Owithir nickte. Er löste sich von den beiden Soldaten und hielt sich an einem Baum fest. „Kalig, nimm ein paar Münzen aus meinem Beutel.“ Als die beiden Männer, die bei ihm standen, ihn erstaunt ansahen, fügte er zur Sicherheit hinzu: „Nimm nur so viel, wie sie dir dafür verkaufen können. Sei Vorsichtig, mein Sohn und möge die Sonne deinen Weg erleuchten“, und in Anbetracht dessen, dass es gerade dunkel wurde, neigte er seinen Kopf nach hinten, um den Himmel besser durch die Bäume sehen zu können. „auch wenn du wohl nur das Licht des Rings sehen wirst.“ Kalig verbeugte sich und machte sich auf den Weg. Für Owithir fühlte es sich immer noch seltsam an, einen Mann, der vermutlich älter war als er, als Sohn zu bezeichnen. Aber für seine Bewaffneten hätte es sich vermutlich seltsam angefühlt, wenn er es nicht getan hätte. Es war die übliche Anrede, die von einem Priester seiner Stellung erwartet wurde, aber bisher hatten meist andere, etwas höher gestellte oder wenigstens ältere Diener der Götter die Befehle gegeben und er war nur seiner besonderen Gabe wegen anwesend gewesen. Nun war er der einzige Priester und es fiel ihm nicht leicht, die Verantwortung, die er jetzt für diese Männer besaß, zu akzeptieren. Andererseits fühlte es sich auch gut an, einmal die Kontrolle zu haben und sich nicht schlecht fühlen zu müssen, weil er dabei war, wenn die Priester etwas taten, was er als Raub im Namen der Kirche empfand.
Er bekam nicht mehr mit, wie Kalig zurückkehrte. Seine Erschöpfung ließ ihn sich in seine Decke einrollen und ohne weitere Überlegungen einschlafen.
Er erwachte erst am nächsten Morgen, als die Sonne bereits aufgegangen war. Sein Mund war trocken und seine Zunge fühlte sich an, als hätte man sie stundenlang durchgeknetet. Er konnte nicht sagen, ob es in den letzten Tagen schlimmer geworden war, aber er konnte spüren, dass er sich während der Jagd nicht mehr erholen würde. Als er sich erhob musste er sich gleich wieder hinhocken, um nicht umzufallen. Das Schwindelgefühl, das ihn in diesem Moment bezwungen hatte, war neu.
„Wohlehrwürden, ist euch nicht gut?“ Marinam eilte zu seiner Seite.
„Es geht schon Marinam. Die Gaben der Götter haben immer ihren Preis.“ Er blickte sich vorsichtig um, denn er musste befürchten, dass eine hastige Bewegung entweder sein Schwindelgefühl verstärken oder, was er vielleicht sogar begrüßt hätte, seinen Kopf von den Schultern fallen lassen würde. Er suchte nach Kalig, aber sein Blick war noch nicht klar genug, um etwas in der Umgebung klar sehen zu können. „Ist Kalig wiedergekommen?“
„Ja, Wohlehrwürden. Er hat Essen für die nächsten Tage geholt. Wir haben schon ´was Rauchfleisch und heißen Brei für euch gemacht. Na ja, heiß is er jetzt wohl nich‘ mehr.“
„Danke, Marinam. Das ist sehr zuvorkommend.“ Dann überlegte er. „Hat er die Sachen bezahlt?“
„Wohlehrwürden?“ Marinam war sichtlich verunsichert, „Ich weiß es nich, Wohlehrwürden, warum sollte er das tun.“
„Ich hatte ihm Geld gegeben und ihn darum gebeten.“
„Kalig? Hasdu bezahlt?“
„Wohlehrwürden hat gesagt, dass ich es soll. Den Rest habe ich noch im Beutel.“ Er kam auf die beiden zu und nestelte an seinem Gürtel herum, bis er den Beutel gelöst hatte. „Verzeiht Wohlehrwürden, ihr schlieft, sonst hätt‘ ich euch das Geld bereits zurückgegeben.“
„Danke Kalig.“ Er blickte sich nach seinen Männern um, die ihre Arbeit unterbrochen hatten, um respektvoll auf die Anweisungen zu warten, die nun, nachdem er endlich erwacht war, gegeben werden mussten. Owithir blickte nach der Sonne, konnte jedoch weder sie noch den Ring durch die Bäume entdecken. „Die wievielte Stunde haben wir?“
„Wir haben keinen Gong gehört. Aber es muss um die dritte Stunde sein.“
„Ihr hättet mich früher wecken müssen.“ Seine Worte klangen schärfer, als es sein Ton war.
