Sie griff nach dem ersten Licht und zündete es an. »Ich habe es geliebt, wenn wir in die Berge gefahren sind«, sagte sie. »Am ersten Abend in der kleinen Hütte haben wir nach dem Essen immer so lange Karten gespielt, bis du meistens noch auf dem Sofa eingeschlafen bist. Du warst eigentlich immer die Erste, die schlappgemacht hat. Ich erinnere mich noch an den warmen Apfelkuchen, den Dad dort so oft für uns gemacht hat.«
Zusammen mit den letzten Worten ließ Mel das Licht in den Himmel steigen. Ein heller Punkt, der immer kleiner und kleiner wurde. Fast sah er aus wie einer der Sterne, die über den Horizont flossen. Mel und ich sahen ihm die ganze Zeit nach. Auch dann noch, als es längst schon in dem Schwarz des Firmaments verschwunden war.
Ich griff nach dem nächsten, brachte es zum Brennen und begann, zu sprechen, während ich vorsichtig losließ. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt, um auch diesem schwachen Leuchten nachzublicken. »Dad hat mit mir zusammen heimlich Dr. House angesehen, obwohl Mom dagegen war. Sie meinte, ich wäre zu jung dafür. Wir haben uns immer eine Folge angeschaut, wenn sie nicht da war, und dazu salziges Popcorn gegessen. Und Mom hat immer so getan, als würde sie uns nicht durchschauen, obwohl sie das wahrscheinlich von der ersten Sekunde an getan hat.«
Mel lachte. »Sie wusste es definitiv. Mom hat es mir erzählt, als wir mal telefoniert haben. Als ich Robbie Dad vorgestellt habe«, begann Mel mit dem nächsten Licht in den Händen zu sprechen, »hat er zu ihm gesagt, dass er ihm drohen könnte, was er tun würde, sollte er mir das Herz brechen. Aber dass das gar nicht nötig sei, weil ich das doppelt so gut hinbekommen und ihn dazu gar nicht brauchen würde. Ich werde nie vergessen, wie Robbie in diesem Moment geschaut hat. Irgendwie erleichtert und belustigt, aber auch verstört.« Mel lachte, als das letzte ihrer Worte verklungen war.
»Am Anfang der Highschool habe ich einen Jungen aus meiner Klasse im Kunstunterricht den Eimer mit der roten Farbe über den Kopf geschüttet, weil …«
»Du hast was getan?«, unterbrach Mel mich überrascht.
»Ähm … ich hab die Farbe über ihm ausgekippt, weil er schon seit Wochen ein Mädchen gemobbt hat. Und als ich sie verteidigen wollte, hat er mir auch noch richtig fiese Sachen an den Kopf geworfen. Das mit der Farbe war wirklich nicht die beste Idee, aber das Erste, was mir in dem Moment eingefallen ist. Als ich vor dem Büro des Rektors saß und auf Dad warten musste, damit er mich abholt, bin ich fast gestorben, weil ich so Angst hatte, dass er enttäuscht von mir sein würde. Du weißt doch, wie er uns immer gepredigt hat, dass man jedes Problem auch vernünftig lösen kann. Ich dachte, ich bekomme den Hausarrest meines Lebens. Aber als wir dann im Auto saßen, hat er plötzlich angefangen, laut zu lachen, und meinte, ich solle das zwar wirklich unter gar keinen Umständen wiederholen, aber er wäre sehr stolz auf seine Kleine, die offensichtlich so gut auf sich allein aufpassen konnte …« Ich stockte. »Und er meinte, er würde alles leugnen, sollte ich Mom erzählen, dass er das gesagt hat.«
Mel kicherte, als ich das Licht in den Himmel steigen ließ. »Mensch, Lou, und ich dachte, ich kenne meine Schwester. Ich habe dich immer für einen der Menschen gehalten, die so schnell nichts aus der Ruhe bringt.«
Dann griff sie nach dem nächsten Licht. »Einmal, als ich nach Hause gekommen bin, haben Mom und Dad im Wohnzimmer getanzt. Sie hatten das große Sofa an die Wand geschoben, um mehr Platz zu haben«, erzählte Mel mit einem Lächeln in der Stimme und ließ das vorletzte Licht in den Himmel steigen. »Ich habe die beiden gefragt, wieso sie tanzen würden. Ich glaube, es war ein Dienstag, auf jeden Fall mitten in der Woche. Und sie haben mich einfach angelächelt, und Dad meinte, dass er keinen Grund brauchen würde, um mit seiner Frau zu tanzen.«
Dad war Moms große Liebe gewesen, und ein Teil von mir verstand tatsächlich, wieso sie diesen Verlust nicht nur nie überwunden hatte, sondern auch Alkohol und Tabletten zu Hilfe nahm, um den Schmerz erträglicher zu machen. Und doch hatten Mel und ich auch einen geliebten Menschen verloren – unseren Dad. Das hatte Mom vor fünf Jahren vergessen.
