Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm
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Während Pethen zu Meister Rellen rannte und Meister Zelon noch ein paar magisch Steine einpackte, weil sie plötzlich von einer Vorahnung erfasst wurde, rannte Hylei zu ihrer Truhe, in der sie ihre Gegenstände aufbewahrte. Alle Schüler erhielten eine, aber nur neben ihrer stand ein Speer.
Ihre Waffen hatten für einen kleinen Aufruhr gesorgt, denn das Tragen von Waffen war unter den Menschen verboten, wenn sie nicht gerade Wachen oder Söldner waren. Dabei hatten sich die Schüler nicht entscheiden können, ob sie sich aufregen sollten, weil sie Waffen besaß, oder weil diese Waffen so primitiv waren. Hylei war auf das Gemurmel zuerst nicht eingegangen und hatte alles ordentlich in der Truhe verstaut, zuerst ihr Messer. Dann die Axt, das Messer und ihre drei Wurfhölzer. Ihre zwei eigenen waren unbeachtet in der Kiste verschwunden, das dritte jedoch, das Yari gehört hatte, streichelte sie einmal sanft und legte es behutsam auf die anderen. Zuletzt kam ihr wohl größter Schatz, denn sie hatte einem der toten Priester seinen Dolch abgenommen. Kostbar verziert war er, unpassend für sie, wie sie selbst fand. Sie hatte auch das kurze Schwert eines der Soldaten mitgenommen, weil sie hoffte, irgendwann einmal die Gelegenheit zu bekommen, die Klinge an ihrem Speer anbringen zu können. Sie konnte nicht mit Schwertern umgehen und sie bezweifelte, dass sie in den nächsten Jahren jemanden treffen würde, der es ihr beibringen konnte.
Als einer der jüngeren Schüler sich über ihre Schulter gebeugt hatte, war ihre Hand wie von selbst zu einem der Wurfhölzer geschnellt. Er war zurückgezuckt und die Gespräche waren verstummt. Ohne ein Wort zu sagen, war sie aus ihrer Hocke aufgestanden und hatte das Wurfholz durch die Gruppe und den Eingang in den Halter der Lampe geworfen, wo es stecken blieb. Die Gruppe war wie eine Herde Schafe vor ihr auseinandergegangen, als sie ihr Holz zurückgeholt hatte.
In ihrer Gegenwart hatte es kein Wort mehr über sie gegeben. Aber es gab einen kleinen Aufruhr, als sie jetzt in den Raum rannte, dabei einen anderen Schüler anrempelte und ihre Kiste in aller Hast aufstieß. Sie warf ihre wenigen Kleidungsstücke fort, die obenauf lagen, und griff nach ihren Waffen. Für einen kurzen Moment fühlte sich das Holz fremd an, aber sobald sie das zweite Wurfholz in ihren Gürtel gesteckt hatte, wusste sie wieder, wie es fliegen musste, um das Ziel zu treffen. Das dritte Holz lag einen Moment länger in ihrer Hand als es nötig gewesen wäre. Das Messer steckte sie sich in ihr Hemd und aus irgendeiner seltsamen Anwandlung heraus steckte sie den Dolch der Priester daneben. Als letztes nahm sie den Speer, das Schwert und die Axt ließ sie jedoch liegen.
Dann sprang sie wieder auf und lief zum Eingang. Nur knapp entging ein Schüler dem Speer während sie um die Ecke lief.
*
Der Angriff begann so plötzlich, dass die beiden Wachen im Höhleneingang nur noch nach oben sehen konnten, bevor sie von vier Armbrustbolzen getroffen wurden. Erst dann erklang ein lauter, durchdringender Ton und Owithir wusste, dass spätestens jetzt alle Teufelsanbeter auf sie vorbereitet sein würden. Die vier Söldner, die geschossen hatten, luden ihre Armbrüste neu, während die ersten Männer die Leiter hinunter kletterten, einer nach dem anderen. Er hoffte, dass sie rechtzeitig unten sein würden, um sich gegenseitig mit Armbrust und Schwert Schutz geben zu können. Er war kein Stratege, aber auch ihm war klar, dass der Angriff scheitern musste, wenn die ersten Söldner nicht weit genug vordringen konnten, ohne angegriffen zu werden.
Immer mehr Söldner verschwanden in dem Loch. Sie schwiegen und verständigten sich nur über Augenkontakt und Zeichen, dennoch meinten die Priester, die erst später hinunter gehen würden, Schreie von unten zu hören. Endlich waren die letzten Söldner verschwunden, und nur noch sechs Wächter waren zurückgeblieben.
