Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 26

by Kiefer, Lena


  »Cas? Was meinst du?«, fragte Lucien.

  Dufort schaute seinen Freund – und König – bedauernd an. »Für dieses Problem gibt es keine saubere Lösung. Wenn wir angreifen, lieferst du den Menschen den Beweis, dass die OmnI recht hat. Wenn wir nicht angreifen, bekommt sie Zugriff auf Ressourcen, die sie nicht bekommen darf. Egal, was wir tun, es spielt ihr in die Hände.« Exakt das, was ich angesichts des Aufrufs selbst gedacht hatte. Dass Dufort es auch so sah, war allerdings keine Erleichterung. Eher im Gegenteil.

  Lucien stand auf. »Versuchen Sie bitte trotz der Massen eine Räumung«, sagte er zu Travere und schien in seine Rolle zurückzufinden. »Zumindest an den Zugangspunkten, damit man sie lokal begrenzt zerstören kann. Das verschafft uns immerhin etwas Zeit. Ich erwarte von jedem von Ihnen Vorschläge, wie sich dieses Problem in den Griff bekommen lässt, ohne dass dabei Zivilisten zu Tode kommen. Inklusive der zu erwartenden Erfolgsquote und des materiellen Schadens, der entsteht. Wir sehen uns in einer halben Stunde wieder.« Damit ging er zur Tür. Ich erhob mich von meinem Besucherplatz und wollte ihm nachgehen. Imogen hielt mich zurück.

  »Habt ihr im Norden irgendetwas Hilfreiches gefunden?«, fragte sie mich.

  »Für diese Situation? Nein.« Ich wollte in diesem Moment nicht erzählen, dass es offenbar noch einen Mitspieler auf dem Feld gab. Imogen hatte auch so genug Sorgen.

  »Aber?« Ihr forschender Blick hielt mich fest.

  »Können wir später darüber reden? Das kann ich nicht in drei Sätzen erklären und außerdem sollte ich …« Ich zeigte zur Tür, hinter der Lucien verschwunden war.

  »Ja, du hast recht«, seufzte sie. »Geh und sieh nach ihm.«

  Es war nicht schwer, Lucien zu finden – erstens konnte er nicht besonders weit fliehen und zweitens kannte ich den Ort, an den er sich verzog, wenn ihm alles zu viel wurde. Ich war dort noch nie gewesen, aber ich wusste, wie man hinkam.

  Auf dem Weg in den obersten Stock machte ich kurz halt in Luciens Räumen, dann war ich auch schon an der Treppe, die direkt auf das Dach führte. Der Zugang war gesichert, aber mein WrInk öffnete ihn ohne Probleme. Ich lief hinauf, betrat die kleine Plattform am höchsten Punkt des Glasbaus …

  … und fand mich eine Sekunde später in einer Umarmung wieder. Sie war so fest, dass ich kaum atmen konnte. Für einen Moment schlang ich meine Arme um Lucien, aber als ich spürte, wie eiskalt der dünne Stoff seines Pullovers unter meinen Händen war, machte ich mich sanft los.

  »Hier.« Ich legte ihm die mitgebrachte Jacke um seine Schultern. Lucien lehnte seine Stirn an meine.

  »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Stunt-Girl«, sagte er verzweifelt. »Ich kann diese Leute nicht töten lassen. Nicht nur, weil ich keine Unschuldigen umbringen will. Sondern auch, weil die OmnI nicht gewinnen darf.«

  »Ich weiß.« Aber eine Lösung hatte ich trotzdem nicht. Ich dachte daran, wieder eine meiner Kapseln zu nehmen, um mehr Möglichkeiten abwägen zu können, aber dann kam mir ein Gedanke. Er schlich heran wie eine Katze, die einem plötzlich auf den Schoß springt, sich dort zusammenrollt und schnurrt, als wäre sie schon immer da gewesen. Wieso hatten wir nicht viel eher daran gedacht?

  »Was ist?« Lucien sah mich an. Er kannte mich so gut, er wusste sofort, dass mir eine Idee gekommen war.

  »Du …«, begann ich, brach dann aber ab. »Es gäbe vielleicht einen Weg, wie wir wieder die Oberhand gewinnen«, versuchte ich es neu. »Aber der wird dir nicht gefallen.«

  »Raus damit. Noch schlechter als der von Travere kann er mir nicht gefallen.«

  Ich atmete tief ein. »Du könntest den Leuten sagen, warum es die Abkehr gibt. Warum es sie wirklich gibt.«

  »Du meinst, ich soll …« Luciens Atem produzierte kleine Wölkchen in der Luft.