„Wohlehrwürden, is‘ meine Schuld. Verzeiht mir. Ich dachte, ihr braucht Schlaf. Damit wir schneller vorankommen.“
„Entschuldige mein Sohn. Ich danke dir. Mein Geist benötigte wohl diese Ruhe.“ Marinam blickte ihn erleichtert, aber auch verwirrt an. Dieser Pfaffe war anders, so viel hatten sie gewusst. Bis sie auf diese Jagd gegangen waren, hatten sie ihn jedoch für schwach und unbedeutend gehalten, selbst nachdem sie die tote Hexenmeisterin gesehen hatten. Aber in den letzten Tagen war ihnen immer klarer geworden, dass der Gott ihn gesegnet hatte. Er wirkte weich, mit seiner Höflichkeit. Deshalb hatten sie sich, während Owithir geschlafen hatte, zusammengesetzt, und mit leisen aber ernsten Worten über ihn gestritten, bis sie festgestellt hatten, dass sie an sich einer Meinung waren. Es mochte sein, dass er sie nicht anbrüllte, wie es die anderen Pfaffen taten. Es mochte sein, dass er für etwas zahlte, was, wie sie fanden, der Kirche zustand. Sie hatten über seine Weichheit gelacht, über seine Höflichkeit, über seine Unterwürfigkeit, die er den anderen Priestern gegenüber anfänglich noch gezeigt hatte. Dann hatte Laftin von den Befragungen erzählt, die er und einige seiner Freunde miterlebt hatten.
Ohne Frage, sie waren harte Kerle. Sie hatten Ketzerhöhlen und auch einige Bauten von Nichtmenschen ausgehoben, hatten immer gegen die Feinde der Kirche gekämpft. Dabei hatten sie erschlagen, erschossen, verbrannt und geschändet. Gewalt war ihnen nicht fremd. Sie hatten sie erfahren und anderen zugefügt. Brutalität und Blut waren nichts, was sie abschreckte. Auch Folter hatten sie regelmäßig durchgeführt, um die letzten Löcher auszuräuchern. Vor kurzem hatte jeder von ihnen ein paar seiner besten Freunde durch Magie verloren. Aber die Kammern unter den Tempeln bargen einen eigenen Schrecken. Wenn die Soldaten jemanden folterten, war es die Angst vor dem Tod, die die Münder öffneten. Die Priester nahmen den Gefangenen jedoch diese Angst und am Ende, war es die Angst, weiter am Leben zu bleiben, die sie mehr erzählen ließ, als die Soldaten jemals zu erfahren hoffen konnten. Und Owithir hatte unzählige Ketzer brechen sehen. Es hieß sogar, er allein hätte hunderte gebrochen, die selbst der brutalsten Folter widerstanden hatten.
Den Männern gefiel diese Form der Folter nicht, und ihnen gefiel noch weniger der Gedanke, dass sie mit einem Mann ritten, der sie durchgeführt hatte. Das Owithir jedoch diese Schrecken gesehen und wohl auch verursacht hatte, rang ihnen mehr Respekt ab, als selbst die Gnade, die ihm Veshtajosh erwies. Aber vor allem ließ es seine Höflichkeit und seine Weichheit in einem anderen Licht erscheinen. Es sagte ihnen, dass, nur weil er sie nicht anschrie, er es nicht hätte tun können. Und auch das rang ihnen Respekt ab, denn sie waren Männer, die Respekt, der ihnen entgegen gebracht wurde, mit Respekt vergalten.
Grummelnd - denn nur widerwillig gaben harte Männer wie sie zu, dass jemand weiches dennoch Wert unter ihnen haben konnte - waren sie übereingekommen, dass er wohl der beste Pfaffe war, der sie jemals geführt hatte.
Und so veränderte die Übereinkunft von ein paar niederen Bewaffneten der Kirche Veshtajoshs den Gang der Geschichte.
