  Das Loch ist fast voll, mehr Steine wären vielleicht nicht einmal mehr nötig, doch ich bücke mich immer wieder neu.

  «Er hatte einen großen Eimer dabei, der zu Hälfte mit Wasser gefüllt war. Und er nahm mir erst Bert aus den Händen und warf ihn ins Wasser, und dann griff er sich Ernie. Hat ihn einfach von meiner Schulter gepflückt, wo er saß und mich getröstet hatte, und warf ihn ins Wasser. Also, Ernie saß da vermutlich nur, aber es hat sich so angefühlt, als wolle er mich trösten. Und ich habe es erst gar nicht kapiert, und dann bin ich aufgesprungen und wollte Ernie aus dem Eimer holen und …»

  Den nächsten Stein schleudere ich mit einer solchen Wucht in die Pfütze, die mal ein Loch war, dass er wieder herausspringt.

  «Mein Vater hat mich zurückgerissen und gemeint, wenn ich aufhören würde zu heulen, dürfe ich Ernie herausholen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht aufhören. Auf dem Boden des Eimers trieb Bert, und Ernie ruderte hektisch im Wasser herum und ging immer wieder unter, und er sah mich an. Jedes Mal, wenn er auftauchte, und auch noch beim Untergehen. Er hat mich angeguckt, und ich wollte ihm unbedingt helfen, aber ich konnte nicht aufhören zu heulen. Keine Ahnung, wie lang es gedauert hat, bis er nicht mehr aufgetaucht ist und unten blieb, neben Bert.»

  Ich sehe Rae an, die mich anstarrt, und es ist die größte Leistung meines Lebens, bei dieser Scheißgeschichte ihren Blick zu erwidern.

  Möchte Daddy’s little boy lieber weglaufen?

  Das hat mein Vater mich gefragt, während er meinen Arm festhielt und mich zwang, Ernies Tod mit anzusehen. Das hat er mich bei jeder seiner Lektionen gefragt. Und er hat immer alles vernichtet, was ich wirklich geliebt habe.

  «Danach wollte ich nie wieder ein Tier. Und ich habe auch nie wieder geheult.»

  «Du hast deine Gefühle abgetötet», flüstert Rae.

  «Eher gelernt, sie zu kontrollieren.»

  Rae steht auf und kommt langsam auf mich zu. Ich wünschte, sie würde das nicht tun. Was auch immer sie jetzt vorhat – weder will ich tröstende Worte noch eine gutgemeinte Umarmung, und als sie jetzt ihre Hände auf meine Hüften legt, spannt sich alles in mir an.

  Für einen kurzen Moment legt sie ihre Stirn gegen meine Brust, und ich sehe hinunter auf blaues Haar.

  Dann hebt sie den Blick. «Dein Vater ist … ich weiß nicht. Ein Psychopath. Ein grausamer Mensch. Ein wirkliches Monster. Aber Cayden …» Sie tritt einen Schritt zurück. «Wenn du sagst, du hast danach nie wieder geweint, oder auch wenn du sagst, du könntest deine Gefühle kontrollieren … du hörst dich dann stolz an.»

  Genauso gut hätte sie ausholen und mir die Faust in den Magen rammen können. Stolz? Stolz auf irgendetwas, das mein Vater mir eingepflanzt hat?

  «Mit Sicherheit nicht», erwidere ich und achte sorgfältig auf einen gleichmütigen Tonfall.

  «Nein? Du hast etwas Furchtbares erlebt, aber du erzählst es, als sei es nur eine harmlose Geschichte, die nicht mal besonders viel mit dir zu tun hat. Du siehst nicht mal so aus, als würde es dich irgendwie berühren.»

  «Gibt’s Richtlinien dafür, wie man bei so was auszusehen hat?»

  Raes Hände sinken herab, und ich trete einen halben Schritt zurück.

  «Ich will dich nicht verletzen, das weißt du, oder?», sagt sie. «Aber eine nette Umarmung hättest du doch eh nicht gewollt, also – dein Vater hat dich dazu gebracht, deine Gefühle zu kontrollieren, wie du es nennst. Und du sagst, du hasst ihn, aber … du hältst dich noch immer an seine Gesetze. Und auch wenn du das nicht hören willst, irgendwie macht es dich stolz, dass du das schaffst. Obwohl du dabei kaputtgehst.»