  »Den PointOut öffentlich machen.« Ich nickte.

  Er reagierte genau so, wie ich es erwartet hatte: mit heftigem Kopfschütteln. »Auf keinen Fall. Es ist nicht so, dass ich nie darüber nachgedacht hätte, aber das kann ich nicht machen. Leo hatte sehr gute Gründe, den PointOut für sich zu behalten, und er war wesentlich klüger als ich. Wenn ich das jetzt öffentlich mache … dann würde ich ihn verraten. Das wäre ein offenes Eingeständnis, dass ich seinen Entscheidungen nicht vertraue und er einen Fehler gemacht hat.«

  »Das ist nicht wahr«, widersprach ich. »Die Dinge haben sich geändert. Der Grund für deinen Bruder, nichts vom PointOut zu sagen, war vor allem Costard. Er sollte keine Gelegenheit bekommen, aus dem Nichts aufzutauchen, sich als Heilsbringer aufzuspielen und die Abkehr infrage zu stellen.«

  Lucien sah mich an. »Und was hat sich daran geändert? Ja, er sendet diese Mitteilungen und verunsichert die Menschen. Aber Costard hat sich noch nicht öffentlich zu ReVerse bekannt und auch die OmnI wurde in den Mitteilungen mit keinem Wort erwähnt.«

  »Natürlich nicht«, schnaubte ich. »Sie wollen im Schatten bleiben, bis es zu spät ist. Oder was glaubst du, warum Costard noch nicht offengelegt hat, wer eigentlich die Macht übernehmen soll? Er hat Sorge, dass die Leute Angst bekommen, wenn er ihnen die OmnI präsentiert. Deswegen ist das unsere Gelegenheit, den Spieß umdrehen und sie ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu treiben. Wir kommen ihnen einfach zuvor!« Meine Hände zitterten, so genau wusste ich, dass es die richtige Strategie war. Es schien Jahre her zu sein, dass ich mit Leopold darüber gesprochen hatte, warum er nicht von Anfang an ehrlich zu den Menschen gewesen war. Schon damals hatte ich nicht verstanden, warum er vor Leuten wie Costard kuschte. Aber nun gab es keinen Grund mehr dafür.

  »Wenn wir jetzt damit herausrücken, dann geht die Propaganda erst richtig los. Er hat sogar Zugriff auf die Pads!« Luciens Hand krampfte sich um die Brüstung der Plattform. »Wenn wir über den PointOut reden, können sie ihn als Lüge bezeichnen. Ihn vielleicht sogar zum erstrebenswerten Ziel aufblasen, wenn sie es geschickt anstellen. Die OmnI ist uns meilenweit voraus!«

  »Was politische Strategien angeht, ist sie das«, gab ich zu. »Aber nicht, wenn es um Gefühle geht. Oder um Menschlichkeit.«

  »Aber genau das hat sie doch gemacht – die Leute bei ihren Gefühlen gepackt und ihnen verkauft, Leopold und ich würden sie um ihre Freiheit bringen.«

  Ich winkte ab. »Ach, das sind doch nur Blendgranaten. Sie hat Leopold in Verruf gebracht, deine Familie und dann dich. Das ist billige Propaganda, Psychokrieg für Anfänger. Machen wir einen für Fortgeschrittene daraus. Liefern wir den Leuten Gründe, den Worten der OmnI zu misstrauen, liefern wir ihnen handfeste Beweise! Beweise, die auch den letzten Zweifler von der Wahrheit überzeugen.« Ich sah ihn an. »Wenn ich vom PointOut gewusst hätte, dann wäre ich niemals zu ReVerse gegangen und hätte Leopold nie gehasst. Warum soll es anderen Leuten nicht genauso gehen?«

  Luciens Gesicht verzog sich zu einem nachdenklichen Ausdruck, und ich wusste, langsam drangen meine Argumente zu ihm durch.

  »Du willst ihnen zeigen, was sie erwartet, wenn sie sich nicht gegen die OmnI stellen?«

  Ich nickte erneut.

  »Wie soll das funktionieren? Wir haben die Schakalberichte, aber die könnten auch gefälscht sein. Wer glaubt schon Geheimagenten?« Ich antwortete nicht, aber er schien mir die Gedanken vom Gesicht abzulesen. »Du meinst … ich soll ihnen von meinen Eltern erzählen?« Er sagte es ganz leise.

