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Forbidden Royals 02 - Golden Throne

Page 12

by Johnson, Julie


  »Ihr Name ist Babbette, nicht wahr?«

  Ich breche erneut in Gekicher aus.

  Als ich wieder in meiner Suite bin, wälze ich mich im Bett hin und her und kann nicht schlafen. Ich habe immer gedacht, dass man von Gras träge wird, aber auf mich hat es genau den gegenteiligen Effekt. Egal wie sehr ich versuche, die Augen geschlossen zu halten, ich scheine mich einfach nicht entspannen zu können. Es ist zu still. Zu dunkel.

  Zu alles.

  Nachdem sie uns sicher in unsere jeweiligen Zimmer geführt hat, ist Galizia zu den Kasernen des Torhauses zurückgekehrt, um zu schlafen. Chloe hatte offensichtlich keine Probleme damit, sofort wegzuschlummern, aber ich starre nun schon seit fünfundvierzig Minuten an meine Zimmerdecke und bin immer noch hellwach.

  Mein Kopf hat angefangen, sich zu drehen, und meine Atemzüge werden immer kürzer, je länger ich hier in der Dunkelheit liege. Aber das könnte mehr mit dem süßlichen Blumengeruch zu tun haben, der die Luft in meinem Schlafzimmer erfüllt, als mit den Drogen in meinem Kreislauf.

  Ich werfe einen Blick auf meinen Beistelltisch, auf dem ein kunstvoll arrangierter Strauß aus hellblauen caerleonischen Lilien steht. Direkt dahinter auf meiner Kommode prangen ein Dutzend pinkfarbene Rosen, die so grell sind, dass ich sie sogar in der Dunkelheit erkennen kann. Ich weiß, dass ich nur den Kopf drehen muss, um ein Arrangement aus Orchideen zu sehen, das die breite Fensterbank schmückt … und Wildblumen drüben neben dem Stuhl … und Margeriten auf dem Kaminsims …

  Ich ziehe mir ein Kissen über den Kopf, um meinen Schrei zu dämpfen.

  Gestern ging es damit los, dass ein Blumenstrauß nach dem anderen eintrudelte. Ständig kam ein Page herein und brachte ein weiteres Prachtexemplar in mein Zimmer. Es waren so viele, dass es schon fast lächerlich war. So viele, dass man denken könnte, dass eine Art Massenmitteilung an jeden heiratsfähigen Mann im Land rausgegangen sein muss.

  Sie hat nicht auf eure Nachrichten reagiert … Dieses Mal versucht ihr es besser mit Blumen, Jungs!

  Mittlerweile habe ich den Überblick darüber verloren, wie viele Sträuße geliefert wurden. Auf jeder verfügbaren Oberfläche in meiner Suite steht eine Vase – oder auch mehr –, und das schließt noch nicht einmal die Sträuße mit ein, die ich gestern jedem Dienstmädchen in die Hand gedrückt habe, das mir in den Fluren des Schlosses über den Weg gelaufen ist.

  Bitte nehmen Sie die Blumen mit nach Hause. Erfreuen Sie sich daran. Mir ist der Platz ausgegangen.

  Sogar Hans, der mürrische Stallmeister, bekam nach meiner morgendlichen Reitstunde einen Strauß, den er für seine Frau mitnehmen sollte. Er wollte ihn nicht annehmen, aber meine Entschlossenheit, die Pollenbelastung in meinem Zimmer auf jede nur mögliche Weise zu reduzieren, war so stark, dass er keine Chance hatte.

  Wenn ich klug gewesen wäre, hätte ich eine verdammte Allergie vorgetäuscht. Zu dumm, dass mir diese Ausrede nicht einfiel, als die erste Lieferung eintraf. Ich hatte ja keine Ahnung, dass noch fünfzig weitere folgen würden.

  Wenn es nach mir ginge, würde ich sie einfach in den Müll werfen … Aber ich weiß, dass das zweifellos für jede Menge Schlosstratsch sorgen würde. Verdammt, wahrscheinlich würde man sogar in den landesweiten Nachrichten über diese Verschwendung berichten. Ich kann den Kommentar förmlich hören.

  Prinzessin Emilia hat all die schönen Blumen der Freier weggeworfen. Ist sie nicht ein undankbares Luder?

