Wir sind der Sturm

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Wir sind der Sturm Page 21

by Bichon, Sophie


  »Ich hoffe, du hast Hunger«, sagte sie, schloss leise die Tür und setzte sich neben mich auf das Bett. »Mel hat mir das hier in die Hand gedrückt.«

  Erst jetzt bemerkte ich den verführerischen Duft nach Käse, nach Mac and Cheese, und ich spürte die Tränen, die erneut kurz davor waren, in mir hochzusteigen. Ich versuchte, das Brennen in den Augen zu unterdrücken. Ich klappte das Laptop zu, nahm schweigend den Teller entgegen und begann, zu essen. Wir schwiegen, nur unterbrochen von dem Kratzen von Besteck auf Geschirr und dem leisen Summen meines Laptops.

  »Was machst du hier?«, fragte ich schließlich leise.

  Trish legte einen Moment den Kopf schräg und musterte mich eindringlich, bevor sie zu sprechen begann. »Du warst plötzlich weg, und ich hab überhaupt nichts von dir gehört, Lou. Ich weiß nur wegen Mel, dass du hier bist. Die restliche Zeit habe ich mir einfach Sorgen um dich gemacht.«

  In mir rührte sich das schlechte Gewissen, dass ich einfach so verschwunden war.

  »Ich bin hier, weil du meine beste Freundin bist und ich deshalb nach dir sehen wollte. Irgendjemand musste ja herkommen und dich aus deiner Hobbithöhle ausgraben!« Trish griff nach meiner Hand und lächelte mich an, ein sanfter Ausdruck in den grauen Augen. »Das wird dich jetzt wahrscheinlich wahnsinnig schockieren, Lou, aber ich bin nicht hier, um dich zurückzuholen, auch wenn ich mir wünschen würde, dass du darüber nachdenkst. Und ich werde dich auch nicht fragen, was genau passiert ist. Es muss mehr dahinterstecken, als dass das mit Paul und dir nicht funktioniert hat – und es ist in Ordnung, wenn du noch nicht bereit bist, darüber zu sprechen aber … wir vermissen dich, Lou. Bowie, Aiden, ich. Sogar Isaac und Luke haben mehrmals nach dir gefragt! Es ist wirklich nicht dasselbe ohne dich!«

  Und dann konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Trish, die extra hierhergefahren war, weil sie sich Sorgen um mich machte. Die aus Rücksicht auf meine Gefühle ihre ewige Neugierde hinunterschluckte und mit einem Mal so ruhig und bedacht war. In diesem Moment beschloss ich endgültig, ihr zu verzeihen, dass sie Paul von dem Kuss erzählt hatte. Sie hatte einen Fehler gemacht, doch das machte sie nicht zu einer schlechten Freundin. Letztendlich hatte sie es mit guten Absichten getan.

  Die Tränen liefen über meine Wangen, und Trish sah mich zerknirscht an. »Bist du noch böse auf mich, Lou? Oder habe ich etwas Falsches gesagt?«

  Ich drückte ihre Hand. »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Du hast genau das Richtige gesagt. Ich bin nur froh, dass du hier bist. Mir wird gerade erst bewusst, wie sehr ich dich vermisst habe, Trish. Wie sehr ich euch alle vermisst habe«, gab ich leise zu. Denn war das Redstone College inzwischen nicht mein Zuhause? Waren die Menschen, die ich dort in mein Herz gelassen hatte, nicht eine zweite Familie für mich geworden?

  Erleichtert lächelte Trish mich an. »Ich würde dir am liebsten die Fab Five schicken.«

  »Weil ich einen neuen Haarschnitt und coolere Klamotten brauche?«

  Trish rollte mit den Augen. »Nein. Weil die Fünf so viel Liebe und Ordnung in ein Leben bringen und einem zeigen, wie wunderbar man selbst ist. Und jeder von uns braucht ab und zu einen Jonathan van Ness, Süße! «

  Ich schmunzelte. Trish und ich waren uns spätestens seit der zweiten Folge Queer Eye einig, dass Jonathan unser Lieblingsmitglied der Fab Five war.

  »Du bist süß«, sagte ich und ich spürte das erste, echte Lächeln seit Tagen auf meinen Lippen.

