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Was auch immer geschieht 02 - Feeling close to you

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by Iosivoni, Bianca


  Manchmal redete ich mir das selbst heute noch ein und verdrängte die Wahrheit. Denn die war, dass ihr laut Einschätzung der Ärzte nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Und ich war ein riesiger Feigling, weil ich es kaum schaffte, meiner eigenen Mutter ins Gesicht zu blicken. Aber wie konnte ich noch Mom – meine Mom – in ihr sehen, wenn diese Frau zu einer Fremden für mich geworden war? Und ich für sie genauso.

  Ich zögerte und drehte das Glas in der Hand. »Ist es schlimmer geworden?«

  Der Schmerz in den Augen meines Vaters war Antwort genug.

  Ich presste die Lippen aufeinander. Er wollte mein Mitleid nicht, das wusste ich, aber … Scheiße. Wie sollte ich kein Mitleid haben? Was er in den letzten Jahren alles hatte durchmachen müssen … dass er Mom nicht helfen konnte und Tag für Tag dabei zusehen musste, wie die Liebe seines Lebens langsam vor seinen Augen zugrunde ging. Denn genau das passierte hier. Ganz egal, wie oft ich mir sagte, dass alles wieder gut werden würde, tief in mir drinnen wusste ich, dass das nicht passieren würde. Dass es nie mehr gut sein würde, auch wenn ich alles darum gegeben hätte, wenigstens für einen Tag so zu tun, als wäre alles normal. Als wäre alles beim Alten.

  Dann würde Mom jetzt mit uns in der Küche sitzen, ihr Lachen wäre im ganzen Haus zu hören, und sie würde mich mit diesem liebevollen Blick bedenken, während sie mich darüber ausfragte, was es Neues gab. Ich würde mit meinen Eltern offen über die Uni und die Arbeit reden können, wir würden zusammen zu Abend essen und dann würde ich zurück nach Pensacola fahren, in dem Wissen, dass es den beiden gut ging und sie den restlichen Abend vermutlich mit etwas Wein auf der Veranda verbrachten und sich den Sonnenuntergang anschauten. Ein kitschiges Bild, ja. Aber eines, von dem ich mir mehr als alles andere wünschte, dass es Realität wäre.

  Ich schluckte das bittere Gefühl hinunter und zwang meine Gedanken zurück in die Gegenwart. Das hier war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, um sich in irgendwelchen Was-wäre-wenn-Vorstellungen zu verlieren oder auf ein Wunder zu hoffen. Ich hatte schon lange damit aufgehört, an Wunder zu glauben, auch wenn Dad noch immer krampfhaft daran festzuhalten schien. Und vielleicht musste er das. Vielleicht war das seine Art, mit allem klarzukommen. Mit einem Leben, das ich niemandem wünschte, nicht mal meinem ärgsten Feind.

  »Es ist gut, dass du da bist«, sagte er schließlich und trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«

  Shit. Shit . Wieso klang das nach einem Abschied? Abschiede waren das Letzte, und ich weigerte mich, ihr Lebewohl zu sagen. Dazu war ich noch nicht bereit. Dazu würde ich nie bereit sein.

  Dennoch brachte ich die nächsten Worte irgendwie hervor: »Ist sie oben?«

  Dumme Frage. Wo sollte sie sonst sein, wenn nicht in ihrem Zimmer? Aber manchmal … Bis vor einem Jahr war sie an manchen Tagen noch im Garten gewesen und hatte gelächelt. Und an diesen Tagen war alles beinahe wieder wie früher gewesen.

  Dad nickte nur und starrte in seinen Becher. Allem Anschein nach würde ich von ihm keine Hilfe bekommen, aber das erwartete ich auch gar nicht. Ich war schließlich hier, um ihm zu helfen. Um ihm eine Pause zu verschaffen. Eine Pause, die er dringend nötig hatte.

  »Ich gehe zu ihr. Wieso haust du dich nicht etwas aufs Ohr?«, schlug ich vor und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter.

  Ohne eine Antwort abzuwarten, hob ich meinen Rucksack auf und machte mich auf den Weg ins Obergeschoss. Dabei nahm ich immer zwei Stufen auf einmal, um gar nicht erst auf die Idee zu kommen, innezuhalten oder umzudrehen. Ich hasste diese Besuche. Hasste es, wie ich mich danach fühlte. Aber hier ging es um meine Mom. Ich würde sie immer besuchen kommen, selbst wenn es eines Tages mein letzter Besuch sein würde.

