Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 3

by Peter Singewald


  Sie waren es, die letztendlich den Krieg mit den Drachen begannen, den sie nicht gewinnen konnten. Die Menschen wandelten damals erst seit 1000 Jahren über das Antlitz dieser Welt, und noch kürzer war die Zeit, die sie keine Untersklaven mehr waren. Sie hatten schon viel gelernt, aber ihre Magie war damals noch nicht entwickelt. Die Priester, die immer noch die Herzen und Gedanken der Menschen beherrschten, sahen in allem magischen eine Ausgeburt des Bösen. Denn obwohl der große Krieg nur noch eine schwache Erinnerung war, blickten die Menschen immer noch voller Furcht auf die Schrecken, die die Magie der Ra-ula verursacht hatte. Deshalb waren die menschlichen Krieger dem Feuerodem ihrer Feinde hilflos ausgeliefert. Der erste Krieg zwischen Menschen und Drachen war kurz und blutig. Die Drachen zerstörten innerhalb weniger Tage alle Städte ihrer Widersacher und schwangen sich zu ihren Königen auf.

  Damals wurde die Gier der Drachen geweckt. Deshalb unterwarfen sie auch die Feenvölker, die sie finden konnten. Nur das Einschreiten der Feen selbst beendete den Eroberungskrieg.

  Doch auch mit der Herrschaft der Drachen kehrte kein Frieden ein. Denn solange sich die Völker untereinander bekämpften, blieb die Herrschaft der großen Echsen unangefochten. Nur die Feen hätten ihnen erneut Einhalt gebieten können. Doch wie schon all die Jahrtausende zuvor blieben sie lethargisch, gingen nur ihren eigenen Interessen nach. Und wenn sie sich zu einer Tat aufrafften, dann halfen sie nur für einen kurzen Augenblick ihren Kindern, den Feenvölker, um das schlimmste zu verhindern.

  Nur ein Feen störte immer wieder die Pläne der Drachen. Denn er hoffte auf eine Zeit, in der vor allem die Aleneshi wieder ohne die Angst vor den mächtigen Herrschern der Lüfte leben konnten.

  Aber er konnte nicht überall sein, um zu verhindern, dass die Feenvölker sich gegenseitig bekriegten

  Von den Schlachtfeldern

  A-urh spürte, wie sein Speer mit einem Ruck durch die Haut des Karakas drang und ins Fleisch fuhr. Blut spritzte ihm aus der Wunde entgegen. Der junge Chuor konnte die Verwunderung in den Augen des Löwenfeens sehen. Der Speer steckte fest im Bauch. Dicht unter dem Brustkorb war das spitze Holz eingedrungen. Der Karaka brüllte und versuchte mit seinem gewaltigen Gebiss ein letztes Mal nach A-urh zu schnappen. Er ließ seine Waffe, den geschärften Kieferknochen eines Drelgos, fallen und fasste den Schafft des Speers. A-urh wurde die Waffe aus den Händen gerissen, als sich der Karaka von ihm wegdrehte. Verzweifelt zog der Löwenfeen an dem Speer, um ihn aus seinem Leib zu entfernen. Der junge Wolfsfeen nahm noch einmal seinen Mut zusammen und sprang. Der eine Sprung genügte, um den Feind zu Boden werfen. Beide versuchten sich abzurollen, der Karaka stieß dabei jedoch gegen den Speer, der unter seinem Gewicht zerbrach. A-urh stand auf und blickte auf den Löwenfeen hinab, der sich immer noch vor Schmerzen wand. Er blickte kurz zu der Waffe seines Feindes hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie außerhalb der Reichweite des Löwenfeen lag. Kurz flammte in ihm der Gedanke auf, sein Messer zu ziehen, um dem Sterbenden die Kehle durchzuschneiden. Es wäre gnädiger gewesen, dem Leiden ein Ende zu machen, denn Sterben musste der Karaka gleichwie. Er hielt sich jedoch zurück, denn es gab kaum etwas unehrenhafteres, als einen gefallenen Gegner anzugreifen. Er konnte jetzt nur warten, dass der Karaka starb, oder sich, nur mit einem Messer bewaffnet, wieder in das Kampfgeschehen zu stürzen. Zwischen den Charhas, den Höhlen der Chuor, wurde immer noch gekämpft und einige Karakas versuchten inzwischen in Höhleneingänge hineinzukriechen. Er brauchte nicht zu überlegen, was er zu tun hatte. Sein Blick fiel erneut auf die Waffe seines Feindes. Er hatte noch nie mit einer Hiebwaffe gekämpft, schon gar nicht mit einer Zweihändigen. Aber es konnte ja nicht so schwer sein, schließlich hatte dieser faule Karaka auch damit gekämpft. Trotzdem zögerte er noch einen Moment, bevor er den Kieferknochen aufnahm. Die Waffe gehörte ihm nicht. Er hatte sie weder geerbt noch selber gefertigt. Niemand hatte sie ihm geschenkt. Selbst als Kriegsbeute konnte er sie nicht wirklich betrachten, denn zur Beute konnte nur Essen und Trinken gehören. Waffen konnte man einfach nicht erbeuten. Genauso wenig wie man ein Lebewesen erbeuten konnte, ausser als Nahrung. Versuchte er jetzt jedoch mit seinem Messer die Feinde anzugreifen, war dies sein sicherer Tod. Dann nützte sein Heldenmut niemandem etwas. Er war zu jung und unerfahren im Messerkampf

  Er stürmte los. Im Laufen griff er zu Boden und nahm sich mit einer Hand den Kieferknochen. Er war schwerer, als A-urh gedacht hatte. Dennoch verlangsamte sich sein Lauf nur wenig.

  Der erste Karaka, dem er begegnete, traf der Knochen in den Rücken. A-urh hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Feind von hinten getötet hatte, aber er war kein großer Krieger und im fairen Kampf war es sicher, dass er seinem Gegner unterlag. Noch einmal so viel Glück wie im letzten Zweikampf würde er nicht haben. Der Sieg über seinen ersten Karaka war eher Zufall gewesen.

  Wären die Jäger in der Siedlung gewesen, er hätte überhaupt nicht zu Kämpfen brauchen. Aber die Jagd, zu der auch der Krieg gegen die Karaka gehörte, hatte die Jäger fortgeführt und die Charhas waren fast Schutzlos zurückgeblieben. Mit dieser Gruppe abtrünniger Löwenfeen hatte niemand gerechnet, denn selbst die Chuor mussten zugeben, dass ihre Feinde wehrlose Dörfer nicht überfielen. Das taten nur verzweifelte, hungrige und vor allem gewissenlose Geächtete.

  Deswegen kämpften jetzt die jungen und alten an der Seite der Pflegeeltern, die eigentlich die Welpen betreuen mussten. Es war kein aussichtsloser Kampf, aber er war hart und niemand hätte sagen können, wie er ausgehen würde.

  Der Einsatz des jungen Chuor, der verzweifelt jeden Vorteil ausnutzte, den er finden konnte, entschied am Ende die Schlacht. Die letzten drei Karakas flohen aus dem Wald in die Steppe. Es war aber kein wahrer Sieg, denn das Rudel hatte zehn Wölfe verloren, von den Angreifern waren jedoch nur sieben gefallen, drei durch die Hände A-urhs.

  Aber keiner dankte ihm seine Taten. Er hätte es auch nicht erwartete. Er hatte seine Pflicht gegenüber seinem Rudel erfüllt. Dabei hatte er jedoch Schuld auf sich geladen. Er hatte gegen die Ehre der Krieger verstoßen, ohne selbst ein Krieger zu sein. Von nun an würden ihn alle meiden. Selbst während die Toten aus dem Lager getragen wurden, sah ihn niemand an oder arbeitete mit ihm zusammen. So weit ging die Ächtung, dass A-urh nicht einmal wagte, das Blut, das sich auf seinem braunen Pelz angesammelt hatte, im nahegelegenen Fluss abzuwaschen, weil sich dort bereits andere wuschen. Erst als einer der getöteten Karakas gehäutet und zerlegt wurde, kam einer der älteren zu ihm herüber und bot ihm seinen Anteil des Fleisches an. Es gab keinen Grund, nur weil jemand sich unlauter und gegen die Ehre der Chuor verhalten hatte, sich ihm gegenüber ebenfalls unehrenhaft zu verhalten. A-urh hatte getötet, also stand ihm ein Anteil am Fleisch zu.

  Nach dem Essen ließ man ihn jedoch wieder alleine. Erst wenn die Krieger zurückkamen würde wieder jemand ein Wort an ihn richten. Dann würden sie ihm den Namen nehmen, denn ohne Ehre konnte er keinen Namen haben. Danach würden sie ihm die Haare zwischen den Ohren ausreißen und die Stelle mit Feuer ausbrenne, so dass dort nie wieder etwas wachsen konnte. Sie würden ihn nicht aus dem Rudel ausstoßen, denn er hatte keinen Chuor getötet oder verraten. aber solange er beim Rudel blieb war er für seine Eltern eine Erinnerung an die Schande die sie in die Welt gesetzt hatten.