  »Aber«, meinte Trish und ließ ihren Blick über meine löchrige Leggins mit den aufgedruckten Pizzastücken, die Mel mir vor einer Ewigkeit geschenkt hatte, und den viel zu großen, aber flauschigen Pulli gleiten. »Wenn ich so darüber nachdenke: Vielleicht wären trendigere Klamotten auch nicht so verkehrt.«

  Ich schnaubte, griff nach dem Kissen neben mir und schmiss es auf Trish, die mir kichernd auswich und mich anschließend in ihre Arme zog. »Ich habe dich wirklich ganz schrecklich vermisst. Das war zwar nur eine Woche, aber so ganz ohne Kontakt … Mach das nie, nie, nie wieder!«, murmelte sie irgendwo in meine Locken hinein. Und ich erwiderte ihre Umarmung.

  »Und bitte denk darüber nach, ob du nicht wieder zurückkommst. Du kannst mich doch nicht mit diesen verrückten Menschen allein lassen.«

  Dann hob ich die Decke an, damit Trish sich zu mir kuscheln konnte. Wir sahen uns das Serienfinale von Gilmore Girls an und für diesen Moment war alles ein bisschen besser.

  Flammenmeer

  13. KAPITE L

  Louisa

  Als die Tür aufgerissen wurde und Mel ohne Ankündigung hereinwehte, zuckte ich erschrocken zusammen. Die Woche nach Trishs Besuch war in einem Wirbel aus Netflix-Serien und traurig schönen Büchern, die es trotz meines eigenen Schmerzes schafften, mich tief zu berühren, an mir vorbeigezogen.

  Ich war wirklich froh, Trish gesehen zu haben, zu wissen, dass ich ihr wichtig war. Und tatsächlich dachte ich jeden Tag darüber nach, ob ich am nächsten zurück an den Campus gehen würde. Doch dann verschob ich die Entscheidung wieder um vierundzwanzig Stunden und verkroch mich hier mit meinen Geschichten.

  »Ich möchte allein sein«, murmelte ich.

  Mels dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. Dann schüttelte sie bestimmt den Kopf. »Oh nein, Louisa. Damit ist jetzt Schluss! ich mache das keinen einzigen Tag länger mit. Ich habe mir das jetzt mit angesehen, seit du plötzlich vor der Tür standst. Und ich habe mir wirklich Mühe gegeben, dir Zeit zu lassen. Aber es reicht jetzt wirklich.«

  Sie sagte das mit ihre Mom-Stimme, bei der klar war, dass Widerspruch sinnlos war. Und trotzdem zog ich mir die Bettdecke wieder über den Kopf. Hier war alles ein bisschen besser, in diesem warmen dunklen Kokon, der mich von der Welt abschottete. Ich wollte nicht nachdenken, weil ich Angst vor meinen eigenen Gefühlen hatte. Vor dem, was aus mir hervorbrechen würde, sollte ich sie erst einmal zulassen. Ich wollte alles nur noch eine Weile wegschieben, nur noch ein paar Tage lang. Diese Pause, bevor ich mich endgültig mit dem auseinandersetzen musste, was Paul mir auf dieser Lichtung erzählt hatte, noch ein bisschen ausdehnen. Und dem, was dieses Wissen letztendlich für mich bedeutete.

  »Sofort!«, unterbrach Mel ungeduldig meine Gedanken und zog mir zeitgleich die Decke weg. »Ich warte im Auto auf dich, weil wir beide jetzt einen Ausflug machen werden. Ich gebe dir genau zehn Minuten und keine Sekunde länger.«

  Die Sonne stand bereits tief, als wir losfuhren. Ich hatte mir die Zähne geputzt, mir kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und mir die Haare notdürftig mit den Fingern durchgekämmt. Ich versank förmlich in meinem übergroßen Redstone-College-Hoodie, dessen Kapuze ich hochgezogen hatte. Ein Kokon zum Mitnehmen. Robbie stand mit Mary im Arm in der Küche und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Wir wussten beide, dass es keinen Sinn hatte, Mel etwas auszureden, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte.

  Letztendlich hatte ich zwanzig Minuten gebraucht statt zehn. Doch Mel hatte nichts gesagt, nur eine Augenbraue in die Höhe gezogen und den Wagen erst wortlos aus der Einfahrt, dann aus Redstone hinausgelenkt. Meine Stirn lehnte an der kühlen Fensterscheibe, in der sich mein Gesicht spiegelte. Ich sah mir selbst in die Augen, sah dunkles Blau und tiefe Schatten darunter. Das Blau gehörte zu mir, die Schatten eigentlich nicht.