  Oben angekommen bog ich zuerst nach links ab und warf den Rucksack auf das Bett in meinem alten Kinderzimmer. Dann atmete ich tief durch und folgte dem Flur in die entgegengesetzte Richtung. Die angelehnte Tür quietschte ganz leise, als ich sie nach einem kurzen Klopfen aufdrückte und nach einem winzigen Zögern schließlich ganz eintrat.

  »Hey Mom …«

  Später am Abend schloss ich die Tür zu meinem Zimmer und lehnte mich dagegen. Es waren nur ein paar Stunden vergangen, trotzdem fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Keine Ahnung, wie Dad das Tag für Tag schaffte.

  Wahrscheinlich, weil er keine andere Wahl hat, während du jederzeit wieder abhauen kannst , meldete sich eine gehässige Stimme in meinem Kopf.

  Ich biss die Zähne zusammen und stieß mich von der Tür ab. Ich hasste mich ja selbst dafür, aber ich war schon jetzt erleichtert darüber, dass ich nur an manchen Tagen in der Woche hier sein und nicht die ganzen Semesterferien in diesem Haus verbringen würde. Auch wenn mich das zu einem schlechten Sohn machte. Aber länger hier zu sein und Mom so zu erleben … Nein, das konnte ich nicht. Ich konnte es einfach nicht.

  Ächzend zog ich mir das Shirt über den Kopf und warf es auf den alten Schreibtischstuhl. Als Nächstes folgten Schuhe und Jeans, dann ließ ich mich aufs Bett fallen. Jeder Muskel in meinem Körper tat weh. Mom hatte sich wieder aufgeregt und einen ihrer Anfälle gehabt, bei denen ich gezwungen war, sie festzuhalten, damit sie sich nicht selbst wehtat. Mittlerweile war sie eingeschlafen und Dad war wieder bei ihr. Und ich … ich war so verflucht erledigt, dass ich einfach nur die Augen schließen und alles vergessen wollte.

  Aber ich konnte nicht. Dafür kreisten meine Gedanken zu sehr. Um das, was war, aber vor allem um das, was bald sein könnte. Moms Zustand hatte sich verschlechtert. Sie sah schlimmer aus als bei meinem letzten Besuch, und ich erkannte kaum noch die Frau in ihr, die mich großgezogen hatte. Was irgendwie eine Ironie war, da sie mich, ihren einzigen Sohn, schon lange nicht mehr erkannte.

  Shit.

  Ich musste mich ablenken. Ich brauchte irgendetwas, das meinen Kopf beschäftigte, bis ich einschlafen konnte. Wie auf Autopilot holte ich den Laptop aus meinem Rucksack und klappte ihn auf. Kurz darauf klickte ich mich lustlos durch Netflix und YouTube. Nichts weckte mein Interesse und die E3 hatte noch nicht begonnen, sonst hätte ich den Livestream aus L. A. mitverfolgen können. Jedes Jahr wurden dort die neuesten Games und spannendsten News der Branche vorgestellt. Bis es wieder so weit war, dauerte es allerdings noch ein paar Tage, also musste ich an diesem Abend etwas anderes finden, das meine Gedanken auf Trab hielt und verhinderte, dass ich anfing, über Dinge nachzudenken, über die ich besser nicht nachdachte, weil ich mich damit nur selbst verrückt machte.

  Seufzend schob ich mir die Kissen zurecht und lehnte mich in meinem alten Bett zurück. Meine Füße hingen über das Ende, und ich fragte mich unwillkürlich, wie ich hier jemals reingepasst hatte. Lustlos klickte ich am Laptop weiter. Ich könnte die ganzen Mails beantworten, die in den letzten Stunden eingetroffen waren, aber dafür fehlte mir die Konzentration. Irgendwie landete ich auf Twitch und loggte mich über meinen Privataccount ein, um in Ruhe zuschauen zu können, ohne dass mich irgendjemand im Chat oder sogar der Streamer selbst erkannte. Ich wechselte von Fortnite zu GTA und anschließend zu Minecraft. Ein paar Leute streamten auch The Witcher, aber danach war mir gerade nicht zumute, also scrollte ich weiter, bis mein Blick auf einen Namen fiel, der mir bekannt vorkam. Ein Name, bei dem ich automatisch innehielt.