  Er würde in Zukunft allein Jagen.

  Alle 174 Jahre waren Feen zeugungsfähig. Menschen schien es immer so, als wenn eine Rasse, die sich so langsam fortpflanzte, vom Aussterben bedroht sein musste. Die Feen jedoch lebten bis zu 10.000 Jahre. Und seit dem Verschwinden der Ra-ula gab es niemanden mehr auf Sgayefarsh, der einem Feen hätte gefährlich werden können. Es ist also vielmehr so, dass die Feen bald die ganze Welt bevölkert hätten, wenn sie sich schneller vermehrt hätten. Aber auch dieser Zyklus, der für die Feen oft sehr schmerzhaft war und in seltenen Fällen sogar tödlich enden konnte, genügte der Natur nicht, um die Überbevölkerung zu verhindern. Oder vielmehr schienen die Feen selbst dafür sorgen zu wollen, dass sie sich nicht allzu schnell vermehrten. Denn seit Feengedenken setzten junge Eltern ihre Kinder aus. Immer wenn ein Kind innerhalb eines Tages noch nicht geschrien, oder nicht ein einzig
es Mal beide Augenpaare gleichzeitig geöffnet hatte, dann war es krank, nicht wert, ein Feen zu sein. Die Feen trauerten um ihre Kinder, genauso wie die Eltern anderer Rassen. Doch ihr Erinnerungsvermögen ließ sie nicht lange trauern, denn die Trauer war kein Gefühl, das für das Leben der Feen notwendig war. Feen vergaßen sehr schnell.

  Vor langer Zeit spottete Shaljel über diese Praxis. Er war immer der unfeeischste der Feen gewesen. Seinem eigenen Volk war er deshalb immer fremder geworden. Ein anderer Feen, den kurz vor seinem Lebensende seine Erinnerungen überwältigten, bis er von ihnen wahnsinnig wurde, meinte sogar einmal zu Shaljel, dass er eher ein Ra-ula denn ein Feen gewesen sei. Damals war dem unfeeischen Feen klar geworden, dass nicht alle kranken Kinder der Feen ausgesetzt wurden. Denn nach den Maßstäben der Feen war er selbst krank im Geist.

  Die ausgesetzten Säuglinge starben jedoch meist nicht. Denn die Feen waren eine zähe Rasse. Bereits ihre Kinder beherrschten die einfachen Zauber und waren so schnell und stark, dass sie Antilopen fangen konnten. Die Säuglinge waren zwar noch unbeholfen, aber sie besaßen einen anderen Schutzmechanismus. Aus irgendeinem Grund, den niemand mehr verstand, nahmen sie Eigenschaften von Tieren an, die ihnen nahe kamen, um anschließend von ihnen aufgezogen zu werden. So entstanden die Chuor, die Karakas und auch viele andere Rassen. Einige dieser veränderten Feen blieben alleine und ihre Rasse starb mit ihnen aus, andere pflanzten sich mit den Tieren fort oder sorgten dafür, dass sie die ausgesetzten Feensäuglinge fanden.

  Bei einigen Menschen, deren unüberwindlicher Glaube sie manchmal zu den seltsamsten Annahmen führte, war eine Legende entstanden. Es hieß, dass die Waldgeister, die der Göttin Maigeitho dienten, Kinder aus dem Schoß der Göttin nähmen, um sie im Wald auszusetzen. Die Legende berichtete weiter, dass diese Kinder von Menschenfrauen gefunden werden könnten, denen aus irgendeinem Grund der Kindersegen verwehrt worden war. Diese Kinder wuchsen immer zu wunderschönen, klugen und vor allem langlebigen Menschen heran und es hieß, sie würden das Glück ihrer Eltern sein. Fand jedoch eine Mutter ein solches Kind im Wald, so war das Unglück nicht fern, denn das wunderschöne Kind brachte Zwietracht und Unheil in die Familie.

  Aus den Wäldern

  „Jagd sie aus dem Dorf!”

  Der erste Stein traf Hylei nicht. Sie war geschmeidig und sehr flink. Sie war schneller als jeder andere im Dorf. Mit einem Satz war sie über den ersten Zaun. Sie blickte sich um. Ihre Nachbarn, allen voran Esla, den sie liebte, verfolgten sie. Ihre Blicke durchforsteten die Menge. Sie suchte ihren Vater.

  Der nächste Stein flog. Jetzt warfen mehrere ihrer Nachbarn und Freunde nach ihr. Sie duckte sich und blickte mit ihren dunkel braunen Augen für einen kurzen Moment unter einem Brett des Zauns hindurch. Ihren Vater konnte sie jedoch noch immer nicht sehen. Er hätte ihr doch helfen müssen. So wie er es bisher immer getan hatten, wenn sich die Nachbarn über einen ihrer Streiche aufgeregt hatten oder die anderen Frauen wieder gekränkt waren, weil Hylei besser aussah als sie alle zusammen.

  Sie wusste, dass sie all die Jahre hätte bescheidener sein sollen. Aber alles, was den anderen so schwer fiel, lernte sie schnell. Dazu ihre Schönheit, ihr seidiges, rotes Haar, das nie hässlich an ihrem Kopf klebte, und ihre schöne Stimme. Und all die Jahre war sie kaum gealtert. Ihr war es nie aufgefallen, bis vor kurzem ihre Mutter an ihrem hohen Alter gestorben war.

  Als ein Stein das Holz des Zauns traf, unter dem sie gerade hervorschaute, sprang sie wieder auf und rannte weiter. Warum war ihr nie aufgefallen, dass die anderen sie hassten. Alle waren immer so freundlich gewesen.

  Ein Stein traf sie an der Schulter und sie strauchelte. Sie fing ihren Sturz auf einem Arm und den Knien ab. Ihre Schulter begann heftig zu pochen. Der Schmerz drang langsam in ihr Bewusstsein und wollte ihre Sinne unterdrücken. Aber die Angst ließ sie hellhörig werden. Denn erst jetzt, nachdem der Schmerz da war, spürte sie tatsächlich die Angst. Nicht die Angst zu sterben. Soweit dachte sie noch nicht. Sie hatte Angst vor dem Schmerz, Angst vor dem Verlust, Angst um ihren Vater. Mit Mühe konnte sie wieder aufstehen. Neben ihr schlug erneut ein Stein auf die Erde ein. Sie begann wieder zu laufen. Weg von den anderen. Gleich wohin. Weg von der Angst. Nur weg.

  Der Wald bot ihr Schutz. Die Flucht hatte sie zwischen die Bäume geführt und immer tiefer in die Düsternis des Waldes. Sie hatte die ganze Zeit über geweint. Ihr Leben war vorbei und sie würde ihren Vater nie mehr wiedersehen. Sie hatte mit ihm alles verloren, was ihr etwas bedeutet hatte.

  Schließlich blieb sie stehen. Ihre Kraft verließ sie und sie fiel zu Boden. Das Moos fing sie auf und sie begrub ihr Gesicht im Laub.

  Sie schlief und wachte wieder auf. Sie stand auf und ging. Sie setzte sich wieder und schlief ein. Sie wachte auf. Sie ging weiter. Die Dunkelheit in ihrem Herzen nahm kein Ende, wie der Wald um sie herum. Sie legte sich nieder, sie schlief, sie wachte auf. Sie erwachte.

  Obwohl sie jeder noch für ein Mädchen von höchstens 15 Jahren hielt, hatte sie in den 50 Jahren ihres Lebens, genügend Erfahrung gesammelt, um im Wald Wurzeln und Beeren finden zu können. Aber erst nach drei Tagen, an die sie sich nur verschwommen erinnern konnte, begann sie sich ihres Hungers und ihres Durstes bewusst zu werden. Inzwischen hatte sie vollständig die Orientierung verloren. Aber das war ihr gleichgültig. Wenn die anderen sie töten wollten, dann konnte, durfte, wollte sie auch nicht mehr zurückfinden. Sie blieb vor einem Strauch stehen. Das gelb der Blüten erschien ihr die schönste Farbe der Welt zu sein. die Beeren, die sich aus den Blütenkelchen hervordrückten funkelten in einem feuchten Lila. Sie kannte diese Pflanzen. Sie wusste, warum sich fast alle Tiere davon fernhielten. In ihrem Dorf nannten sie diesen Strauch den Allesstirb. Ein Reisender hatte ihn mal als Gelben Giftstern bezeichnet. Aber gleichgültig, wie man ihn nannte. seine Beeren töteten den kräftigsten Mann innerhalb eines Tages. Es gab kein Gegengift. Aber die Blütenblätter waren essbar, selbst wenn sie furchtbar schmeckten.

  Sie zupfte an einer Blüte, bis sie ein Blatt in der Hand hielt. Sie betrachtete es sich für einen Moment. Dann steckte sie es in den Mund und schluckte es herunter. Sofort griff sie erneut nach der Blüte. Nach und nach riss sie die Blätter ab. Wenn sie die Blätter in den Mund steckte schluckte sie sofort, so dass sie sie nicht schmecken musste.

  Dann blickte sie auf die nackte Frucht. Sie füllte ihre Welt aus. Hylei sah nur noch das Lila. Langsam hob sich ihre Hand. Mit einem Finger stupste sie dagegen. Vorsichtig fasste sie die Frucht mit zwei Fingern an. Die lila Kugel drehte sich durch ihre Finger, bis sie in ihre Hand fiel. Einen Moment noch schaute sie darauf. Mit einem Lächeln hob sie die Hand zu ihrem Mund und ließ die Kugel hinter ihren Lippen verschwinden.

  Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber der süßliche Geschmack auf ihrer Zunge überraschte sie. Hylei genoss diesen letzten Geschmack in ihrem Leben. Irgendwie war sie traurig. Nicht ihrer selbst wegen, mehr wegen ihres Vaters, der jetzt ganz allein war. Nun blieb ihm wirklich nichts mehr. Wahrscheinlich hatten sich die Dorfbewohner inzwischen an ihm dafür gerächt, dass sie sie nicht bekommen konnten. Sie legte sich hin. Sie schloss die Augen. Es dauerte nicht lange und sie schlief ein.

  Dann starb sie.

  Ihre Seele verließ den Körper, so wie Hyleis Körper das Dorf verlassen hatte. Sie floh vor dem bekannten in eine Welt, die ihr Fremd war. Alles hatte neue Farben bekommen. Alles leuchtete und strahlte in einem unbekannten Glanz. Der Wald, der bisher nur von den Tiergeräuschen belebt gewesen war, vibrierte jetzt vom Leben. Jede Pflanze, jeder Strauch, jedes kleine Tier leuchtete ihr entgegen. Dann sah sie auf den Boden.

  Das, was einmal Hylei gewesen war, blickte auf ihren Körper herunter. Sie hatte immer gedacht, eines Tages an ihrem Alter oder einer Krankheit zu sterben. So wie sie da lag sah sie gar nicht tot aus. Nur als wenn sie schlafen würde. Der Geist beobachtete den Körper und bemerkte nicht, wie sich plötzlich fünf Gestalten dem Allesstirbstrauch näherten. Erst als sie neben der Leiche standen entdeckte sie sie. Sie waren groß und schlank. Ihre langen, zerzausten Haare bedeckten zum Teil ihre Gesichter. Die Bögen und Speere zeigten, dass sie Krieger oder Jäger sein musst
en. Der eine bückte sich über die Leiche. Er fühlte die Haut und hielt sein Ohr an ihre Brust. Er rief seinen Gefährten etwas zu, was der Geist in seiner Welt, die so dicht an der Welt der Männer, aber doch schon so weit entfernt war, nicht mehr hören konnte. Einer der vier stehenden Männer griff in seinen Gürtelbeutel und holte ein kleines Fläschchen heraus. Ein anderer Ging zu dem Strauch und schob die Blätter zur Seite um nach irgendetwas zu suchen. Derjenige, der sich über die Leiche gebeugt hatte, nahm seinen Trinkbeutel von der Schulter und füllte einen Schluck Wasser in einen kleinen Mörser, den er an seinem Gürtel getragen hatte. Nun kam auch der Mann zurück, der im Allesstirbstrauch gesucht hatte. Er trug in seiner Hand einen daumengroßen Käfer. Der Geist schaute interessiert auf das Insekt, denn er hatte nicht gewusst, dass irgendetwas im Allesstirb leben konnte. Der Panzer des Käfers wurde mit einem Messer aufgeschnitten und ein Teil der Innereien in das Wasser geworfen. Der Mann mit dem Fläschchen schüttete etwas von dem pulvrigen Inhalt hinterher. Der erste Fremde verrührte und zerstampfte die Mischung bis sich ein hellgelber, dickflüssiger Brei ergab. Die ganze Zeit über schaute der Geist zu. Nicht aus Neugier, sondern nur, weil er alles sah, was es in der Umgebung zu sehen gab. Er wartete. Auf ein Ereignis, das alles ändern würde. Das alles besser machen würde.

 

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