  Nicht, dass ich die Geste nicht zu schätzen weiß. Ich bin nur einfach nie ein großer Blumenfan gewesen. Meiner Meinung nach ist das Überreichen eines Blumenstraußes eine seltsame Art, seine Liebe auszudrücken.

  Hier, nimm diese hübschen Dinger, die ich in der Blüte ihres Lebens abgeschnitten habe, und sieh zu, wie sie im Verlauf der nächsten paar Tage langsam verkümmern, bevor du sie in den Müll wirfst, wo sie verrotten werden.

  Wer hat überhaupt entschieden, dass Blumen die beste Möglichkeit sind, seine amourösen Absichten zum Ausdruck zu bringen? Man kann mich ruhig für verrückt erklären, aber … für mein Empfinden wäre es weitaus romantischer, eine Topfpflanze geschenkt zu bekommen. Etwas, das wachsen und gedeihen kann, statt zu verwelken und einzugehen. Etwas, das man über Jahre hinweg pflegen kann. Und immer wenn ich die Pflanze anschaue, würde ich an die Person denken, die sie mir geschenkt hat …

  Aber das ist sentimentaler Quatsch. Schließlich geht es bei diesen speziellen Sträußen nicht wirklich um Liebe. Sie sind eher eine deutliche Erinnerung an die Abmachung, die ich mit Octavia getroffen habe. An das Versprechen, das ich ihr gegeben habe, aber noch einhalten muss.

  Die gefürchtete Brautwerbung.

  Trotz meiner inständigen Hoffnung, dass das Problem sich einfach in Wohlgefallen auflösen würde, wenn ich es nur lange genug ignoriere … kann ich ihm nicht mehr aus dem Weg gehen. Ich habe an diesem Nachmittag eine offizielle Nachricht von Lady Morrell erhalten. Mein vom Palast abgesegneter Freier wird sich morgen Nachmittag mit mir treffen, um mit mir in aller Öffentlichkeit und ausgesprochen publikumswirksam am Ufer des Nelle River spazieren zu gehen.

  Ich habe nicht nach Einzelheiten gefragt. Nicht mal nach seinem Namen.

  Wer er ist, spielt keine Rolle. Denn selbst wenn er ein fünfundvierzigjähriger ewiger Junggeselle mit Schmerbauch und Geheimratsecken ist … komme ich aus dieser Nummer nicht mehr raus.

  Im Grunde genommen bin ich eine Prinzessin im Turm, wie sie im Buch steht.

  Mit einem wütenden Schnauben reiße ich mir das Kissen vom Gesicht und schleudere es blindlings quer durchs Zimmer. Dabei verfehle ich nur knapp eine große Vase mit lilafarbenen Schwertlilien. Der irrationalen, emotionalen Hälfte meines Gehirns würde es vielleicht gefallen, sie auf dem Steinfußboden zersplittern zu sehen. Doch die etwas vernunftbegabtere Hälfte weiß, dass das laute Scheppern vermutlich sämtliche diensthabenden Wachen veranlassen würde, mit Vollgas und gezückten Waffen in meine Gemächer zu stürmen, um mögliche Eindringlinge zu eliminieren.

  Hey! Vielleicht würden sie mich versehentlich erschießen. Dann müsste ich morgen nicht zu dieser Verabredung …

  Ich schlage die dicke Bettdecke zurück, schwinge die Beine auf den Boden und schlüpfe in ein Paar Lammfellpantoffeln. Ich kann nicht länger in diesem Zimmer sein, in dem mir nur sterbende Blumen Gesellschaft leisten. Das ist, als würde man in einer Leichenhalle schlafen, um Himmels willen.

  Ich brauche frische Luft.

  Ich brauche kalten Wind.

  Ich muss den Kopf freibekommen.

  Zum Glück kenne ich einen Ort, der für derartige Zwecke perfekt geeignet ist …

  Mein Zimmer ist dunkel – das Feuer im Kamin ist längst erloschen –, aber meine Füße kennen den Weg. Ich bewege mich wie von selbst. Ich gehe zu meinem Schreibtisch und finde den kleinen Schlüssel, den ich vor fast einem Monat in der oberen Schublade verstaut habe. Ich schnappe mir meine Reitjacke von der Stuhllehne und schlüpfe hinein. Ich gehe zur Tür und ziehe sie quälend langsam einen Spaltbreit auf, während ich bete, dass sie nicht knarrt, damit die Wachen, die durch die Korridore patrouillieren, nicht auf den Plan gerufen werden.

  Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es nicht besonders toll finden würden, wenn ich mitten in der Nacht allein umherwandere.

  Ich verziehe das Gesicht, als die Tür hinter mir mit einem Klicken ins Schloss fällt. Das war ein wenig zu laut für mein Empfinden. Einen Augenblick lang warte ich an der Schwelle und lausche angestrengt auf das Geräusch herannahender Schritte. Ich höre nichts. Im Gang ist es vollkommen still. Und auch dunkel – abgesehen von der ein oder anderen spärlich glimmenden Wandleuchte scheint das komplette Schloss in tiefste Dunkelheit gehüllt zu sein.

  Ich schaue hastig in jede Richtung, hole tief Luft, um mich zu beruhigen, und mache mich auf den Weg. Meine Pantoffeln verursachen auf dem Steinfußboden keinen Laut. Ich bleibe in den Schatten und weiche den wenigen Lichtquellen so gut wie möglich aus, nur für den Fall, dass unerwartet eine Wache um die Ecke kommt.

  Das Glück ist jedoch auf meiner Seite – ich schaffe es bis zum Wandteppich, ohne entdeckt zu werden. Selbst in der Dunkelheit ist das Wappen der Lancas
ters darauf deutlich zu erkennen. Ich streiche mit einem Finger über das Profil des stolzen Löwen und muss beinahe lächeln.

  Wenn man sich den Wandteppich so anschaut, würde man niemals vermuten, dass sich dahinter ein geheimer Durchgang befindet. Und selbst wenn man zufällig auf das Geheimnis stoßen würde … ist die Tür fest verschlossen. Ohne den Schlüssel kommt man nicht hindurch.

  Doch dank Alden Sterling bin ich nun im Besitz dieses Schlüssels.

  Ich halte ihn fest umklammert, schiebe den Wandteppich zur Seite und huste, als mir eine Staubwolke ins Gesicht weht. Hier ist seit einer ganzen Weile niemand mehr gewesen. Vermutlich nicht mehr, seit mich Alden zum ersten Mal nach oben auf den Turm geführt hat.

  Seit der Krönung habe ich ihn nicht mehr persönlich gesehen, aber er schickte mir vor einigen Wochen den Schlüssel, zusammen mit einer recht unverblümten Nachricht, die mir die Schamesröte in die Wangen trieb.

  Für den Fall, dass meine Prinzessin jemals aus ihrem Schloss entkommen muss … darf sie sich jederzeit meinen Lieblingsturm ausborgen. Und falls sie je ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Anlehnen braucht … darf sie sich auch meinen Körper ausborgen. Ich stehe voll und ganz zu Ihrer Verfügung, Eure Königliche Hoheit.

  Er hatte die Nachricht mit seinem offiziellen Siegel sowie seiner privaten Telefonnummer unterzeichnet. Damals war ich mir sicher, dass er mir Avancen machte … Doch rückblickend betrachtet bin ich mir nicht sicher, ob er mit mir flirten wollte oder einfach nur nett war, weil ich so viel durchgemacht hatte. Schließlich war auch er an dem Abend, an dem mein Vater vergiftet wurde, anwesend gewesen. Er sah, wie verzweifelt ich war, als Linus mit Schaum vor dem Mund auf diesem Podest zusammenbrach. Er hat meine schrillen Entsetzensschreie unmittelbar miterlebt …

  Ich schüttle die Erinnerungen ab und stecke den Schlüssel ins Schloss. Als ich versuche, ihn zu drehen, stoße ich auf Widerstand. Er steckt fest.

  Verdammt.

  Ich beuge mich ein wenig herab und kneife die Augen zusammen, um das Schlüsselloch in der Dunkelheit auszumachen, während ich den Schlüssel hin und her rüttele. Wenn ich nur den richtigen Winkel treffen würde …

  Ich konzentriere mich so sehr auf meine Aufgabe, dass ich auf nichts anderes mehr achte. Deswegen höre ich die Schritte nicht, die näher kommen. Auch das leise Ausatmen, das in dem verlassenen Korridor über die Lippen einer anderen Person kommt, höre ich nicht. Ich höre gar nichts, abgesehen von dem leisen Klicken, als das Schloss endlich nachgibt, und dem dumpfen Quietschen der uralten Scharniere, als sich die Tür öffnet und mir Zugang gewährt.

  »Ja!«, stoße ich in einem unterdrückten, aber triumphierenden Flüsterton aus.

  Mein Triumph ist jedoch nur von kurzer Dauer.

  So schnell, dass ich keine Zeit zum Schreien habe, so schnell, dass ich nicht mal Zeit zum Blinzeln habe … presst jemand gekonnt eine Hand auf meinen Mund und zerrt mich zurück in die Schatten.

  Verdammt.

  10. KAPITEL

  Mein Rücken prallt gegen eine steinharte Brust. Ich zappele in dem eisernen Griff der Arme, die mich gefangen halten, aber es hat keinen Zweck. Wer auch immer mich geschnappt hat, ist viel zu stark, als dass ich ihn abschütteln könnte.

  Oh, warum nur hast du dein Zimmer mitten in der Nacht verlassen? Herrgott, Emilia, legst du es etwa darauf an, ermordet zu werden?

  Angst durchfährt meine Glieder wie ein Blitzschlag und elektrisiert jedes meiner Nervenenden. Mein Verstand rast und zeigt mir eine Montage aus all den Möglichkeiten, wie ich zu Tode kommen könnte. Die Bilder flackern in schneller Abfolge vor meinen Augen auf.

  Ist das der verrückte Brandstifter, der das Feuer gelegt hat?

  Ein Monarchiegegner mit einer geschärften Axt?

  Ein verärgerter Palastangestellter, der auf Rache aus ist?

  Ich verfluche mich dafür, dass ich so unvorsichtig war. Ich verfluche Chloe dafür, dass sie mir Drogen gegeben hat, die mein Urteilsvermögen beeinträchtigt haben. Aber vor allem verfluche ich den geheimnisvollen Angreifer, der kurz davor ist, mir das Genick zu brechen und meine Leiche in diesem verlassenen Korridor zurückzulassen.

  Ich denke an all die Dinge, die ich zurücklassen werde. Morgendliche Ausritte und blutrote Sonnenuntergänge. Erste Küsse und erste Streitereien. Den Geruch alter Bücher und frisch bezogener Bettwäsche. Sternenklare Nächte und warme Brisen. Mit jemandem, den man liebt, so lange lachen, bis einem die Tränen kommen. Wegen einer Person, die man hassen sollte, weinen, bis man lacht.

  Ich denke an die Menschen, die ich nun niemals richtig kennenlernen werde. Meinen Vater. Meine Stiefschwester. Meinen besten Freund. Meine Leibwächterin. Meinen … Ich habe kein Wort für Carter, aber auch er ist in meinen Gedanken. Seine blauen Augen haben sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt.

  Und am überraschendsten ist sicher, dass ich als Letztes tatsächlich … an mein Land denke. An mein wunderschönes Caerleon, das durch den Verlust seiner letzten Hoffnung einen weiteren schweren Schlag hinnehmen muss. Ich denke an die Gesichter meiner Landsleute, an all die Dinge in ihrem Leben, die ich als ihre Kronprinzessin hätte verändern können, an all die Dinge, die ich eines Tages als ihre Königin hätte tun können.

  Ich bin nicht bereit zu sterben.

  Ich hätte noch so viel verändern können.

  Mein Angreifer presst die Hand fester auf meinen Mund, um meine Schreie zu unterdrücken. Mit dem Arm, den er um meine Taille gelegt hat, drückt er mich so fest an sich, dass es einfach zwecklos ist, sich zu wehren. Als seine Lippen mein Ohrläppchen streifen, überkommt mich reine Panik, und ich erstarre wie ein Reh im Scheinwerferlicht und warte darauf, dass mein Schicksal seinen Lauf nimmt.

  Doch die Panik weicht verblüffter Sprachlosigkeit, als ich meinen Angreifer ein paar Sekunden später sprechen höre. Seine raue Stimme ist mir schmerzlich vertraut.

  »Im nächsten Flur stehen zwei Wachen. Wenn du also nicht willst, dass dieses nächtliche Abenteuer ein vorzeitiges Ende nimmt … wenn du nicht zurück in dein Zimmer verfrachtet und von jetzt an rund um die Uhr bewacht werden willst … schlage ich vor, dass du den Mund hältst, wenn ich meine Hand wegnehme. Verstanden?«

  Schlagartig erkenne ich, mit wem ich es zu tun habe. Ich bin gleichermaßen erleichtert, dass ich nicht sterben werde, und wütend auf ihn, weil er mich fast zu Tode erschreckt hat.