  TRGame.

  Ohne darüber nachzudenken, klickte ich darauf und fand mich im Livestream wieder. Durch meine eigenen Zuschauer hatte ich bereits erfahren, dass sich hinter dem Namen TRGame eine Frau verbarg, aber das war auch schon alles. Ich hatte nicht in ihren Channel reingeschaut und auch nicht in den sozialen Medien nach ihr gesucht. Auch nicht, nachdem wir eine Runde Dead by Daylight zusammen gespielt hatten. Umso überraschter war ich jetzt, das Gesicht hinter dem Namen zu sehen.

  Sie war hübsch. Das war das Erste, was mir auffiel. Das Zweite war, dass sie mächtig angepisst zu sein schien.

  »Stirb endlich!«, fauchte sie und zog die dunklen Brauen zusammen, bis sich zwei kleine Falten dazwischen bildeten.

  Jepp. Eindeutig angepisst.

  Sie hatte eine überraschend tiefe, fast schon rauchige Stimme, die perfekt zu ihrem Äußeren passte. Ihr Haar schien länger zu s
ein. So genau konnte ich das nicht beurteilen, da sie es zusammengebunden oder hochgesteckt trug, aber ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst. Strähnen, die dunkelbraun anfingen und auf Kinnhöhe in ein knalliges Lila übergingen. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein, vielleicht war sie sogar jünger. Ihre Augen waren eine faszinierende Mischung aus Braun und Grün und dunkel geschminkt, ansonsten schien sie nicht mal Lippenstift, Gloss oder sonst etwas von dem Zeug zu tragen, das meine Mitbewohnerinnen in unserem viel zu kleinen Bad bunkerten. Dazu ein schlichtes schwarzes Tanktop, ein paar Ketten und ein Headset, das ihrer knalligen Haarfarbe Konkurrenz machte.

  Attraktiv? Ja. Mein Typ? Keine Ahnung. Darüber dachte ich besser nicht nach, auch wenn ich bereits Callies neckende Stimme im Kopf hatte, die verkündete, dass jede Frau mein Typ wäre. Ich schnaubte. Diese Zeiten waren eindeutig vorbei.

  Ich löste den Blick von TRGame und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Spiel. Überrascht runzelte ich die Stirn. Ich hatte so etwas wie Guild Wars, Dead by Daylight oder ein anderes RPG oder Survival-Game erwartet. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die verpixelte Grafik von Tomb Raider II. Allerdings schien die vollbusige Lara Croft mit dem unbewegten, aufgemalten Gesicht bei den Leuten anzukommen, denn im Chat feuerten sie TR allesamt an, gaben Tipps und überlegten bei den Rätseln mit.

  »Okay, jetzt bloß nicht sterben«, murmelte TR, während sie Lara über in der Luft schwebende knallgrüne Plattformen laufen ließ.

  Sollten die Sträucher darstellen? Neongrüne Lava? Ich hatte keine Ahnung, aber irgendwie machte es Spaß, ihr dabei zuzusehen. Außerdem hatte TRs Stimme etwas seltsam Beruhigendes nach diesem langen Tag.

  »Nicht sterben! Nicht … FUCK! «

  Oh ja. Total beruhigend.

  In ihren Augen blitzte es vor Wut, und sie verzog die Lippen zu einer grimmigen Linie, während sie es noch mal versuchte. Grinsend machte ich es mir gemütlich und verfolgte das Spielgeschehen aus halb geschlossenen Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie mir ganz zufielen und ich nur noch der Stimme lauschte, die mich durch das letzte Level von Tomb Raider II führte, etwas mit dem Chat quatschte und anschließend mit Tomb Raider III begann.

  Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich mit einem Zucken wieder aufwachte, war es zwei Stunden später und TR verabschiedete sich gerade. Sie sah direkt in die Kamera und lächelte dabei, was ihre ganze angespannte Ausstrahlung mit einem Mal fortwischte und eine seltsame Wirkung auf mich hatte.

  »Gute Nacht und bis zum nächsten Mal!«

  Ich schluckte hart und setzte mich auf. Der Stream war offline, und ich sollte auch besser zusehen, dass ich noch etwas Schlaf abbekam. Aber statt den Laptop zuzuklappen und mich wieder hinzulegen, öffnete ich Discord und tippte eine Nachricht ein.