Mit zitternden Fingern griff ich nach dem letzten Licht, zündete es an und verlor mich einen Augenblick lang in dem Anblick der kleinen Flamme, bevor ich losließ und eine letzte Erinnerung mit meiner Schwester und dem Himmel teilte.
»Das ist jetzt keine bestimmte Erinnerung, sondern eher eine allgemeine Sache«, fing ich dieses Mal an. »Ich habe Dad immer so sehr dafür geliebt, dass er so viel gelacht und in allem das Positive gesehen hat. In jeder Situation, so verfahren sie auch gewesen sein mag. Ich liebe jede einzelne Erinnerung, die zeigt, dass er einer dieser Das-Glas-ist-halb-voll- Menschen gewesen ist und ich …« Ich schluckte schwer. »Und ich wünsche mir für mein Leben, dass ich das eines Tages auch schaffen werde.«
Mel legte ihre Hand über meine, und so saßen wir da. Zwei Schwestern, aneinandergebunden durch Blut, Erinnerungen, Zuneigung und Schmerz. Wir hielten uns an den Händen und blickten über die Weite unter uns, die einzelnen Lichter, die wie Glühwürmchen in der Nacht leuchteten. Eine Unendlichkeit kleiner Lichtpunkte, die zeigten, wieviel Leben in dieser Welt steckte.
So wie Mels heiße Schokolade mich wärmte – von innen wie von außen –, so taten es auch die vergangenen zwei Stunden. Jedes Detail dieses Abends und jedes Wort, schon jetzt bewahrt in den Tiefen meines Herzens.
»Das wirst du, Lou«, sagte Mel irgendwann.
Ich lächelte sie an. »Das glaube ich auch«, erwiderte ich leise und meinte jedes Wort absolut ernst.
Sanft strich der Wind über mein Gesicht. Und ich ließ den Schmerz und die Trauer zu. Es tat unfassbar weh, aber gleichzeitig machte mein Herz einen Satz, und es war, als würde ich wieder atmen können. So sehr atmen, wie ich es seit Jahren nicht mehr hatte tun können. Die Art von Atmen, die einen nicht über leben, sondern leben lässt.
»Danke«, sagte ich zu Mel, die mit Sicherheit wusste, was ich mit diesem schlichten Wort alles zu sagen versuchte. Ich würde Dad immer vermissen, das würde ich mein Leben lang tun. Doch er hätte nicht gewollt, dass dieses Gefühl mein eigenes Glück auf jedem Schritt überlagern würde. In diesem Fall war das keine leere Floskel, sondern die Wahrheit. Wäre Dad hier gewesen, hätte er begonnen, Pläne zu schmieden, wie wir das Beste aus der Situation machen konnten.
Als am späten Abend der Abspann von Chocolat über den Fernseher im Wohnzimmer flimmerte, drehte Mel sich zu mir. Wir hatten zusammen gekocht, als wir wieder zurückgewesen waren, hatten es uns mit einer großen Kuscheldecke und den vollen Tellern auf dem Sofa gemütlich gemacht und uns seitdem nicht mehr von der Stelle bewegt. Robbie hatte Mary ins Bett gebracht und war selbst irgendwann nach oben gegangen. Mein rechter Oberschenkel berührte unter der Decke Mels. Es war warm und ich angenehm erschöpft.
»Lou? Du weißt doch, dass Paul nicht für diesen Unfall verantwortlich ist, oder?«, sagte Mel leise.