  Wenige Minuten später ließen wir Redstone hinter uns. Wir zwei fast allein auf dem Highway. Da waren nur die kahlen Äste, die sich dem eisig blauen Himmel entgegenstreckten, während weit dahinter die Rocky Mountains erhaben thronten – so, als wären sie immer schon da gewesen und würden es auch für den Rest der Ewigkeit bleiben. In dem orangefarbenen Schein der Sonne sah ich weit oben Schnee auf den rauen Felsen glänzen.

  »Wo fahren wir hin?«, fragte ich irgendwann. Ich hauchte gegen die Fensterscheibe und malte mit den Fingern eine Wolke auf das beschlagene Glas.

  »Siehst du dann schon«, murmelte Mel, den Blick auf die Straße gerichtet. Dann sagte keiner von uns mehr etwas. Stattdessen verband ich mein Handy mit Mels Lautsprechern. Running Up That Hill von Placebo. Ich drehte auf, machte die Musik laut, so laut. Der regelmäßige, tiefe Bass fühlte sich an, als wäre er Teil meines Herzschlags. It doesn’
t hurt me. Do you want to feel how it feels? Do you want to know that it doesn’t hurt me?

  Tatsächlich merkte ich in diesem Moment mit den näherkommenden Bergen, wie dringend ich raus gemusst hatte, nicht nur aus dem Haus, sondern vor allem aus dem Gefühl, wie erstarrt zu sein. Ich machte das Fenster auf und zog mir die Kapuze vom Kopf, genoss den kalten Wind auf meinem Gesicht und in den Haaren. Das Gefühl, lebendig zu sein. Und ich glaubte den Ansatz eines Lächelns zu sehen, als ich Mel einen kurzen Blick zuwarf.

  Be running up that road, Be running up that hill, Be running up that building.

  Mel und ich, wir sangen beide den Refrain mit, während die Welt in Form von Montanas Weiten an uns vorbeizog.

  Erst den Highway entlang, dann Abbiegen und den Weg bis an den Fuß des Berges. So nah an den zerklüfteten Felsen fühlte die Welt sich übermächtig und ich selbst unbedeutend an. Und war ich das auf das große Ganze gesehen nicht auch? Wir Menschen neigten ohnehin dazu, uns selbst viel zu wichtig zu nehmen, doch was war ein Menschenleben schon in Relation zu über vier Milliarden Jahren, in denen dieser Planet bereits existierte?

  Mel folgte der gewundenen Straße den Berg hinauf, an Bäumen, die zu blühen begannen, und vereinzelten Häusern vorbei. Erst als der Weg zu schmal für das Auto wurde, parkte sie am Rand, stieg aus und bedeutete mir, den Rest mit ihr zu laufen. Sie schnappte sich eine große Tasche aus dem Kofferraum und nahm meine Hand. Zog mich zwischen den Tannen hindurch. Ich erkannte keinen Weg, wusste nicht, was Mel ansteuerte. Währenddessen sank die Sonne tiefer und tiefer.

  Fast stolperte ich in Mel hinein, als sie abrupt vor mir stehen blieb. Tannen, die sich lichteten, und der Anblick vor uns in sanftes Licht getaucht. Wir waren nicht so weit oben, wie ich es an Thanksgiving gewesen war, und doch war der Ausblick atemberaubend. Steil fiel der Felsen vor meinen Schuhspitzen ab, gab den Blick auf Redstone frei; schmale bunte Häuser, deren Dächer in der untergehenden Sonne leuchteten. Ich sah den Lake Superior in einem warmen Licht.

  »Sobald es dunkel wird, wird es hier oben sehr schnell sehr kalt«, sagte Mel und reichte mir eine Mütze und einen Schal, die ich dankbar entgegennahm. Außerdem kramte sie aus ihrer Tasche zwei Decken. Eine breitete sie zu unseren Füßen aus und ließ sich darauf sinken, die andere legte sie sich zur Hälfte um die Schultern und bot mir an, mich zu ihr zu kuscheln. Mit angezogenen Beinen setzte ich mich neben sie auf den Boden.

  Ich seufzte. »Was mache ich hier, Mel?«

  Doch auch dieses Mal bekam ich keine Antwort. Stattdessen beugte sie sich über ihre Tasche. Einen Augenblick später hielt sie eine Thermoskanne und zwei Becher in den Händen, von dem sie mir einen reichte. Mel schenkte uns ein und als der Duft nach heißer Schokolade mir in die Nase stieg, schloss ich für einen kurzen Moment die Augen.