Owithir blickte sich nach seinen Mitpriestern um. Asandarun und Jurgandiha hatten beide ihre Schwerter gezogen, die sie während der Reise im Gepäck verstaut gehalten hatten. Owithir meinte ein grimmiges Lächeln auf ihren Gesichtern sehen zu können, aber auch ihnen war die Anspannung anzumerken, und vielleicht auch ein wenig Angst vor dem, was kommen würde. Ein Blick auf Traldanka verriet ihm, dass dieser einfach nur Angst hatte. Es war sein erstes Mal, wie es ja auch Owithirs erstes Mal bei einer Reinigung war. Aber die vielen Qualen, die er bereits in den Verliesen gesehen hatte, hatten Owithir ein wenig abgehärtet.
Sie lauschten weiter auf die Ereignisse unter ihren Füßen. Langsam erstarben die Schreie, bis es für einen Moment lang vollkommen still wurde. Mit seinen gottgegebenen Sinnen spürte er, dass es nicht die Stille des Sieges war. Aber auch die anderen starrten Erwartungsvoll auf den Eingang. Die Söldner jubelten nicht und es war noch niemand zurückgekehrt, um Bericht zu erstatten. Owithir hielt den Atem an.
Ein gewaltiger Knall ertönte, begleitet von etwas, dass die Priester für ein Erdbeben halten mussten. Erst danach hörten sie wieder Schreie und Rufen. Der Kampf ging weiter und nahm dem Anscheinen nach an Heftigkeit zu. Jurgandiha sandte einen ihrer Wächter zum Eingang, damit dieser sich einen Überblick verschaffen würde. Es war dem Mann anzumerken, dass er lieber an seinem Platz geblieben wäre. Erneut waren dröhnende und knallende Geräusche zu hören, die jedoch nicht an die Lautstärke des ersten Knalls heranreichten. Einige Lichtblitze waren durch die Öffnung zu sehen.
Eine Bewegung ließ Owithir aufblicken. Es war Traldanka, der sich abwandte. Er ging verschämt weiter in den Wald hinein, außer Sichtweite der Wachen. Nur zufällig blickte Owithir auf die Stelle, wo der Akolyth gestanden hatte und entdeckte einen feuchten Fleck. Einmal mehr sah er sich um, um die Inquisitoren zu beobachten, die jedoch nur Augen für den Wachmann am Höhleneingang hatten.
Owithir ging Traldanka nach.
„Es ist keine Schande, Angst zu haben. Ich habe auch Angst.”
Traldanka blickte sich nicht um. „Das sagt ihr, aber Seine Ehren Jurgandiha wird sich über mich Lustig machen. Er wird dafür sorgen, dass es alle erfahren und dann werde ich viele weitere Jahre die niederen Dienste ausführen. Das heute war meine Gelegenheit, endlich zu zeigen, dass ich vielleicht etwas als Inquisitor taugen könnte.”
„Und wie hättest du das zeigen wollen? Indem du ein paar Teufelsanbeter folterst?” Mit einem Ruck wandte Traldanka den Kopf zu Owithir und blickte ihn entsetzt an. „Was hast du geglaubt, was mit den überlebenden Teufelsanbetern geschehen würde? Am Kampf nehmen wir sowieso nicht teil. Und glaub mir, es ist besser, nicht bei einer der Foltern dabei zu sein.”
„Ich weiß, aber was soll ich denn ...” Traldanka wurde von einem markerschütternden Schrei unterbrochen. Er war zu nah, als dass er aus den Höhlen hätte kommen können. Sie blickten sich um. Aus der Richtung, in der der Eingang lag, war der Schein eines großen Feuers zu sehen. Sie rannten los, ohne sich anzublicken oder auch nur ein weiteres Wort zu verlieren. Sie waren nicht weit in den Wald gegangen, als sie jedoch die Stelle erreichten, wo ihre Gefährten gestanden hatten, sahen sie gerade noch, wie eine menschliche Fackel zu Boden fiel und einer der Wächter gegen einen Baum geschleudert wurde, wo er zur Erde sackte und liegen blieb. Mit einem Mal wurde ihnen ihre Dummheit bewusst, ohne jegliche Vorsicht einfach zurückgelaufen zu sein. Nur ein Augenblick blieb ihnen, sich umzublicken, als Traldanka plötzlich von etwas am Hals getroffen wurde. Er röchelte noch einmal, blickte in Owithirs Augen und sackte ihm in die Arme. Das Blut floss ihm wie ein Sturzbach aus der Wunde und auf Owithirs Hände, Arme, Robe. Es durchtränkte ihn. Er drehte seinen Kopf. Es schien ihm, als wenn die Zeit sich entschieden hätte, nur noch langsam voranzugehen, damit er jeden Augenblick in seiner ganzen Furchtbarkeit auskosten konnte. Wie eine rote Hummel, sah er eine Kugel aus Feuer langsam auf sich zu fliegen. Er wusste, dass er ihr nicht entkommen konnte, es sei denn, der Gott würde ihn schützen. Er spürte, wie sich die die göttliche Kraft, die er fühlte, wenn er in den Geist der Gefangenen blickte, in ihm regte, nach außen drang, verfestigte, zu einem Schild wurde.