Ich schluckte und drehte mich langsam zu meiner Schwester. »Ja, das weiß ich.«
Und darum ging es in erster Linie auch gar nicht, auch wenn die Wahrheit mir in den ersten Tagen beinahe den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Für einen Moment hatte ich darunter nur die Flammen gesehen, die fünf Jahre zuvor alles niedergebrannt hatten. Doch je weiter ich in mich hineinhörte, desto bewusster wurde mir, dass ich die Ereignisse dieser Nacht anders empfand als Paul. In meiner Dimension, meiner Welt, meinem Universum war er nicht der Schuldige, war er nicht irgendeine Form von Täter. Er war nicht gefahren, und nur meinetwegen war Dad so spät noch unterwegs gewesen. Ich hatte gequengelt, hatte keine Ruhe gegeben, weil ich unbedingt zu Leah gewollt hatte. Solange bis Dad nachgegeben und versprochen hatte, mich abzuholen. War es dann nicht genauso meine Schuld, dass er so spät überhaupt auf dieser Straße gewesen war? Oder am Ende doch Heathers, weil sie am Steuer gewesen war? Oder war Dad vielleicht selbst unaufmerksam gewesen? Doch auch wenn ich Paul nicht für das, was geschehen war, verantwortlich machte, so standen diese Nacht und der Tod meines Dads dennoch zwischen uns. Es war nicht wegzudenken und während keines einzigen Atemzugs zu ignorieren.
Trotzdem fühlte ich mich in diesem Moment auf eine ungewohnte, merkwürdige Weise nicht meh
r von meiner Vergangenheit eingeholt. Heute hatte ich meinem Dad nach fünf Jahren Lebewohl gesagt, und zum ersten Mal fühlte es sich so an, als wäre meine Vergangenheit ein Teil von mir und nicht etwas, das ich hinter mir lassen musste. Es war seltsam, wie man etwas durch das Loslassen noch viel enger an das eigene Leben band, nur mit mehr Leichtigkeit.
Wir sahen uns noch einen Film an. Und es fiel bereits das erste Licht eines neuen Tages durch die zugezogenen Vorhänge, als meine Augen immer häufiger zufielen, die Müdigkeit drückender und drückender auf mir lastete und mich tiefer in das Sofa und die bunt gemusterten Kissen sinken ließ. Als läge die Erschöpfung der vergangenen Jahre auf einmal komplett auf mir. Zeitgleich fühlte ich mich erleichtert, losgelöst und schwerelos. Und in meinen Träumen sah ich einen tintenblauen Himmel voller Lichter, ein Meer aus kleinen Flammen und Wellen aus Erinnerungen. Ein schönes Wort, ein Flammenmeer .
Paul
Zwei Wochen. So lange war das Redstone Festival inzwischen her und damit die Nacht, in der ich mit Louisa geschlafen hatte. Dann der darauffolgende Tag, als ich ihr alles erzählt und ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Die Zeit verging quälend langsam, jeder Tag schien aus Sekunden zu bestehen, die sich wie Stunden anfühlten. Ich begann, für die Finals zu lernen, ging laufen, so oft es ging, traf mich mit Luke im Fitnessstudio. Ich lief mit meiner Kamera ziellos über den Campus und durch die Stadt, machte Fotos wie ein Besessener. Doch egal, was ich tat: Ich war ruhelos und getrieben. Ich wartete jeden Tag und wusste letztendlich doch nicht, worauf. Darauf, dass Louisa zurückkam? Darauf, dass ich plötzlich wusste, was ich tun sollte?
Am Dienstag traf ich mich mit meiner Mom – wieder in New Forreston, weil ich noch nicht bereit gewesen war, sie in mein Leben hier in Redstone zu lassen. Wie auch in der Woche davor gab es diese seltsamen Momente zwischen uns, diese Angespanntheit und Unsicherheiten. Aber es wurde besser. Wir redeten nicht über meinen Vater, weil es keinen Sinn hatte und sowieso nichts ändern würde. Aber wir redeten über uns, die Menschen, die wir in den letzten Jahren geworden waren. Und inzwischen glaubte ich ihr wirklich, dass ihr Interesse an mir und meinem Leben ehrlich war. Sie wollte zusammen mit Luca zum Essen ins Luigi’s kommen, weil sie diesen Teil meiner Welt sehen wollte – ein seltsamer Gedanke. Himmel, ich konnte nicht einmal sagen, ob ich die Idee besonders gut oder schlecht fand. Meine elegante Mutter in dem kleinen italienischen Bistro. Aber wir waren dabei, uns einander anzunähern und bis jetzt lief es … okay.
Ich hatte Aiden und Trish davon erzählt. Nein, ich war vielmehr gezwungen gewesen, es ihnen zu sagen. Weil die beiden mich wirklich unter keinen Umständen aus den Augen zu lassen schienen, seit Louisa mit diesem lauten Knall verschwunden war. Und es nervte mich, wie es mich gleichermaßen berührte. Wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass ich wieder anfing, zu viel zu trinken und zu viele Frauen flachzulegen. Doch inzwischen wusste ich, dass nichts davon etwas daran ändern konnte, wie es tief in mir aussah. Vielleicht konnte es mich vorübergehend betäuben, doch wenn der Schmerz dann wieder am, fühlte er sich viel schlimmer an als zuvor. Und ich dachte an sie, ich dachte an Louisa, jeden einzelnen, quälenden Tag. Alles in mir schrie danach, zu ihr zu fahren, sie in meine Arme zu nehmen und zu fragen, wie es ihr ging. Doch ich tat es nicht.