  Argh.

  ARGH!

  Dieser verfluchte Kerl …

  Ich würde ihn liebend gerne umbringen. Noch lieber würde ich ihn anschreien , so laut ich kann … Aber er hat recht. Ich will auf keinen Fall, dass mich die Königsgarde dabei erwischt, wie ich nachts durch den Palast schleiche. Das wird Bane nur die Rechtfertigung verschaffen, die er braucht, um mich erneut komplett unter Verschluss zu halten. Dann wird alles wieder so sein, wie es vor meiner erfolgreichen Verhandlung um mehr Freiheit war.

  Carter schüttelt mich sanft. »Hast du mich verstanden?«

  Ich nicke.

  Er nimmt die Hand von meinem Mund, und ich wirbele sofort herum, um ihn anzuschauen. Trotz der Dunkelheit kann ich jeden seiner irritierend perfekten Gesichtszüge ausmachen. Diese gerunzelte Stirn, diesen ausgeprägten Kiefer. Sein vom Schlaf zerzaustes Haar. Und vor allem diese kühnen blauen Augen, die er so durchdringend auf meine gerichtet hat, dass ich den Blick in jeder Zelle meines Körpers spüre.

  Er trägt einen dicken Seemannspullover und eine dunkelgraue Jogginghose. Eine ganze Minute lang stehen wir einfach nur schweigend da und starren uns an. Einerseits will ich mich abwenden, andererseits will ich mir jedes winzige Detail von ihm einprägen, bis hin zu der kleinen Narbe, die seine linke Augenbraue teilt, und der leichten Wölbung seiner Unterlippe.

  Je länger ich ihn anschaue, desto größer wird der Schmerz in meiner Brust. Es ist der gleiche Schmerz, den ich immer dann verspüre, wenn ich im Flur an ihm vorbeigehe und mich zwingen muss, ihm nicht in den Weg zu treten – der gleiche Schmerz, der mich überkommt, wenn ich mich zwei Schritte von ihm entfernt befinde und weiß, dass ich meinen Mund nicht auf seinen pressen kann.

  Ich frage mich, ob je der Tag kommen wird, an d
em mich der bloße Anblick von Carter Thorne nicht umhaut, als hätte man mir einen unerwarteten Schlag in die Magengrube verpasst.

  Ich bezweifle es ernsthaft.

  Ich schlucke schwer, verdränge diese Gedanken und konzentriere mich stattdessen auf meine Wut – die ist deutlich sicherer als die anderen Emotionen, die momentan durch meinen Körper rauschen.

  »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«, zische ich ihn an.

  Er zuckt nur vollkommen ungerührt mit den Schultern.

  »Bist du mir hierher gefolgt?«

  Carter schnaubt unverbindlich. Seine Miene bleibt steinern.

  »Was zum Teufel stimmt nicht mit dir?«

  Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Mit mir? Ich bin nicht derjenige, der sich mitten in der verdammten Nacht aus dem Bett schleicht.«

  »Ich bin nicht geschlichen .« Ich verdrehe die Augen. »Ich brauchte ein wenig frische Luft.«

  »Auf einem verfluchten Turm? Bist du dir jetzt etwa schon zu fein für gewöhnliche Balkone? Oder hast du womöglich darauf gehofft, dass dich dort oben irgendein Märchenprinz entdeckt und dann herbeigeeilt kommt, um dich zu erobern? Das würde dieses kleine Märchenszenario, das du dir zurechtgelegt hast, geradezu komplettieren …«

  »Herrgott!«, blaffe ich, und die Lautstärke meiner Stimme passt sich meiner Laune an. »Du bist ein so unglaubliches Arschloch, dass es manchmal nicht zu fassen ist.«

  Bevor ich auch nur mit der Wimper zucken kann, legt er einen Finger auf meine Lippen – eine unmissverständliche Warnung, dass ich leise sein soll. Ich suche nach weiteren Worten, aber sie haben sich alle aus meinem Kopf verflüchtigt. Meine Gedanken entgleisen, sobald er mich berührt.

  Carter scheint zu merken, was er angerichtet hat, denn ihm bleibt der nächste Atemzug im Hals stecken, und schon im nächsten Moment senkt er den Blick, um auf meinen Mund zu starren.

 

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