Wir sind der Sturm

Home > Other > Wir sind der Sturm > Page 26
Wir sind der Sturm Page 26

by Bichon, Sophie


  »Ich gebe auf!«, keuchte sie, als sie von mir herunterrutschte und neben mir auf dem Rücken liegen blieb. Der Papierhut lag irgendwo in der Ecke. Trishs Haare waren zerzaust mit Farbe darin. Schwer atmend sahen wir uns um: zwei Wände, die zur Hälfte gestrichen waren. Der Rest helles Weiß übersäht von wilden Sprenkeln von Mintgrün und irgendwo dazwischen wild verteilte Abdrücke unserer Hände .

  »Also, ich finde, das kann man eigentlich so lassen!«, sagte Trish. »Hat etwas von einem abstrakten Gemälde, oder?«

  Zu Hause zog ich mir das Shirt voller Farbe eilig über den Kopf. Wenn ich mich beeilte, würde ich es noch in die Dusche schaffen, bevor ich ins Luigi’s musste. Ich wusste nicht, woran es lag, doch aus irgendeinem Grund blieb mein Blick an dem Spiegel neben dem Schrank hängen, an der Reflexion von mir. Und ich hielt in meinen Bewegungen inne, stand dort wie erstarrt. Ich sah einen Mann mit schwarzer Tinte auf seiner Haut und Träumen darunter, mit einem getriebenen Blick in den Augen und Gefühlen dahinter, mit Muskeln vom Laufen und den Tagen im Fitnessstudio und dieser länglichen Narbe an meinem linken Oberarm, die ich unter der dunklen Farbe mehr erahnte, als dass ich sie wirklich erkennen konnte. Und ich sah mich , all das, was sonst niemand zu Gesicht bekam – die unverfälschteste Version von mir, die höchstens Louisa mal gesehen hatte.

  Mein Blick fiel auf die Tätowierung direkt unter meinem linken Brustmuskel. Auf die vier übereinanderstehenden Zeilen mit einer Schrift so kraftvoll und breit wie die widerstreitende Gefühle, die in mir miteinander kämpften, intensiv waren. Neue Wege entstehen, indem wir sie gehen. Vorsichtig fuhr ich über die einzelnen Buchstaben, die inzwischen komplett verheilt und somit ein Teil von mir waren.

  Einen Schuldigen zu suchen, bedeutet letztendlich nur, dass wir nicht akzeptieren können, dass schlimme Dinge in unserem Leben passieren, die sich völlig unserer Kontrolle entziehen.

  Wenn wir jemandem die Schuld geben können, und sei es uns selbst, dann gibt uns das das Gefühl, das Schicksal zumindest ein bisschen in der Hand zu haben, auch wenn es am Ende nichts an den Tatsachen ändert.

  Wenn du nicht bald anfängst nach vorn zu schauen, dann wirst du es in deinem Leben verpassen, wirklich glücklich zu sein !

  Fünf Jahre lang all diese Gefühle und Erinnerungen mit dir herumzutragen – das wäre doch für jeden Menschen zu viel gewesen.

  Mel. Aiden. Trish. Die Sätze dieser Menschen, die genauso wie auch all meine Tätowierungen Teil meiner verdammten Geschichte waren, wirbelten unaufhörlich durch meine Gedanken, während ich diesen Kerl anstarrte, der mir so vertraut und gleichzeitig so fremd erschien – als wüsste ich nicht, wer ich ohne meine Geheimnisse war. Ohne diese Dunkelheit.

  Ich hatte mir nach Thanksgiving das Nietzsche-Zitat stechen lassen, um mich daran zu erinnern, dass ich im Leben jederzeit einen neuen Weg einschlagen konnte. Ich musste mich nur dafür entscheiden, nur den ersten Schritt gehen. Ich hatte Louisa die Wahrheit gesagt, weil mit ihr alles begonnen hatte. Meine beiden besten Freunde wussten Bescheid, kannten jedes Detail meines Lebens und hatten sich entscheiden können, wie sie damit umgehen wollten – sie hatten sich für mich entschieden. Ich hatte meiner Mom eine zweite Chance gegeben und auch mit Mel über diese Nacht gesprochen, weil ich das Gefühl gehabt hatte, es ihr schuldig zu sein, immerhin war sie ebenso die Tochter von Michael Davis wie Louisa.