*
Hyleis und Pethens Weg verlief nicht gerade. Hylei wählte ihre Route so, dass sie nicht einmal die Felder betraten, die die Dörfer oft in einigem Abstand umgaben. Zusätzlich fürchteten beide, dass ihnen immer noch jemand folgen könnte. Da sie nicht einmal wussten, wie groß die Zahl der Angreifer gewesen war, konnten sie auch nicht erahnen, wie viele ihnen vielleicht folgen mochten, wenn ihnen überhaupt jemand folgte. Selbst nach elf Tagen hatten sie keinen Hinweis darauf, dass jemand die Verfolgung aufgenommen haben könnte. Trotzdem fühlten beide sich nicht sicher und Hylei konnte Pethen ansehen, dass er etwas spürte, was sie nicht wahrnehmen konnte. Sie hatte keinen Grund an seinen Gefühlen zu zweifeln, immerhin hatte er beim Angriff der Priester bewiesen, dass er jemandem widerstehen konnte, der Meister Zelon getötet hatte. Gleichgültig, was sie aus den wenigen Gesprächsfetzen in der Schule hatte heraushören können, selbst die besten Schüler schrieben ihm mehr magische Macht zu als jedem anderen. Und wenn man den Gerüchten glauben wollte, schloss dies die Meister ein.
Der wichtigste Grund jedoch, warum ihr Weg immer noch so verschlungen war, lag darin, dass sie nicht wusste, wohin sie sich wenden sollten. Immer wieder wand sie sich in Richtung der Stadt, aber die Furcht, dass man sie dort einsperren oder vielleicht sogar töten w
ürde, ließ sie ihre Richtung immer wieder ändern. Meist dachte sie dabei nicht einmal an Pethen, aber was dort mit ihm geschehen würde, stand außer Frage. Noch brauchte sie ihn jedoch. Außerdem war da noch die Sache, dass er ihr und sie ihm das Leben gerettet hatte. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, etwas von der Philosophie Atensuls hatte auf sie abgefärbt: Pethens Leben zu retten gab ihr eine Verantwortung für ihn.
„Wir sollten anhalten. Wir sind heute weit genug gelaufen.“ Pethens Ausdauer wurde besser und er fiel nicht mehr so oft zurück. Er hätte noch weiter laufen können und es war auch noch hell, trotzdem begrüßte er es, wenn sie einmal früher ihr Lager aufschlagen konnten. Nichtsdestotrotz blickte er Hylei erstaunt an, als sie stehen blieb.
„Ist was passiert?“
Sie schüttelte den Kopf und lehnte ihren Speer an einen Baum.
„Ich will lernen. Und du wirst auch lernen.“
„Jetzt? Ich will eigentlich nur schlafen.“ Pethens Worte kamen mit seinem kräftigen Atem, was sie härter klingen ließ, als er beabsichtigt hatte. Hyleis Worte waren jedoch nicht weniger bestimmt.
„Wann sonst.“
„Morgens, wenn wir ausgeruht sind.“
„Ich kann besser abends lernen.“ Sie ließ sich auf die Erde in den Schneidersitz fallen. „Setz dich.“
Er war zu müde, um trotzig zu sein. Er plumpste weniger elegant als sie zu Boden. „Ich kann dir nichts beibringen. Das hab ich doch schon gesagt.“
„Kannst du Meditieren?“
„Ja, ist wohl eine der wenigen Übungen, die ich besser kann als die Anderen.“
„Dann zeig‘s mir.“
„Aber du weißt doch schon, was du dazu machen musst.“
„Ich bin aber nicht gut darin. Ich muss besser werden.“
„Warum?“
„Meister Zelon hat gesagt, dass die Magie besser fließt, wenn ich mehr Ruhe in mir trage, was auch immer sie damit meinen mag. Und sie sagte, dass ich das mit Meditation hinkriegen würde.“ Auch wenn sie es nicht zugab, aber sie wusste genau, was ihre tote Lehrerin damit gemeint hatte. Sie konnte ihren Körper zur Ruhe bringen, aber der Kampf in ihrem Innern wurde nur für kurze Zeit befriedet, wenn sie sich der Gefahr zu sterben aussetzte.
Pethen senkte den Kopf: „Meister Zelon war eine kluge Frau“, seine Stimme zitterte ein wenig, „ich wünschte, ich hätte sie retten können. Ich vermisse sie.“
„Ja, das wäre gut gewesen.“ Auch Hylei zögerte einen Augenblick, fasste sich dann aber wieder. „Lass uns anfangen.“
„Nein, lass uns erst etwas trinken und das Lager vorbereiten. Dann habe ich noch Zeit mich zu erholen und wir haben mehr Ruhe.“
„Na gut. Aber dann bring ich dir vorher noch was bei. Ich hab‘s dir gesagt.“
„Und was willst du mir beibringen?“
„Zu kämpfen. Oder hast du jemals eine Waffe geführt?“
„Nein, hatte nie die Gelegenheit.“
„Aber da, wo wir hingehen, ist es besser, wenn wir uns beide verteidigen können.“
„So gefährlich ist deine Stadt?“
„Wir gehen nicht dahin. Ich glaub‘ nicht, dass du weit genug kämst, um Einlass zu bitten.“
„Wenn du das sagst, dann wird es wohl so sein. Aber wo gehen wir dann hin?“
„So weit, wie wir kommen können.“
„Zum Meer?“
Hylei nickte und zog den Dolch.