Plötzlich lief die Zeit wieder in ihren gewohnten Bahnen mit einem gewaltigen dröhnen schlug die Feuerkugel auf seinen Schild auf, brandete an ihm an und verpuffte. Jetzt konnte er die Teufelsanbeterin sehen, die diesen Fluch auf ihn gesprochen haben musste. Eine ältere Frau, klein aber aufrecht, in den Kl
eidern der Bauern, aber mit der Haltung einer Adligen. Er sah ihr erstaunen. Neben ihr standen zwei weitere Teufelsdiener, ein weiblicher Feenling und der junge Mann, der Owithir am Eingang angesehen hatte - der ihn überhaupt gesehen hatte.
Der Körper in seinen Armen, der einmal Traldanka gewesen war, glitt aus seinen Händen.
Zorn stieg in ihm auf. Ein Zorn, der nach außen drang, der in den göttlichen Schild floss, ihn verformte und mit Gewalt auf die Hexer zuschießen ließ. Er traf die ältere Frau mit voller Wucht, die beiden anderen, die zu ihrer Linken und Rechten standen, wurden nur zur Seite geschleudert, doch die Frau, die das infernalische Feuer hervorgebracht hatte, wurde nach hinten gedrückt und an einem Baum zerschmettert. Owithir wusste nicht, ob das knacken, dass er hörte, von einem Ast herrührte, oder von den Knochen der Frau, aber es war ihm auch gleichgültig. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jungen Mann zu. Er war dabei, sich mühsam aufzurichten, konnte ihn gerade einmal anblicken. Erneut ließ Owithir den gerechten Zorn in sich aufsteigen und von sich fort fließen. Es war befreiend, die ganze Gewalt, die sich über die Jahre in ihm angestaut hatte, einfach herauslassen zu können. Endlich hatte die göttliche Macht, die in ihm schlummerte, ein Ziel gefunden, gegen dass es sich lohnte sie einzusetzen. Erneut jagte die Macht von ihm fort, auf das Ziel zu. Owithir sah, wie der junge Mann seine Augen schloss. Er schien seinem Schicksal, der göttlichen Strafe, nicht ins Auge sehen zu wollen. Doch im letzten Moment hob er die Hand.
*
Der Geist, der Mann, der Priester, es war der Magier, den er gesehen hatte. Er hatte den Angriff des Meisters widerstanden und, so als wäre es nichts, den Meister durch die Gegend geschleudert, vielleicht sogar getötet. So wie er es damals mit Meister Enkan getan hatte. Genauso, wie er es mit Meister Enkan ...
Pethen blickte hoch. Es schmerzte in seiner Seite. So fühlte es sich also an. Kein Wunder, dass der Meister ihn nicht mochte. Der Priester wandte sich jetzt ihm zu. Seine Kraft und Energie war in diesem Augenblick sogar für Pethens geöffneten Augen zu sehen. Er bündelte sie, er ließ sie los. Pethen schloss die Augen. Er hatte sich immer mit geschlossenen Augen besser konzentrieren können. Er hob die Hand. Es war seltsam, wie schnell der Verstand manchmal arbeitete, wenn man sich bedroht fühlte. Und welche seltsamen Gedanken plötzlich auftauchten.
'Die Sonn’ bringt alles das ins Licht', und welche alten Lieder plötzlich hervorkamen,
'was in der Sünde dunkel lebt.' und dabei kämpfte er gegen einen Priester.
'Der Gläub’ge fürchtet sich nicht',
welch Ironie.
'der Götter Segen um ihn schwebt.'