  Ich sah meinem Spiegelbild fest in die Augen und gab mir selbst ein Versprechen: Ich würde mich nicht länger von den Schatten dieser Nacht und all dem Schmerz beherrschen lassen, von diesem zerfressenden Gefühl der Schuld. Es lag an mir, eine neue Richtung einzuschlagen und, Gott, ich vermisste Louisa, mein Mädchen mit dem Feuerherzen. Inzwischen war mir klar: Ich würde weder mich aufgeben noch sie.

  »Neue Wege entstehen, indem wir sie gehen«, murmelte ich, als ich mich nach dem Duschen anzog und das Tattoo wieder unter Stoff verschwand.

  Einen neuen Weg gehen. Das war genau das, was ich tun wollte.

  16. KAPITEL

  Louisa

  Mels goldene Plastikkrone funkelte im Licht, als wir alle zusammen anstießen.

  »Auf die zukünftige Mrs. Brown!«

  »Auf eine grandiose Nacht in Freiheit!«

  Becher, die enthusiastisch aneinanderprallten. Hin und her schwappende Flüssigkeit, ein Grölen und Johlen und eine über das ganze Gesicht strahlende Mel. Musik dröhnte aus den beiden Boxen, die auf der breiten Kommode im Wohnzimmer standen, und die Deko, die Trish und ich in der ganzen unteren Etage des Hauses verteilt hatten, leuchtete in allen Schattierungen von Pink, Rosa und Gold.

  Der Tisch im Wohnzimmer bog sich unter Süßigkeiten und Essen. Bowie hatte Kekse in Herzform gebacken, sie auf den Kopf gedreht und mit farbiger Glasur BHs oder Höschen daraufgemalt. Grinsend hatte sie sie mir als ihre B’n’B Plätzchen präsentiert: Boobie and Booty. Außerdem hatte sie verführerisch duftende Muffins mit einem pinken Team-Bride -Topping gemacht. Das Beste aber waren die Schokobananen, deren eindeutige Glasur mich erst recht zum Lachen brachte. Trish und ich hatten bei The Bean außerdem noch eine kleine Erdbeersahnetorte bestellt. Future Mrs. Brown stand dort über der Abbildung von Handschellen. Daneben standen bunte Shotgläser und Becher, auf denen in geschwungener Schrift Same Penis forever geschrieben stand. Dahinter die Flaschen mit dem Alkohol, durchsichtig und bernsteinfarben schimmernde Flüssigkeiten im Licht.

  Talida hatte Mel am frühen Abend abgeholt und abgelenkt und war vor ungefähr einer Stunde wieder mit ihr aufgetaucht. Nach und nach waren auch die anderen eingetrudelt. Robbie war mit seinen Jungs sogar schon gestern nach Seattle gefahren, um dort seinen Junggesellenabschied zu feiern. Seine Eltern hatten Mary abgeholt und würden die Kleine über das Wochenende bei sich behalten. Trish und ich hatten also genug Zeit gehabt, um alles vorzubereiten, mit laut aufgedrehter Musik und einem Lachanfall nach dem nächsten, als sie versucht hatte, den Penis-Luftballon aufzublasen, aber jedes Mal daran gescheitert war. Der Plan war, nach der großen Überraschung, die noch auf Mel wartete, ins Heaven weiterzuziehen. Aiden hatte dafür gesorgt, dass wir heute alle umsonst reinkommen würden: Bowie, Trish, Mel, Talida, Jasper und Lucy und ich.

  Jasper und Lucy waren neben Talida Mels engste Freunde. Jasper arbeitete an derselben Elementary School wie Mel. Er war ein paar Jahre jünger, teilte ihren Sinn für Humor und war genauso verrückt nach Game of Thrones wie ich. Sein größter Crush war aber nicht Jon Snow sondern Robb Stark. Lucy hatte Mel genau wie auch Talida am College kennengelernt.

  »Also mal ganz ehrlich. Lucy und ich hätten in unserem ersten Term wirklich niemals damit gerechnet, dass ausgerechnet Mel und sexy RobRob heiraten würden«, sagte Talida gerade und grinste bei der Erinnerung. Sie trug ihre dunklen Haare, die ihr bis zu den Hüften reichten, zu dünnen Braids geflochten. Ihre Haut schien im Licht fast im selben Ton zu schimmern. »Ich glaube, wir dachten alle, dass das höchstens auf eine mehrwöchige Sexgeschichte hinauslaufen würde.«

  »Ähm, Süße, kannst du bitte aufhören, meinen Verlobten sexy RobRob zu nennen?«, sagte Mel lachend, sodass allen klar war, dass sie das gar nicht schlimm fand.

  »Sexy RobRob?«, ich verzog ebenfalls lachend das Gesicht. »Das ist übel, Talida. Bitte sag das nie wieder!«

  »Oh Gott, es ist so süß, wie du mein Verlobter sagst, Mel«, meinte Jasper .

  »Sag es nochmal«, forderte Trish sie auf und wackelte dabei mit den Augenbrauen.

  Mel kicherte. »Mein Verlobter«, wiederholte sie die Worte.

  Wir spielten erst Kiss, Marry, Kill und dann ein Bachelorette Bingo , das Trish auf Pinterest gefunden und ausgedruckt hatte. Dazu ein Trinkspiel nach dem nächsten, bis ich den Überblick über all die verschiedenen Regeln verlor – und das, obwohl ich die einzige Nüchterne war. Als es schließlich klingelte, war die Stimmung ausgelassen, die Gesichter waren erhitzt und das Lachen laut. Auf dem Tisch stapelten sich die Shotgläser, von denen sich Bowie, Jasper und Lucy gerade jeweils eins nachfüllten und herunterkippten.

  »Machst du schnell auf?«, fragte ich Mel und tat so, als müsste ich dringend etwas aus der Küche holen und könnte deshalb nicht gehen. »Das ist bestimmt
das Essen, das wir bestellt haben.«

  Trish und ich liefen Mel hinterher, um auch ja nichts zu verpassen. So unauffällig wie möglich. Die Tür ging auf und gab den Blick frei auf einen großen, gut aussehenden Polizisten mit breiten Schultern, der draußen stand und wartete. »Melody Davis?«, fragte er.

  Verwirrt sah Mel zu ihm hoch. »Ähm … ja?!«, erwiderte sie und strich sich ihre dunklen Locken zurück.

  »Ich habe hier eine Beschwerde wegen Ruhestörung vorliegen. Dürfte ich einen Moment reinkommen?«

  Mels ließ ihren Blick über die Uniform des Mannes gleiten und ihre blaugrauen Augen wurden riesig, als sie begriff, was es mit dem Kerl auf sich hatte, der sich gerade an ihr vorbeischob und Trish ins Wohnzimmer folgte. Ich holte einen Stuhl und er bedeutete Mel, sich darauf zu setzen. Und als die ersten Takte von Pony von Ginuvine aus den Boxen dröhnten und jemand das Licht dimmte, nahm er die Mütze ab, um sie Mel aufzusetzen. Langsam begann er, sich vor ihr im Rhythmus der Musik zu bewegen. Ein gleichmäßiger Schritt nach links, einer nach rechts, hin und her, bis er fast zwischen ihren Beinen stand. Er tanzte dort, ging tiefer und richtete sich vor Mel wieder auf, sein Gesicht fast vor ihrem. Er und dieser Song schienen eins miteinander zu sein, und es wurde schlagartig wärmer im Raum.

  »Ach. Du. Scheiße«, stieß Bowie mit großen Augen hervor und blickte zwischen Trish und mir hin und her, »dagegen ist Magic Mike nichts, sag ich euch. Gar nichts!« Sie schluckte. »Wo habt ihr den bitte gefunden?«

  »Ist das Absicht, dass er wie ein Cop angezogen ist?«, kicherte Talida und spielte mit einem ihrer Braids. »Das macht es einfach noch so viel besser!«

  »Ich wette, er ist nicht mehr lange angezogen«, lachte Lucy und trank einen großen Schluck aus ihrem Becher. »Zumindest hoffe ich es.« Ich grinste, als ich in die Gesichter der anderen sah. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir alle das hofften.

  »Vielleicht ist das auch gar nichts Neues für Mel?!«, warf Jasper ein und rieb sich über seine Bartstoppeln. »Vielleicht macht Robbie das ja öfter, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt?«

  »Das bezweifle ich«, warf Trish grinsend ein. »Wäre Mel gerade sonst so krass am Sabbern?«

  »Oh Gott«, ich zog eine Grimasse, »nicht schon wieder. Ich will mir das einfach nicht vorstellen. Nicht wenn es um Robbie geht.«

  »Du weißt aber schon, wie das mit Mary passiert ist, oder?«, meinte Bowie und wackelte mit den Augenbrauen, bis sie fast unter den Fransen ihres Ponys verschwanden.

  »Das heißt aber nicht, dass ich mir die Details vorstellen möchte.«

  Mel kicherte erst, schluckte dann aber, als der Mann vor ihr sich in einer schnellen Bewegungen die Jacke von der Brust riss und sich nur noch schmale schwarze Hosenträger über seinen muskulösen Oberkörper spannten. Er warf die Jacke zur Seite, und Bowie fing sie johlend auf, während der Kerl vorn nach Mels Händen griff und sie sich an seine Brust legte .

  »Oh Gott, er ist auch noch tätowiert«, seufzte Lucy mit geröteten Wangen, als der Cop sich an der Stuhllehne in Mels Rücken festhielt und sein Becken in geschmeidigen Bewegungen vor und zurück bewegte.

  Als der Song vorbei war, lehnte ich mich zu Bowie: »Du hast recht. Dagegen ist Magic Mike nichts!«

  Mel legte den Kopf in den Nacken, trank den Shot, den Talida ihr in die Hand drückte, und fiel Trish und mir dann kichernd um den Hals. Dann verkündete sie, dass unser Magic Mike offensichtlich noch eine halbe Stunde gebucht war und sie ihn gern mit uns teilen würde. Ihre Worte gingen im Kreischen der anderen und noch mehr Shots unter.

  »Lou, du bist die Erste«, meinte Trish und zwinkerte mir zu.

  »Oh Gott, nein …« Ich schüttelte den Kopf. Doch schon wurde die Musik wieder lauter gedreht und ich auf den Stuhl gezogen, auf dem wenige Momente zuvor noch Mel gesessen hatte.

  Vibrierende Beats und das Johlen und Lachen der anderen. Und der Kerl war mir so nah, war überall. Er hatte schöne Augen, eine durchdringende Mischung aus Blau und Grün mit einem Funkeln darin, als er sich näher zu mir beugte und mir lange in die Augen sah. Er schaffte es, nur mit diesem Blick mit mir zu flirten und Bilder in mir aufsteigen zu lassen. Kopfkino , eins der Wörter, die ich von Paul kannte. Ich schluckte. Natürlich war er gut darin, es war sein Job: mich mit seinen Blicken, seinem Körper und schönem Gesicht für einen kurzen Moment Fantasien leben zu lassen, dafür zu sorgen, dass ich mich begehrt fühlte. Und er wusste ganz genau, was er tat, wusste nur zu gut um seine Wirkung, als er mich angrinste, nach meinen Händen griff und sie auf seinen Oberkörper legte. Meine Finger unter seinen, er steuerte meine Berührung, fuhr mit meinen Händen unter seinen über seine muskulöse Brust, den harten Bauch, bis hinunter an den Saum seiner Hose.

  Er ließ meine Hände unvermittelt los und sah mich auffordernd an. Ich glitt über seinen Körper, während er sich weiterhin im Takt der Musik bewegte. Unter meinen Fingern spürte ich glatte, warme Haut, feste, harte Muskeln. Kurz dachte ich an Paul, doch in der nächsten Sekunde schob ich den Gedanken zu Seite – das war Mels Junggesellinnenabschied und dieser Kerl gefiel mir. Ich sollte das genießen und Spaß haben. Schwarze Tinte unter meinen Fingern, ein großflächiges Tattoo, welches sich von seinem rechten Oberarm über seine Brust erstreckte, sich schließlich auf der rechten Seite seines Oberkörpers ausbreitete und kurz unter seinem Bauchnabel endete. Linien unter meinen Händen. Doch sie waren mir nicht vertraut. Es fühlte sich nicht richtig an. Und unwillkürlich fragte ich mich, ob die Tinte auf seiner Haut wohl etwas über sein Leben erzählte – so wie es der Phönix an meinem Handgelenk tat, so wie es all die dunklen Bilder bei Paul taten.

  Mit einem Mal war der Gedanke an Paul so groß und übermächtig, dass es mir für einen kurzen Moment beinahe die Luft abzuschnüren drohte. In dieser Situation, mit diesem fast schon absurd heißen Stripper vor mir, mit Bowie, Trish, Mel und ihren Freunden, die johlten, während mit einem Mal alles wie unter Wasser zu sein schien.

  Ich vermisste Paul, ich vermisste ihn auf alle Arten, auf die ich es konnte. Und in diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als dass ich die Wahrheit niemals erfahren hätte. Ich sehnte mich nach der Zeit, als wir einfach nur Louisa und Paul gewesen waren, als allein unsere Angst vor Nähe und Gefühlen zwischen uns gestanden hatte. Ich vermisste Pauls Lachen, ich vermisste die Art und Weise, wie er es jedes Mal schaffte, mich zum Lächeln zu bringen. Ich vermisste die Gespräche, wie er mir aus Die unendliche Geschichte vorlas, mir seine deutschen Lieblingswörter ins Ohr flüsterte, ich vermisste den Mann, in den ich mich verliebt hatte, und das Mädchen, das ich in seiner Gegenwart gewesen war.

  In diesem Augenblick machten mir die Erinnerungen schmerzhaft klar, wie sehr ich mich nach ihm sehnte. Und wie viel er mir trotz all der Wahrheiten und Erinnerungen bedeutete. Meine Gefühle für ihn waren zu keinem Zeitpunkt weg gewesen, brannten unaufhörlich in mir – ich hatte nur versucht, sie zu verdrängen und beiseitezuschieben, hatte sie mir selbst verboten, weil ein Teil von mir dachte, dass das nicht sein durfte, jetzt wo ich wusste, dass es dieselbe Nacht war, die uns beide so umtrieb. Und dass Liebe eben nicht immer für ein Happy End ausreichte, nicht, wenn so viel geschehen war.

  Gegen den Kühlschrank gelehnt stand ich eine Viertelstunde später in der Küche und konzentrierte mich auf das Gefühl der kühlen Oberfläche unter meinen Händen. Nur ein kurzer Moment zum Luftholen, bevor ich zurück zu den anderen musste, ein Augenblick, um die Gedanken zu vertreiben, die so unaufhaltsam durch mich hindurchwirbelten. Um damit klarzukommen, dass die Sehnsucht nach diesem einen Mann mich gerade in unaufhaltsamen, heftigen Wellen überrollte.

  »Du vermisst ihn«, sagte Trish. Mit einem von Bowies Muffins in der Hand kam sie in die Küche herein und sah mich an. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Aus dem Wohnzimmer drang Musik zu uns. Das Gelächter der anderen, wild durcheinandergerufene Sätze und dazwischen immer wieder Mels Kichern.

  Ich überlegte, es zu leugnen. Durfte ich Paul überhaupt vermissen? Konnte ich mir das leisten? Doch dann nickte ich, weil es sinnlos war, Trish zu belügen. Sie wusste es. Sie wusste es mit absoluter Sicherheit.

  »Ja, ich vermisse
ihn. Eindeutig mehr, als gut für mich ist«, gab ich schließlich leise zu.

  Trish nickte langsam, schwieg einige Sekunden, ehe sie weitersprach. Ganz so, als wartete sie, dass ich dem noch etwas hinzufügen würde.

  »Aber du gibst ihm nicht die Schuld an dem, was passiert ist?«

  Ich schüttelte den Kopf.

  »Was ist es dann?«

  Ich nahm mir einen Moment Zeit, meine Gedanken zu sortieren, all die an die Oberfläche drängenden Emotionen. Ich spielte mit einer Locke, zwirbelte sie um meinen Zeigefinger.

  »Er …«, begann ich schließlich, »er hat mir so unfassbar wehgetan, Trish. Und … irgendwo tief in mir drin tut es immer noch verdammt weh. Aber ich verstehe es auch, weißt du? Ich kann nachvollziehen, wieso er so gehandelt hat. Wieso er mir nicht früher die Wahrheit gesagt hat. Ich kann auch verstehen, wieso er mit diesen ganzen Frauen geschlafen hat, und ein Teil von mir versteht sogar, wieso er mich absichtlich verletzt hat. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich verstehe es wirklich. Ich weiß nicht, wie ich an seiner Stelle gehandelt hätte …«

  Trish kam zu mir und ließ sich mir gegenüber auf die in einem Schachbrettmuster angeordneten Fliesen sinken. Ich zögerte einen Moment, dann tat ich es ihr gleich. Wir beide hockten im Schneidersitz auf dem Küchenboden, und unsere Knie berührten sich. Sie auf einer weißen Fliese, ich auf einer schwarzen. Schachmatt.

  »Das klingt so, als würde darauf noch ein Aber folgen.« Trish musterte mich nachdenklich, während sie mit dem goldenen Ring in ihrer Nase spielte.

  »Stimmt«, sagte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Aber . Ein kleines Wort, doch seine Schwere und Intensität wirkte endlos.

  »Ich frage mich, ob ich Paul wieder vertrauen kann. Nicht weil ich denke, dass er diesen Unfall verschuldet hat. Es geht darum, dass er so lange damit gewartet hat, mir die Wahrheit zu sagen und es mir zu einem Zeitpunkt erzählt hat, an dem es eigentlich schon zu spät gewesen ist. Dass er den Weg gewählt hat, mir das Herz zu brechen und mir wehzutun, anstatt mit mir zu sprechen. Bevor wir zusammen gewesen sind, hat er mich mehrmals stehen lassen, hat den leichteren Weg genommen, statt sich seinen Gefühlen zu stellen. Und weil er die Wahrheit für sich behalten hat, fühle ich mich schon wieder stehen gelassen. Selbst wenn er es mir versprechen würde … Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das dann glauben kann. Und …« Ich schluckte und dachte an unsere Be gegnung im Firefly vor fast zwei Wochen. Das war das letzte Mal gewesen, dass wir für einen kurzen Moment allein gewesen waren. »Ich weiß nicht einmal, ob das alles noch eine Rolle spielt, und ich habe keine Ahnung, wie Paul darüber denkt. Und dazu kommt«, sagte ich ehrlich, »dass ich mich frage, ob dieser Unfall nicht so oder so alles andere überschatten wird.«

 

‹ Prev