„Nicht meine Waffe.“ Sie reichte es mit dem Griff nach vorne an Pethen weiter. Es war nicht das erste Messer, das er in der Hand gehalten hatte, aber das beste und wohl bisher einzige, welches für den Kampf balancierte war. Er fasste es fester.
„Und was jetzt?“ Hylei stellte sich neben ihn und brachte sich in eine lockere Angriffsstellung für den Nahkampf. „Stell dich so hin.“ Pethen war es gewohnt, von Lehrern Anweisungen zu bekommen, aber körperliche Übungen waren in den letzten Jahren deutlich zu kurz gekommen. Daher gelang es ihm nicht sofort, Hylei nachahmen. Er war jedoch auch kein Trottel und so dauerte es nicht lange, bis er die ersten Bewegungen zur Zufriedenheit ausführte.
Nach einer halben Stunde, brach Hylei ohne ein Wort zu verlieren ab und ging zum nahegelegenen Bach. Pethen folgte ihr. Sie tranken reichlich von dem braunen Wasser und wuschen sich so gut es ging. Hylei sagte sich zum wiederholten Male, dass sie dringend ein paar Wasserbeutel besorgen musste. Sie waren zu abhängig von den Bächen und Quellen. Magie zu verwenden, um immer und überall an Wasser zu gelangen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, so sehr war sie davon eingenommen, dass Magie eine Waffe war.
Als sie zu ihrem Lagerplatz zurückgekommen waren, bauten sie sich, so gut es ging, einen Unterschlupf, der sie ein wenig schützen sollte. Anschließend nickte Pethen Hylei zu und sagte: „Wollen wir anfangen?“ Hylei blickte ihn einen Augenblick lang starr an, als würde sie überlegen, was er meinen könnte, nickte dann aber.
„Bei Meister Zelon habe ich die Meditation zuerst im liegen gelernt. Ich fand es immer am leichtesten. Allerdings schlaf ich dabei auch leicht ein. Trotzdem sollten wir damit anfangen.“
Er legte sich bequem hin und sie tat es ihm gleich. Sie kannte Meditation, hatte sie lange genug bei Meister Zelon geübt, um zu wissen, dass es ihr nicht gefiel. Es war langweilig und zeigte ihr nicht, wie sie die Magie auf eine neue Weise verwenden konnte. Im liegen hatte sie es jedoch noch nie ausprobiert. Pethen jedoch schien diese besondere Form der Zeitverschwendung zu gefallen, also tat sie ihm erst einmal den Gefallen.
„Schließ die Augen.“ Einen Augenblick später hörte sie, wie er aufstand und sehr langsam um sie herum ging. Als er hinter ihr stand, spürte sie, wie er sich hinter ihr niederließ. Plötzlich stach etwas schmerzhaft in ihren Kopf. Sie sprang auf. „Hey!“ schrie sie ihn wütend an.
„Ich habe dich nicht angefasst.“
„Ich hab‘s doch gespürt.“
Er hob beschwichtigend die Hände. „Verzeih mir. Bitte leg dich noch einmal hin und versuch noch einmal, zu meditieren. Ich zeig dir, was ich gemacht habe.“ Als sie ihn immer noch misstrauisch anblickte, flehte er sie fast an: „Bitte.“
Sie ließ sich erneut zu Boden sinken, blieb aber wachsam. Es war nicht leicht, sich zu entspannen, wenn man damit rechnete, angegriffen zu werden und deswegen die Umgebung im Auge behielt.
„Es ist mir erst gestern wirklich aufgefallen. Beim Aufstehen. Ich habe schon öfter gesehen, ohne zu sehen. Ich meine, gesehen, ohne die Augen zu öffnen. Aber gestern hab ich dann wieder Sachen um dich herum gesehen.“ Er hob die Hand als Hylei etwas zu sagen versuchte. Pethen begann jetzt sehr schnell zu reden. „Es sah aus, als wenn lauter Wellen um dich rum laufen würden. Wie ein Sturm auf einem See, nur viel langsamer. Ist schwer zu erklären. Dann habe ich an mir runter gekuckt und hab an mir auch sowas gesehen. Aber meine Wellen haben eine andere Farbe. Nein, Farbe ist nicht richtig. Aber ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll. Auf jeden Fall umgibt es uns, ziemlich gleichmäßig, überall. Und manchmal schlägt es aus.“ Er ging näher auf sie zu. „Wenn du Meditierst, wird es ruhiger.“ Sein erhobener Finger näherte sich ihrem Gesicht. „Und ich kann es ein wenig ausstrecken.“ Er sah ihr in die Augen: „Du siehst es nicht, oder? Aber in der Schule hat es auch keiner gesehen. Ich glaube, das ist unsere Magie. Und ich dachte immer, sie wäre nur gelb und weiß.“ Hylei verstand nicht wirklich, was er sagen wollte, aber spürte ein Kribbeln, dort, wo sich sein Finger näherte. Sie hätte es normalerweise als irgendeines dieser Gefühle abgetan, die man manchmal hatte, wie zum Beispiel, wenn man wusste, dass jemand in der Nähe war, aber nicht sagen konnte, warum. Irgendwas in der Luft oder der Erde. Aber jetzt wusste sie, dass dem nicht so war, denn sie brauchte nicht einmal darüber nachdenken, dass er vielleicht Unrecht haben könnte. Diese Möglichkeit, kam ihr schlicht nicht in den Sinn. Sie nickte, wobei sie dem Finger auswich.
„Kannst du einen Zauber wirken? Ich möchte sehen, was passiert, wenn die Magie durch dich fließt.“ Hylei zuckte mit den Schultern und Stand wieder auf.
„Bereit?“ Sie nickte Pethen zu.
Sie ließ nur einen kleinen Wasserstrahl von ihren Fingern aus wegsprühen, eine A
bwandlung dessen, was sie beim Kampf um die Zuflucht verwendet hatte, nichts Schwieriges.
Als sie sich zu Pethen hinwandte sah sie ein verklärtes Lächeln auf seinem Gesicht, als wenn er etwas unbeschreiblich Schönes gesehen hätte. Langsam begann er sich im Kreis zu drehen und mit vorsichtigen Kopfbewegungen die Umgebung zu betrachten.
Als er sich einmal um seine Achse gedreht hatte, stellte sich Hylei vor ihn. Sie mied es, ihn zu berühren. „Pethen!“ Sie schrie ihn an, aber seine Antwort war ein leises, freundliches „Ja?“ Er blickte in ihre Richtung, schien sie aber nicht gleich zu sehen. Erst langsam fanden seine Augen wieder in die wirkliche Welt zurück.
„Es ist unglaublich, Hylei.“ Er grinste. „Die Magie ist um uns herum. Alles ist voller Magie.“
„Was soll das heißen?“
„Alles ist voller Magie. Alles ist von Magie umgeben, Du, die Bäume, der Boden, alles. Alles, was wir gelernt haben, ist falsch. Die Magie kommt nicht aus uns, wir saugen sie heran. Es ist so schön!“
„Und was bedeutet das für uns?“
Pethen stutzte. „Ich weiß es nicht?“ Dann lachte er: „Wir werden es rausfinden.“
*
Heute wollten sie endlich den Großen Jahm überqueren. Kam-ma hatte schon viel von diesem größten aller Flüsse gehört, aber wenn der größte Fluss, den man bisher hatte überqueren müssen, nicht mehr als fünf Bootslängen breit gewesen war, dann machte man sich keine Vorstellung von der Gewaltigkeit eines Gewässers, dass selbst wenn es ruhig daher floss, einen kräftigen Mann mit sich riss. Der Große Jahm war breiter als die Seen in ihrer Heimat. Er war breiter als das Feld ihrer Eltern. Breiter als das Feld ihrer Eltern und das Feld ihrer Nachbarn zusammen. Wenn das mal reichte.
Und er war tief. So tief, dass man den Boden nicht erreichen konnte, selbst wenn man all seinen Mut zusammen nahm und mit Steinen beschwert hinuntertauchte. Nicht dass das einer von ihnen probiert hätte. Estron hatte es ihnen strikt verboten. Aber auch er war von der Größe dieses Flusses überwältigt gewesen, als sie endlich hier angekommen waren. Für einen kurzen Moment, trotz der Erschöpfung, die selbst ihn ob des langen und schnellen Marsches überkommen hatte, war er an dem Abend vor zwei Tagen der Estron gewesen, dem sie sich vor über drei Ringfüllen als Schüler verschworen hatten. Seine Augen waren voll Erstaunen und Freude über die Wunder der Welt gewesen, die es immer noch zu entdecken gab. Denn seitdem er von seinem Besuch bei dem Gott der Aleneshi zurückgekehrt war, schien ihm seine Lebensfreude verlorengegangen zu sein.
Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 30