  Parker4G

  Netter Stream. Hätte nicht gedacht, dass die alten Tomb Raider Teile noch so spannend sein könnten

  TRGame

  Verfolgst du mich?

  Parker4G

  Nein, sollte ich? War nur ein ernst gemeintes Kompliment. Zwischen Kollegen und so …

  TRGame

  Wenn das so ist, dann musst du echt an deinen Komplimenten arbeiten

  Parker4G

  Bist du immer so angriffslustig?

  TRGame

  Bist du immer so heuchlerisch?

  Parker4G

  Wie kann es geheuchelt sein, wenn ich es ernst meine? Nimm das Kompliment einfach an, Frau!

  TRGame

  Oh, sorry. Hab ich etwa die zarten Gefühle des Gamingkönigs verletzt?

  Parker4G

  Welche Gefühle?

  TRGame

  Gute Antwort. Sehr gute Antwort.

  Parker4G

  Parker4G

  Das zuzugeben, hat bestimmt wehgetan, oder?

  TRGame

  Nur ein bisschen …

  Parker4G

  Hey, eigentlich müsste ICH sauer auf DICH sein nach der Aktion in Guild Wars, nicht andersrum!

  TRGame

  Ich bin nicht sauer. Und du hast gar keinen Grund dazu. Du hast es einfach verkackt

  Parker4G

  ICH hab es verkackt??

  TRGame

  So ziemlich. Vor jeder Menge Zuschauern. Wie viele waren es doch gleich in deinem Stream?

  Parker4G

  Um die 70 000 … vielleicht auch mehr …

  TRGame

  Wirst du dich je wieder trauen, Guild Wars zu spielen? Oder kannst du dich dort nie wieder blicken lassen?

  Parker4G

  Ich kann und ich werde, wart’s nur ab. Meine Norn ist ehrenvoll im Kampf gestorben!

  TRGame

  Ja, ungefähr 10x nacheinander. Mein Lama hatte schon Schmerzen in den Hufen vom ganzen Herumgetanze auf deiner Leiche

  Parker4G

  Na ja, wenigstens hing ich bei DbD nicht als Erste am Haken …

  TRGame

  Wie bitte?! Das war ja wohl NICHT meine Schuld!

  Parker4G

  Nee, schon klar … das behaupten sie alle

  TRGame

  Ich behaupte es nicht, ich weiß es!

  Parker4G

  Mhmm …

  TRGame

  Hey! Ich muss dir gar nichts beweisen. Ich kenne dich nicht mal!

  Parker4G

  Absolut richtig

  TRGame

  Ich weiß, dass ich gut bin, und meine Zuschauer wissen das auch

  Parker4G

  Wenn du das sagst …

  TRGame

  Verdammt!

  TRGame

  Schalt DbD ein! Jetzt!

  Parker4G

  Ganz wie die Lady wünscht

  Level 4

  Teagan

  Ich war total übermüdet – und das war ganz allein meine Schuld. Na ja, und die von Parker. Genau genommen war es allein seine Schuld, weil er mich herausgefordert hatte und wir die halbe Nacht Dead by Daylight gespielt hatten. In der ersten Runde waren wir beide ziemlich schnell gestorben. In der zweiten hatte ich ihn vom Haken gerettet, woraufhin er auf einer Revanche bestand, aber in Runde Nummer drei hatte der Killer uns beide direkt am Anfang getötet, weil er uns zusammen an einem Generator erwischt hatte. Bei Runde Nummer vier hatten wir ewig auf weitere Mitspieler warten müssen und vor lauter Langeweile angefangen, uns alberne Emojis und Lamabilder zu schicken. Im Anschluss daran hatten wir noch Guild Wars gezockt. Und ehe ich mich versah, war es vier Uhr morgens, und mein Wecker würde in zwei Stunden klingeln.

  Was er leider auch pünktlich tat. Grummelnd tastete ich nach meinem Handy, um den nervigen Alarm auszuschalten – und fand nichts auf dem Nachttisch. Ich richtete mich auf den Ellbogen auf und sah mich aus zusammengekniffenen Augen um. Ugh. Jeder Muskel in meinem Körper schrie nach Schlaf, und ich bekam die Lider kaum auf. Aber mein Vergangenheits-Ich war um vier Uhr morgens clever genug gewesen, das Handy so weit entfernt vom Bett hinzulegen wie möglich, was mein Gegenwarts-Ich dazu zwang, jetzt aufzustehen.