Auch heute hatte Trish mich so lange genervt, bis ich nach meiner Laufrunde zugestimmt hatte, mich nachmittags mit ihr in der Bibliothek zu treffen. An einem Samstag! Ich fing erst an, zu lernen, als Aiden nach seiner Bandprobe nachkam. Davor zeichnete ich kleine Bilder auf meine Mitschriften, schnell gezogene dunkle Linien.
Als es draußen dunkel wurde, packten wir unsere Sachen zusammen und liefen über den Campus zu mir. Trish und Aiden hatten sich mehr oder weniger selbst eingeladen, bei mir noch etwas zu essen zu machen. Wir steuerten sofort die Küche an, um uns Peanut Butter and Jelly Sandwiches zu machen – eines der Dinge, bei denen keine Gefahr bestand, dass Aiden am Ende die ganze Küche in die Luft jagen würde. Vorsichtshalber hatte Trish ihn trotzdem dazu verdonnert, sich schon einmal auf das Sofa im Wohnzimmer zu setzen und zu warten, während wir uns in der Küche um die PB&Js kümmerten. Zwei Schichten Erdnussbutter, zwei Schichten Marmelade. Jedes Mal wenn Trish dachte, dass ich nicht hinsehen würde, schmierte sie noch eine extra Schicht Erdnussbutter auf die Toastscheiben. Und ich tat wie immer so, als würde ich es nicht bemerken, weil die Sandwiches ohne Trishs typische Extraschicht für mich nicht das Gleiche waren.
Mit drei Tellern mit darauf gestapelten Sandwiches in den Händen liefen wir ins Wohnzimmer. Aiden hatte eines von Taylors Spielen gestartet und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Die Lippen hatte er zusammengekniffen, außer er stieß einen Fluch aus, weil er wieder ein Leben verloren hatte. Trish und ich ließen uns neben ihn auf das Sofa fallen und sahen ihm zu, kommentierten zusammen das Spiel, so wie früher im Haus der Summers mit dem blonden Zwerg in der Mitte.
Doch irgendwann drifteten meine Gedanken ab. Sie waren wie eine Endlosspirale, die unausweichlich zu Louisa führte. Ich dachte daran, wie ich gestern mit meiner Kamera unterwegs gewesen war. Meine Schritte hatten mich wie von selbst zu der Lichtung im Wald geführt. Ich hatte am Rand gestanden. Blinzelnd, weil die Sonne tief stand und durch das Grün der Tannen brach, mich blendete. Ich hatte Aiden die Wahrheit erzählt, ich hatte es Louisa gesagt – schlimmer konnte nichts mehr sein. Ich war es so verflucht leid, zu lügen, hatte keine Kraft mehr, all das Dunkle tief in mir zu verstecken, wo man es doch sowieso entdeckte, wenn man nur genau genug hinsah.
Ich holte tief Luft wegen der Entscheidung, die ich in dieser Sekunde getroffen hatte. In mir Worte kurz vor dem Überlaufen. Entschlossen wandte ich mich Trish zu. »Du weißt doch, dass Heather und ich diesen Autounfall hatten, als wir auf dem Rückweg von Sacramento waren …«, fing ich an und knetete meine Hände im Schoß. Plötzlich hatte ich keinen Hunger mehr, stellte den Teller mit den PB&Js vor mir auf den Tisch.
Aiden ließ erst den Controller fallen und starrte mich dann überrascht an.
Trish nickte. »Mhmm?« Dann biss sie mit geschlossenen Augen von ihrem Sandwich ab, wobei ihr ein übertriebenes Stöhnen entwich.
Aiden und ich warfen uns einen Blick zu. Seine blauen Augen sagten Bist du dir sicher , meine wahrscheinlich so etwas wie Ich hab eine scheiß Angst . Dann atmete ich tief durch und erzählte ihr die Geschichte eines siebzehnjährigen Jungen, meine Geschichte. Jedes Detail, jede Facette. Und von einem Mädchen mit Sommersprossen und Ozeanaugen.
Als das letzte Wort ausgesprochen war, betrachtete Trish mich mit schief gelegtem Kopf, die grauen Augen leicht zusammengekniffen. Sie hatte mich ausreden lassen, ab und zu genickt und an manchen Stellen kurze Fragen gestellt, dann wieder genickt. Keine einzige Wertung. Obwohl ich sie fast mein ganzes Leben lang kannte, konnte ich in diesem Moment absolut nicht sagen, was in ihr vorging. War sie schockiert? Würde sie sich von mir abwenden, jetzt, wo sie wusste, was für ein Mensch ich war? Jetzt, wo sie wusste, was ich Louisa angetan hatte – damals und heute?
Wortlose Sekunden verstrichen und plötzlich lagen Trishs zierliche Arme warm und fest um meinen Hals, ihr Gesicht auf meiner Schulter. Da waren überall wirre, blonde Haare, die mich kitzelten.
Ich hatte vermutlich mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Berührung. Trish roch nach diesem widerlichen Erdbeershampoo, das sie eigentlich schon immer benutzte. Ich war völlig überrumpelt und mein ganzer Körper angespannt – doch der Geruch war verbunden mit den schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit und mein rasendes Herz beruhigte sich langsam Schlag für Schlag .
»Ach, Paul«, murmelte der blonde Zwerg. »Wieso hast du denn nie etwas gesagt? Fünf Jahre lang all diese Gefühle und Erinnerungen mit dir herumzutragen – das wäre doch für jeden Menschen zu viel gewesen. Du hättest mit jemandem reden müssen, richtig reden, vielleicht zu einem Therapeuten gehen. Ich meine, wie soll ein siebzehnjähriger Junge so etwas auch verarbeiten? Ich …« Trish hielt inne und schien nachzudenken. »Ich wünschte einfach, ich hätte es gewusst und etwas tun können. Auch wenn ich das natürlich nicht geschafft hätte, aber … Ich bin doch deine beste Freu
ndin, Paul …«
Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich sagen sollte. Gab es überhaupt noch etwas, das ich sagen konnte? Verdammt! Ich hatte dieses wortbrabbelnde Mädchen so unfassbar gern, auch wenn ich ihr meistens sagte, wie furchtbar nervig sie war. Und weiß Gott, ich konnte mich unheimlich glücklich schätzen, diesen Scheiß nicht mehr allein durchstehen zu müssen. Louisa nach dieser regnerischen Nacht mit ihr in meinen Armen verloren zu haben, schmerzte mehr, als ich es mir hätte vorstellen können. Ich hatte gedacht, ich wüsste, wie es wäre, sie zu verlieren, doch ich hatte mich getäuscht. Ich hatte absolut keine Ahnung gehabt, wie es sich anfühlen würde. Hatte nicht geahnt, dass Leere noch leerer und Dunkelheit noch dunkler sein konnte. Und trotzdem standen diese beiden Menschen hier zu mir, Aiden und Trish – trotz der einzelnen Teile meines abgefuckten Herzens.
»Ähm, kannst du mich jetzt bitte endlich zurückumarmen? Ich fühle mich langsam ein bisschen blöd!«, murmelte Trish mit dem Gesicht immer noch an meiner Halsbeuge.
Das leise Lachen kam mir ganz selbstverständlich über die Lippen. Es klang kratzig und rau, so, als müsste ich es erst wieder lernen, weil es doch gar nicht zu dieser Situation zu passen schien. Aber das war das, was Trish eben tat: jeden Moment zu etwas Schönem zu machen. Ich drückte sie also an mich, so lang und fest, bis sie zu quietschen begann und mit ihren Händen auf meine Oberarme schlug .
»Schade, dass ihr beide auf Frauen steht. Ihr wärt echt süß zusammen.«
»Klappe, Cassel«, sagten wir gleichzeitig, und Aiden schüttelte lachend den Kopf.
»Und was ist mit Lou? Was hast du jetzt vor?«, wollte Trish wissen, als sie sich langsam wieder neben mich in die Polster sinken ließ und nach ihrem Sandwich griff.
»Was sollte ich schon vorhaben«, sagte ich verbittert und fuhr mir unruhig durch den Bart. »Louisa wird nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Nie wieder. Sie hat gesagt, dass sie das nicht kann, sie hat es kaum ertragen, mir in die Augen zu sehen. Sie …«, ich schluckte, »sie hasst mich, Summers. Und ohne mich ist sie wirklich besser dran. Das wisst ihr genauso gut wie ich.«
Wir sind der Sturm Page 22