  »Es ist deine Entscheidung«, sagte ich sanft. Es war unendlich viel verlangt, der ganzen Welt vom tragischen Tod seiner Eltern zu berichten, mit all den grausamen Details, die ich im letzten Herbst in Costards Dateien entdeckt hatte: in den Totenscheinen, den Berichten über ihre Verletzungen – und seine eigenen. Luciens Leben, sein Überleben war so eng an das Sterben seiner Eltern geknüpft, dass es sich davon nicht trennen ließ. Sollte er sich für diesen Schritt entscheiden, würde er sich der schlimmsten Zeit seines Lebens stellen müssen. Ich hielt die Luft an. Dass der Weg, die OmnI in Schach zu halten, über diese Klippe führte, war nicht fair. Aber Fairness war kein Freund des Schicksals. Und manchmal begegneten sie sich eine ganze Weile überhaupt nicht. So wie jetzt.

  Innerhalb einer
Sekunde huschte ein ganzes Sammelsurium an Gefühlen über Luciens Gesicht: Entsetzen, Liebe, Trauer, Wut, Hilflosigkeit. Ich sagte nichts, sondern schlang meine Arme um ihn, um zu verhindern, dass er in diesen Gefühlen ertrank. »Du bist nicht allein«, flüsterte ich. »Du hast sie verloren, aber du bist nicht allein. Vergiss das nicht.«

  Meine Umarmung wurde fester, als könnte ich ihn auf diese Weise beschützen, auch wenn das ein Trugschluss war. Eine ganze Weile standen wir nur so still da, dann löste Lucien sich von mir. Als er etwas sagte, sah er dabei auf die Stadt zu unseren Füßen, die noch in völliger Dunkelheit lag.

  »Du weißt, dass es eine offene Kriegserklärung sein wird? Eine, die wir nicht zurücknehmen können? Wenn wir diese Tür aufbrechen, dann feuert die OmnI zurück mit allem, was sie hat.«

  »Soll sie doch.« Ich fühlte mich gerade sehr kampfeslustig. »Bis zu dieser Verleumdungskampagne hat sie es nicht geschafft, uns in die Knie zu zwingen. Wenn wir die Leute wieder auf unsere Seite bringen, kann sie versuchen, MerchPoints in Betrieb zu nehmen, bis sie alt und grau ist.«

  Lucien küsste mich und grinste dann schief. »Dagegen wird Amber Island wie ein Wochenendtrip wirken, das ist dir hoffentlich klar.«

  Ich musste lachen. »Nichts auf dieser Welt kann schlimmer sein als Amber Island.« Schließlich hatte ich ihn dort fast verloren. Auf mehr als eine Art.

  Er sah mich an. »Du glaubst, es ist die richtige Strategie?«

  »Ja, das glaube ich. Aber was denkst du? Was sagt die berühmte Intuition des Lucien de Marais?«

  Er holte so tief Luft, als hätte er noch nie richtig geatmet. »Dass du recht hast. Ich habe Angst davor, aber ich will nicht länger über die Stöckchen springen, die mir die OmnI hinhält. Es wird Zeit, dass wir etwas tun, statt nur zu reagieren.«

  Ich lächelte und strich ihm liebevoll über die Wange. »Gesprochen wie ein wahrer König.«

  Lucien hielt meine Hand fest und sah mich mit dieser Offenheit an, die mich schon lange nicht mehr erschreckte. »Danke, Stunt-Girl. Danke, dass du da bist.«

  »Wo sollte ich sonst sein wollen?«, fragte ich leise. Und plötzlich war da nur noch Wahrheit und Klarheit und bedingungslose Liebe. Wir taten nichts, wir sagten nichts, wir sahen einander nur an. Aber trotzdem wussten wir in diesem Augenblick, dass es nie etwas geben würde, das dieses Gefühl zwischen uns ernsthaft beschädigen konnte.

  Nichts außer dem Tod.

  Das Militär sorgte mit tatkräftiger Unterstützung der Schakale dafür, dass drei strategisch wichtige Zugangspunkte am Pariser RTC von Demonstranten geräumt wurden. Ihr unermüdlicher Einsatz verschaffte uns etwas Zeit, um alles Weitere vorzubereiten.