Die Energie des Priesters stieß mit einem leichten Ruck gegen Pethens Hand. Mit der anderen stützte er sich langsam nach oben. Im Augenwinkel konnte er sehen, wie Hylei ebenfalls aufstand und weglief.
Miststück!
Endlich stand er, die Hand immer noch in Richtung des Priesters gestreckt. Er konnte das steigende Entsetzen im Gesicht des Mannes sehen – und in seiner ganzen Ausstrahlung. Jetzt war es an der Zeit, dass, was er durch Meister Zelon gelernt hatte, anzuwenden. Es bedurfte nur geringer Anstrengungen, die Macht des Priesters mit seinen Gedanken immer weiter von seiner Hand wegzudrücken. Schon war sie drei, vier Schritte von ihm entfernt. Pethen lächelte. Es war so leicht.
Nun begann Pethen auf den Priester zuzugehen. Damit verringerte er den Abstand zwischen dem Fremden und seinem eigenen Zauber noch schneller. Als er nur noch zehn Schritte von ihm entfernt stand, hatte der Zauber ihn erreicht. Er stemmte sich dagegen und Pethen musste denken, wie dumm er sein musste, um nicht einfach seinen Zauber aufzulösen.
Noch einmal verstärkte er seine Konzentration und gab dem Energieschild einen Stoß. Der Priester wurde nicht so weit durch die Luft geschleudert, wie Meister Zelon, nicht einmal so weit wie Meister Enkan. Aber er rollte und schleifte einige Fuß über den Boden und blieb liegen.
Pethen ging zu ihm und hockte sich neben ihn nieder. Er hatte noch nie getötet und alle Angriffe gegen andere waren bis zu diesem Tag ohne bewusste Absicht geschehen. Aber die Erinnerung an das Knacken, als Meister Zelon gegen den Baum geworfen worden war, klang zu deutlich in seinen Ohren. Sie war die einzige Person gewesen, die in all den Jahren, in denen er sein Talent besaß, freundlich zu ihm gewesen war. Dass die anderen Schüler und Meister dort unten vermutlich gerade getötet wurden, spielte dagegen fast keine Rolle mehr.
Ob sein spitzer Stoß wohl genauso durch den Mann am Boden hindurch gehen würde wie durch den Tisch? Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er blickte auf. Am Eingang standen zwei Wächter. Sie mussten aus den Höhlen hinaufgekommen sein, als er seinen Gedanken nachgehangen hatte. Sie waren dabei ihre Armbrüste zu spannen. Hinter ihnen zeigte sich schon der nächste Kopf. Einer rief etwas. Pethen verstand es nicht und es war auch ohne Bedeutung, ob er es verstand oder nicht. Hatte ihn der drohende Tod durch die Magie des Priesters auf irgendeine Weise geweckt, aus seinen Schmerzen gezerrt und aktiv werden lassen, so lähmte ihn der Gedanke an den Kampf mit den Söldnern. Zu real war die Bedrohung durch die Bewaffneten. Da wo er herkam, hatte man einfach Angst vor Menschen mit Waffen, denn nichts Gutes konnte von ihnen kommen. Jeder fürchtete die Übergriffe von Banditen, Soldaten und Söldnern und nur selten konnte man sie unterscheiden. Und jetzt stand er, Pethen, allein drei Soldaten gegenüber. Er zitterte am ganzen Leib und sein Verstand verschwendete kostbare Zeit mit den Gedanken an seinen Tod.
Er wurde erst aus seiner Starre herausgerissen, als Schritte von rennenden Füßen zu hören waren. Er drehte sich um und sah, wie Hylei auf ihn zukam. Sie hatte ihren Speer fallengelassen und gestikulierte wild mit ihren Armen. Ein Wasserstrahl erschien knapp vor ihr und flog an Pethen vorbei auf die Söldner zu. Er traf sie, war aber nicht hart genug, um sie umzuwerfen, oder zu verletzen. Er machte sie nur nass. Und den Boden unter ihnen. Und die Armbrüste.
Der erste, der anlegte, rutschte im Schlamm zu seinen Füßen aus. Der Mann im Eingang war bereits mit dem Wasser, welches hineinfloss, wieder nach unten gespült worden. Dem dritten rutschte die Armbrust aus der Hand, die durch den Schmutz des Kampfes, den Schweiß und jetzt die große Menge Wasser glitschig geworden war.
Hylei sprach ein paar Worte, die Pethen nicht kannte, die sich aber nach einem Fluch anhörte.