  Draußen war es schon hell, was es mir wenigstens ein bisschen leichter machte, richtig wach zu werden. Trotzdem wünschte ich mir, heute wäre nicht Freitag und damit kein Schultag. Argh. Wieso hatte ich gestern Abend nach dem Stream auch noch unbedingt zocken müssen? Ach ja. Weil Parker mich herausgefordert hatte.

  Allein bei der Erinnerung daran musste ich den Kopf schütteln. Ich ging neben der Tür in die Hocke, hob mein Smartphone auf und schaltete den Alarm aus. Wie kam es, dass mich einer der berühmtesten Gamer des ganzen Landes kannte? Das war total absurd. Außerdem dachte ich besser nicht allzu genau darüber nach, wie viele Zuschauer und Fans Parker hatte, wie groß seine Reichweite war und dass er wahrscheinlich genug Geld verdiente, um in einem riesigen Haus mit Pool und eigenem Kinosaal zu leben.

  Ich schnaubte leise. Wenigstens schien er nicht abgehoben zu sein – wenn man mal von seiner Arroganz absah, was Spiele betraf. Allerdings hatte es durchaus Spaß gemacht, mit ihm zusammen zu zocken.

  Mit noch halb geschlossenen Augen schleppte ich mich ins Bad und schaffte es irgendwie, zu duschen, mich anzuziehen und anschließend sogar zu schminken, ohne mir Kajal, ­Augenbrauenstif
t oder Mascara aus Versehen in die Pupille zu jagen. Wirklich wacher machte mich das allerdings nicht. Da half nur noch Koffein. Eine Menge davon. Und vielleicht sollte ich mir auch gleich ein oder zwei – oder zehn – Dosen ­Energydrinks einpacken, da mir wieder mal ein langer Tag bevorstand.

  Lustlos schlurfte ich die Treppe hinunter, erleichtert darüber, dass ich meine Tasche schon gestern Abend vor dem Livestream sortiert und damit alles eingepackt hatte, was ich für diesen Schultag benötigte.

  »Guten Morgen, Teagan.« Dad stand an der Kochinsel und sah mich über den Rand seiner Kaffeetasse an.

  Ich kam zu einem abrupten Halt und blinzelte mehrmals, doch das Bild vor meinen Augen blieb dasselbe. Litt ich unter Halluzinationen aufgrund von Schlafmangel? Aber nein, mein Vater war wirklich in unserer Küche und stellte gerade eine zweite Tasse in den Vollautomaten.

  »Schwarz, richtig?«

  »Mit drei Löffeln Zucker«, antwortete ich mechanisch und starrte auf seinen breiten Rücken.

  Wie immer trug er einen maßgeschneiderten Anzug und hatte sich das dunkelbraune Haar, in dem keine einzige graue Strähne zu sehen war, zurückgekämmt. Ein frischer, würziger Duft hing in der Luft. Also war Dad offenbar nicht gerade eben aus dem Büro gekommen, sondern hatte hier geduscht und vielleicht sogar hier geschlafen.

  Oh verdammt. Ob er mich letzte Nacht gehört hatte? Ich war nicht gerade leise gewesen, wann immer ich Parker, den Killer oder andere Mitspieler verflucht hatte. Andererseits waren die Wände in diesem Haus dick, und mein Zimmer lag weit genug vom Elternschlafzimmer entfernt. Vom Elternschlafzimmer . Richtig. Ich schnaubte innerlich, da Dad schon seit drei Jahren allein dort übernachtete. Wenn er überhaupt mal da war.

  Das letzte Mal, dass ich meinen Vater morgens vor der Schule in der Küche angetroffen hatte, war … keine Ahnung. Es war so lange her, dass ich mich nicht mal mehr richtig daran erinnern konnte, weil dieser Mann praktisch in seiner Firma wohnte. Was diesen Morgen nur noch seltsamer machte.

  »Guten Morgen«, trällerte Susanna, die mit ein paar Zwiebeln und einer Packung frischer Milch aus der Vorratskammer neben der Küche kam. Im Gegensatz zu mir schien sie überhaupt nicht überrascht zu sein, meinen Vater hier anzutreffen, also wusste sie Bescheid oder hatte bereits mit ihm ge­sprochen.

 

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