  »Ich hab auch an unsere Marshmallows gedacht«, grinste Mel und raschelte mit einer Packung. Die weißen für sie, die rosafarbenen für mich, so wie früher. Ich schluckte, weil die Geste mich wirklich berührte. Egal, wieso ich auch hier sein mochte … Mel hatte sich Mühe gegeben. Und während wir an den heißen Bechern in unseren Händen nippten, sahen wir der Weite unter uns zu. Und ich wartete. Wartete darauf, dass Mel mir sagte, wieso sie mich hierher gebracht hatte. Wieso wir auf diesem Felsvorsprung saßen und auf Redstone hinabblickten .

  »Ich mache mir Sorgen, weil du nie die Gelegenheit hattest, um Dad zu trauern, Lou. Und das ist etwas, das du unbedingt nachholen musst«, begann Mel, zu sprechen, kurz bevor die Sonne hinter den Bergen verschwand. »Weißt du, das habe ich nicht einmal vor Robbie so deutlich ausgesprochen, aber ich gebe zum Teil auch mir selbst die Schuld daran, dass du das nie richtig tun konntest. Ich bin zwar sofort mit dem nächsten Flieger nach Hause gekommen und habe Mom mit der Beerdigung geholfen und bin auch danach noch zwei Wochen geblieben. Aber ich hätte mehr tun können. Ich meine, du warst erst vierzehn Jahre alt! Hätte ich gewusst, wie schlimm es wirklich um Mom steht, dann hätte ich wenigstens versucht, dich zu mir zu holen. Vielleicht hat sie es zu gut vor mir versteckt oder ich wollte es womöglich nicht sehen.« Für einen kurzen Moment stockte Mels Stimme. »Oder aber es ist eine Mischung aus beidem«, gestand sie sich und mir leise ein.

  »Ach, Mel.« Vorsichtig legte ich eine Hand auf ihren Unterarm, lehnte mich gegen sie. »Es gab wirklich eine Zeit, da habe ich mich allein gelassen gefühlt, das will ich auch gar nicht leugnen, aber inzwischen ist mir klar, dass du alles getan hast, was du konntest. Du warst und bist die beste Schwester, die ich mir hätte wünschen können, und ich bin so froh, dich in meinem Leben zu haben. Niemand konnte erwarten, dass du plötzlich auch noch die Rolle einer Mutter übernimmst. Du hast dich mehr um mich gekümmert als sonst jemand. Aber als ich nach dem Unfall von Tag zu Tag mehr begriffen habe, was es bedeutet, dass Dad nicht mehr da ist, hatte ich so furchtbare Panik, dass ich nach ihm auch noch Mom verlieren könnte. Dich hatte ich nicht verloren, du bist ja schon zum Studieren weggezogen, da war ich neun. Ich wusste also, wie es ohne dich ist. Aber mit Mom allein war das Haus plötzlich so leer und still. Und die Abwesenheit von Dad hat sich so viel lauter angehört als seine schweren Schritte auf der Treppe, die Spiele der Lakers im Fernsehen oder sein Lachen«, erzählte ich und warf Mel einen kurzen Seitenblick zu. Wunderte sie sich auch darüber, dass ich mit einem Mal nicht mehr aufhören konnte, von den letzten fünf Jahren zu erzählen? Doch der Bann war gebrochen. Da war all das, was viel zu lange tief und ungesagt am Grund meiner Seele gelegen hatte.

  »Mom hat ihn vermisst«, fuhr ich fort. »So sehr, dass es plötzlich keinen Raum dafür gab, dass auch ich ihn vermisste. Nach der Beerdigung hat sie angefangen, Pillen aus dem Tablettendöschen zu nehmen, das ich im Krankenhaus bekommen habe. Sie hat gesagt, sie würde es brauchen, weil sie so traurig wäre und ich das doch sicher nicht wollen würde. Und natürlich wollte ich das nicht.«

  Ich hielt inne. Für einen Moment überrollte mich die Erinnerung an die Angst und die Leere, die ich empfunden hatte, immer dann, wenn Moms Augen so glasig und ihre Worte so hart geworden waren. Wenn sie wie in Trance war und ich Hunger hatte, weil sie wieder vergessen hatte, einzukaufen. Der rötliche Abdruck ihrer Hand auf meinem Gesicht, weil sie mich für undankbar hielt.

  »Dann wurde aus dem Glas Wein am Abend erst ein Glas mehr und dann eine ganze Flasche.« Ich stockte, senkte die Stimme. »Als ich endlich gemerkt habe, dass Mom wirklich ein Problem hat, und ich mutig genug war, es dir zu erzählen, ist das mit Amber passiert. Sie war in derselben Klasse wie ich, wir waren so etwas wie Freundinnen. Sie hat bei ihrem Dad gewohnt, ihre Mom kannte sie nicht. Ambers Dad hatte aber ein Drogenproblem und hat scheinbar auch mit ihnen gedealt. Irgendwann war die Polizei bei ihnen in der Wohnung und hat Amber mitgenommen. Sie ist zu einer Pflegefamilie gekommen und war auch wirklich glücklich dort, viel glücklicher als bei ihrer richtigen, aber … ich wollte nicht weg von Mom. Dad war tot, du hast inzwischen in einem anderen Bundesstaat gewohnt und dort studiert … ich wollte Mom nicht auch noch verlieren. Es hat sich so angefühlt, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich ganz allein übrig bleiben würde. Deshalb habe ich bei unseren Telefonaten und deinen Besuchen wirklich alles getan, damit du und auch sonst niemand mitbekommt, wie viel sie wirklich getrunken hat. «

  »Scheiße, Lou«, sagte Mel belegt und schluckte. »Ich habe nicht gewusst, wie schlimm es wirklich war. Ich habe etwas geahnt, aber … Du musst dich so allein gefühlt haben …«

  Ich nickte und versuchte mich an einem Lächeln. »Aber jetzt bin ich hier und …« Ich brach ab. Der Moment auf der Lichtung kam mir in den Sinn, Pauls Worte, die sich Stück für Stück zu einer schmerzhaften Wahrheit und all den klaren und auch verschwommenen Erinnerungen geformt hatten. Fünf Jahre und über zweitausend Meilen später war ich eingeholt worden. Die Vergangenheit war offensichtlich nichts, dem man entgehen konnte, sondern etwas, dem ich mich nun endlich würde stellen müssen.

  »Du musst loslassen, Lou. Ein für alle Mal! Damit du das neue Leben, das du hier hast, auskosten kannst. Ich weiß, ein Teil von dir denkt, der Schmerz und die Trauer um Dad würden nie richtig aufhören, aber das werden sie, Lou. Du musst es nur z
ulassen. Drück diese ganzen Gefühle nicht weg, weil sie so viel größer als du sind. Lass dich fallen, als ob du ertrinkst, denn irgendwann wirst du anfangen, zu schwimmen. Dann wird jeder Atemzug, um den du kämpfst, dich stärker machen. Und ich verspreche dir: Du schaffst das. Aber dafür musst du endlich richtig Abschied nehmen!«

  Abschied nehmen. Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich das in den vergangenen fünf Jahren verpasst hatte. Zuerst waren da die Fragen gewesen, wieso ich weiterleben durfte und Dad nicht. Dann musste ich erwachsen sein, weil Mom es nicht für mich war, musste es für uns beide sein. Und plötzlich war keine Zeit mehr dafür gewesen.

  »Bist du bereit?«, fragte Mel sanft.

  Ein Schlucken. Ein Nicken.

  »Okay, also …« Mel stellte ihren Becher ab, beugte sich über ihre Tasche und begann, darin zu kramen. Es waren sechs Himmelslaternen, die sie schließlich lächelnd in die Höhe hielt. »Ich dachte, wir könnten di e Lichter nacheinander in den Himmel steigen lassen«, sagte sie und reichte mir die Hälfte. »Ein symbolischer Abschied von Dad.«

  Und das Herz begann, schneller in meiner Brust zu schlagen. Zum einen war Abschiednehmen wichtig, um loslassen zu können – das wusste ich. Doch zeitgleich fühlte es sich seltsam an, so endgültig. Vielleicht weil ein Teil von mir sich immer noch fragte, wieso ich überlebt hatte. Und ich an manchen Tagen nicht wusste, ob ich überhaupt glücklich sein durfte . Ob das letztendlich nicht Verrat an Dad wäre, wenn ich loslassen würde.

  Ich erinnerte mich an das, was Aiden einmal zu mir gesagt hatte: Dass es darum ging, das im Gedächtnis zu behalten, für das wir den Menschen, den wir verloren hatten, bewunderten. Was ihn ausgemacht hatte. All die Spuren, die diese Person in der Welt hinterlassen hatte.

  »Wir könnten uns für jedes Licht eine Lieblingserinnerung an Dad erzählen?«, schlug ich deshalb leise vor.

  »Oh ja! Das würde ihm gefallen.« Mel lächelte dieses Lächeln, das ich so sehr an ihr mochte. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Deine Liebe zu Geschichten hast du sowieso von ihm.«

 

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