  Genug. Es reicht. Warum höre ich mir diese Scheiße überhaupt an? Stolz – ich bin auf gar nichts stolz! Worauf denn auch? Wo gäbe es denn irgendwas, auf das ich stolz sein könnte?

  «Lass uns zurückgehen», sage ich ruhig, statt Rae anzubrüllen.

  Rae steckt die Hände in die Taschen, dreht sich um und geht los, mit gesenktem Kopf. Nach einigen Sekunden folge ich ihr.

  Ich weiß, was ich meinem Vater zu verdanken habe, ich weiß es! Und ich bin darauf nicht stolz, ich habe es nur im Griff! Es überflutet mich nicht, es löscht mich nicht aus, und ist das gottverdammt etwa nicht okay? Das so zu regeln? Wie sollte ich denn sonst damit umgehen?

  Du hältst dich noch immer an seine Gesetze.

  Und warum auch nicht? Nicht alles, was von diesem Arsch kam, war schlecht. Und wenn es mir besser damit geht, irgendwelchen emotionalen Scheiß zu unterdrücken, warum sollte ich es dann nicht tun? Wenn es mir doch dabei hilft, dieses verfickte Leben überhaupt irgendwie auf die Reihe zu kriegen?

  Das und die Ginflasche in deinem Zelt, fl
üstert es in mir.

  Ab und zu! In der letzten Woche nur ein einziges Mal und auch nur ein Schluck!

  Und der ganze Sex, mit dem du dich ablenkst.

  Wann hatte ich denn das letzte Mal Sex? Wann? Ist ewig her! Es macht mich nicht mal mehr scharf, wenn eine Frau auf meinem Schoß sitzt und ich sie dazu bringe, zu kommen. Nicht mal das.

  Obwohl du dabei kaputtgehst.

  Fuck, Rae! Eine Scheißumarmung wäre mir doch lieber gewesen.

  «Morgen fahre ich zurück», sage ich. «Ich nehme den Zug.»

  Rae sieht mich nur kurz an, ohne stehen zu bleiben, und jetzt verbergen ihre Haare schon wieder ihr Gesicht.

  «Okay», erwidert sie. Und dann, nach einem Moment: «Du musst nicht den Zug nehmen, ich fahre auch.»

  19.

  Rae

  Cayden konnte für mich weinen. Für sich selbst kann er es nicht.

  Heute Morgen beim Packen haben wir nur das Nötigste miteinander gesprochen, und auch den Weg zurück nach Jasper und später die Autofahrt haben wir überwiegend schweigend zurückgelegt. Als wir bei seiner Villa angekommen sind, hat er seinen Rucksack aus dem Auto gezerrt und «Bis dann» gesagt. Mehr nicht. Bis dann.

  Ein paar Sekunden lang hat er gezögert, und ich habe mir das Hirn nach Worten zermartert, die genau jetzt, an dieser Stelle, richtig sein würden, aber mir ist nichts eingefallen, und Cayden hat sich aufgerichtet und ist gegangen. Ich habe ihm nachgesehen, bis die Haustür sich hinter ihm schloss. Vielleicht hat er noch mal zurückgeblickt, sicher bin ich mir nicht.

  Mum hat sich gefreut, mich so früh wieder bei sich zu haben, und sie hat es, ohne weiter nachzufragen, hingenommen, als ich ihr erklärte, Cayden und ich hätten nicht sehr klug gepackt und wir würden das Ganze irgendwann anders vielleicht noch mal neu angehen.

  «Aber zwischen euch ist alles in Ordnung, oder?», hat sie später beim Abendessen gefragt, so als seien Cayden und ich ein Paar, und ich habe genickt.

  Jetzt sitze ich auf meinem Bett, es ist bereits nach Mitternacht. Der Rucksack lehnt unausgepackt an meinem Schreibtisch, und ich blicke zum Fenster hinaus ins Dunkel. Philippe rechnet noch nicht damit, dass ich wieder da bin. Ich denke, ich werde ihn irgendwann in den nächsten Tagen mal anrufen.

 

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