  Luciens Räume waren an diesem Nachmittag das neue Lagezentrum. Die Sonne schien durch die riesigen Fenster und wärmte meinen Nacken. Ich wagte es, das für ein gutes Zeichen zu halten, denn wir hatten seit Wochen keinen richtig hellen Tag mehr gehabt. Imogen und Dufort saßen auf dem Sofa neben mir, Lucien hatte den Sessel in Beschlag genommen. Travere war nicht da, ebenso wenig wie Paulsen oder Saric. Da waren nur wir, der engste Kreis der Vertrauten. Okay, und Adrian Deverose, den man aus naheliegenden Gründen nicht außen vor lassen konnte.

  »Was sollen wir schreiben?«, fragte der Kommunikationschef, ein Pad vor sich, und schaute Lucien an. Wir hatten ihn wie die anderen beiden gerade in den Plan eingeweiht, dass Lucien den PointOut öffentlich machen wollte. »Ich möchte mir ein paar Notizen machen, was den richtigen Tonfall angeht. Auf keinen Fall sollten wir zu drastisch werden oder gar feindselig, sondern eher –«

  »Moment, Adrian«, unterbrach Lucien seinen Redeschwall. »Es geht nicht um eine einfache schriftliche Verlautbarung.«

  »Geht es nicht?« Überrascht sah Deverose auf und ich tat es ebenfalls.

  »Nein. Ich möchte nicht das gleiche Medium nutzen, das auch die OmnI verwendet, um mich und meine Familie in den Dreck zu ziehen. Außerdem ist eine Verlautbarung immer etwas … unpersönlich und distanziert.«

  Wenn Deverose beleidigt darüber war, dass man seine Arbeit so umschrieb, ließ er das jedenfalls nicht erkennen. »Was schwebt Ihnen denn dann vor?«

  Lucien beugte sich auf seinem Sessel nach vorn. »Ich will öffentlich auftreten. Den Menschen ins Gesicht sehen, wenn ich zu ihnen spreche, sie an mich heranlassen. Das wird seine Wirkung auch bei denen nicht verfehlen, die der Übertragung auf ihren Pads und Screens in den größeren Städten folgen.«

  Seine Worte waren wie eine Bombe, die mitten im Raum hochging.

  »Auf keinen Fall!«, rief Imogen.

  »Bist du noch ganz dicht?« Dufort.

  »Das ist viel zu gefährlich!«

  »Mal dir doch gleich ein Fadenkreuz auf die Stirn und schick Costard eine Einladung!«

  Die Abwehr gegen diesen Vorschlag schoss kreuz und quer durch den Raum, aber Lucien achtete nicht darauf, sondern sah nur mich an. Und obwohl ich wusste, dass die anderen recht hatten, lächelte ich, nachdem der erste Schreck verklungen war. Weil es eine geniale Idee war. Verrückt wie Lucien selbst. Extrem und riskant. Aber vor allem genial.

  Kaum hatte ich ihm die stumme Bestätigung gegeben, wie gut ich diesen Plan fand, hob Lucien seine Hände in Richtung der anderen drei. »Regt euch ab, bitte. Ich weiß, dass es gefährlich ist. Ich weiß auch, die OmnI wird das nutzen und so weiter. Aber Fakt ist, nur so kann ich die Leute dazu bringen, uns zu vertrauen. Mir zu vertrauen.«

  Dufort ließ ein Schnauben hören. »Ja, sicher. Die Frage ist, wie du jemanden dazu bringen willst, dir zu vertrauen, wenn man dich innerhalb von drei Sekunden erschießt. Wir haben nicht mehr die Technik wie früher, um dich zu schützen.«

  »Drei Sekunden? Ich hatte auf etwas mehr gehofft. Schließlich habe ich doch so wundervolle Schakalkollegen, die meinen Tod sicher zu verhindern wissen.« Lucien lächelte seinen Freund liebenswürdig an, und ich bekam nun doch Angst. Natürlich konnte man den Ort dieses öffentlichen Auftritts so gut wie möglich absichern, aber eine hundertprozentige Garantie gab es nicht. Was, wenn das nach hinten losging? Wenn es mit einem Blutbad endete und nicht mit der Unterstützung, die wir uns erhofften?

  »Wo wollen Sie es machen?« Adrian Deverose sagte es, als ahnte er schon, dass Lucien sich Gedanken dazu gemacht hatte.

  »In Brighton. Auf dem Pier.«

  »Na großartig, direkt am Wasser«, murrte Dufort. »Das war bei Leopold in der Villa Mare ja schon so eine tolle Idee.«

  Ich hörte es kaum. »Warum in Brighton?«, fragte ich. Wieso wollte er ausgerechnet in meiner Stadt vor den Menschen sprechen?

  »Weil ich möchte, dass du dabei bist«, antwortete er.

  »Klar bin ich dabei, ich muss schließlich auf dich aufpassen. Aber deswegen müssen wir doch nicht nach Brighton gehen. Nimm lieber London, Berlin oder Paris. Irgendetwas Großes, Geschichtsträchtiges.«

  »Nein, das wäre nicht so gut wie Brighton.« Er sah mich an, und da war ein Funkeln in seinen Augen, das ich sehr gut kannte. »Denn du sollst nicht dabei sein, um auf mich aufzupassen.«

  »Warum dann?« Ratlos schaute ich ihn an.

  »Ich will, dass du den Leuten deine Geschichte erzählst.«

  26

  »Meine … Geschichte?«, quetschte ich hervor. »Was meinst du damit?«

  »Wie brillant!« Deverose klatschte in die Hände. Offenbar hatte er es eher kapiert als ich. »Sie sind das perfekte Beispiel, Ophelia. Das wütende Mädchen aus dem Widerstand, das den König hasste und als Verräterin in diese Stadt kam, um am Ende von der Wahrheit geläutert zu werden und sich der guten Seite zuzuwenden. Solche Geschichten schreibt nur das Leben!«

  Ich sah Lucien an. »Ist das dein Ernst?« Noch wusste ich nicht, was ich von dieser Idee halten sollte. Er hatte mich damit völlig überrollt.

  »Überleg doch mal«, sagte er. »Wenn ich mich dort hinstelle und über meinen Bruder und die Gründe für die Abkehr spreche, wird das bestimmt viele überzeugen. Aber ich bin immer noch der Sohn einer einflussreichen Familie, deren Unternehmen zu den Big Ten gehört hat. Und es wird Zuhörer
geben, die privilegierte Menschen hassen und sich deswegen von meinen Argumenten nicht überzeugen lassen – oder die längst auf der Seite des Widerstands sind und mich für einen Lügner halten. Wenn aber du als ehemalige ReVerse-Anhängerin und Feindin von Leopold ihnen sagst, dass du deinen Irrtum erkannt hast, dann … dann könnten wir tatsächlich gewinnen.« Er lächelte mich warm an.

  Ich schämte mich ein bisschen, dass ich davor zurückschreckte. Da hatte ich heute Nacht auf dem Dach gestanden, Lucien in diese Nummer reingequatscht und ihm gesagt, er solle die Geheimnisse seiner Familie preisgeben – und nun scheute ich mich davor, das Gleiche zu tun. Ich hatte zwar schon immer für meine Ideale gekämpft, auch wenn es manchmal die falschen gewesen waren. Aber das hier, das kam mir so groß vor, so bedeutend. Zu bedeutend für jemanden wie mich.

  »Was, wenn ich es versaue?«, fragte ich. »Wenn ich vor diesen Leuten stehe und kein Wort rauskriege?« Dann würde ich mehr schaden als nützen.

  Dufort lachte. »Ophelia Scale hat Lampenfieber? Das glaube ich jetzt nicht. Du bist mutterseelenallein in diese Stadt gekommen, um ein Schakal zu werden und Leopold zu töten. Du hast dich bei ReVerse auf der Insel eingeschleust und gegen die OmnI gestellt. Und jetzt hast du Angst vor einem öffentlichen Auftritt?«

  Ich sah ihn peinlich berührt an. »Das ist doch etwas vollkommen anderes. Ich bin niemand für die erste Reihe, ich kann so etwas nicht.«

  »Du kannst Menschen dazu bringen, dir zu glauben«, sagte Lucien. »So wie du heute Nacht mich davon überzeugt hast, dass es die richtige Strategie ist, den Leuten vom PointOut zu erzählen.« Er lehnte sich zu mir. »Aber du entscheidest, ob du es machen willst. Ich werde dich nicht dazu überreden.«

  Ich rieb mit dem Daumen über die Innenfläche meiner anderen Hand. »Und wer würde mir sagen, was ich dort erzählen soll?«

  »Ich könnte Ihnen eine Rede schreiben«, bot Deverose an. »Wir würden darüber reden, wie Sie sich in dieser Zeit gefühlt und was Sie gedacht haben – und ich bringe es in eine Form, die von den Menschen verstanden wird.«

 

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