„Tu was. Hab keine Waffen mehr.” Der letzte Söldner ging jetzt sehr vorsichtig durch den Matsch und zog dabei sein kurzes Schwert. Er war immer noch eine Gefahr, aber Hylei hatte ihm gerade gezeigt, dass Bewaffnete besiegt werden konnten. Pethen schickte ihm die Angst, die er bis eben noch gespürt hatte und der Soldat ließ seine Klinge fallen, um sich auf die Knie fallen zu lassen.
„Komm du Idiot.” Hylei bückte sich und zog eines ihrer Wurfhölzer aus der Kehle eines Priesters.
„Was ist mit Meister Zelon.”
„Sie ist tot. Jetzt beeil dich. Da kommen gleich mehr und der Zauber war zu viel für mich.”
Sie drehte sich um und hob nach einigen Schritten noch im Laufen ihren Speer wieder auf. Pethen warf noch einmal einen Blick auf sein Zuhause der letzten Jahre, sah dann aber, dass sich der ausgerutschte Wächter wieder erhob, drehte sich um und rannte hinter Hylei her.
Sie steckte gerade ihr Wurfholz in den Gürtel am Rücken, zu einem zweiten, dass von ihr noch nie geworfen worden war.
*
Die Onren schrien und weckten alle, die noch in ihren Träumen schwelgten. Shaljel war bereits auf den Beinen und hielt Ausschau nach Pilgern, die jetzt nicht mehr nur zum Pilgerpfad wanderten, sondern auch zu Ohnfeders kleinem Hof. Er hatte nichts gegen die Pilger, vor allem, weil sie sich immer wieder überwinden mussten, näherzukommen, sobald sie Streiter, Estron oder einen seiner Schüler sahen. Es sorgte bei ihm regelmäßig für Erheiterung, die er gut gebrauchen konnte, denn Ohnfeders Laune hatte sich nur unwesentlich in den letzten gut zwei Monaten gebessert. Sie mochte Estron nicht, weil er zu direkt gewesen war. Sie mochte ihre Schwangerschaft nicht. Sie mochte das Essen nicht, das Shaljel ihr bereitete. Sie mochte es noch weniger, dass sie nur so wenig davon bei sich behalten konnte. Aber am allerwenigsten mochte sie es, gleich morgens von Pilger
n verehrt zu werden. Unter anderen Umständen hätte sie wohl über die Situation gelacht: Sie, ungewaschen, im Nachthemd, auf der Schwelle ihres Hauses, eine Gruppe devoter Gläubiger vor ihr auf den Knien, hin und her wippend und Gesänge intonierend.
Sie wollte jedoch niemanden sehen und schon gar nicht verehrt werden. Sie hatte diese Ehre nicht gewollt. Es war wahr, dass sie sich einst, mit ihrem Mann, ein Kind gewünscht hatte, aber ein Kind vom Gott war nicht dasselbe. Und sechs Kinder waren einfach eine Unverschämtheit. Das fand sogar Shaljel, der immer mehr den Eindruck gewann, dass Ohnfeder ein etwas blasphemisches Verhältnis zu Emaofhia entwickelte, seinem nicht ganz unähnlich, nur mit einem stillen Maß an unheiligem Zorn vermischt.
Deswegen hielt er also jeden Morgen Wache, damit die liebe Frouwe ein wenig mehr Ruhe bekam, als die Gläubigen meinten, ihr zugestehen zu können.
Estron war der nächste, der nach draußen kam. Er musste über Streiter gestiegen sein, der sich in der kleinen Gästehütte immer vor den Eingang legt. Der Keinhäuser war sehr betrübt darüber, dass er mit Ohnfeder keine Freundschaft hatte aufbauen können, versuchte aber sein Bestes, um ihr zu helfen. So hatte er ihr schon mehrfach Kräuter gebracht, die ihre Übelkeit lindern sollten, die sie jedoch abgelehnt hatte. Schließlich hatte Shaljel ihr die Kräuter gebracht, ohne Estron zu erwähnen, und, obwohl Ohnfeder deutlich zu erkennen gab, dass sie wusste, woher die Kräuter stammten, konnte sie Shaljel einfach nichts abschlagen. Es war jedoch schwer einzuschätzen, ob die Kräuter gewirkt hatten, denn ihre Schwangerschaft war zu ungewöhnlich, um sie nach herkömmlichen Maßstäben beurteilen zu können.
Estrons Wunde war inzwischen verheilt, besser, als es bei anderen Menschen der Fall war, aber die Kraft der Natur war in ihm. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben.