Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 28

by Kiefer, Lena


  Dass der König selbst zu ihnen sprechen würde, damit hatte wohl niemand gerechnet. Denn als Lucien das Podium hinter Imogen betrat, ging ein heftiger Ruck durch die Menge. Einige klatschten und jubelten ihm zu, aber es waren erschreckend wenige. Die meisten tuschelten und raunten, manche riefen sogar Beschimpfungen, als Imogen ans Mikrofon trat. Lucien und ich wechselten einen Blick und dachten das Gleiche: Es war höchste Zeit, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen.

  Imogen sprach ein paar allgemeine Worte, bevor sie ohne große Umschweife Lucien vorstellte und ihm das Mikro überließ. Ich trat ein paar Schritte nach vorne und beobachtete die Menge. Nicht nur, weil ich wissen wollte, ob mir einer der Leute da unten gefährlich vorkam. Sondern vor allem, um zu sehen, wen ich kannte.

  Ich entdeckte ein paar unserer Schakale, obwohl das wohl niemand sonst tat, und einige Nachbarn von früher, dazu Leute aus der Schule. Und dann sah ich sie: Mein Vater stand mit Eneas und Lexie direkt neben dem stillgelegten Kettenkarussell. Ich hatte Angst vor der Begegnung gehabt, aber als ich sie ansah, wusste ich, dass es Unsinn gewesen war. Alle drei schauten mich lächelnd an und ich spürte, wie froh sie waren, mich zu sehen. Nur zu gerne hätte ich mit ihnen geredet, aber das ging jetzt nicht. Hoffentlich hatte ich später die Gelegenheit und Duforts Sicherheitskonzept ließ Spielraum dafür. Wenn bis dahin alles glattlief.

  »Es war nicht geplant, dass ich hier heute vor euch stehe«, begann Lucien seine Rede und holte damit meine Aufmerksamkeit zurück. »Eigentlich war es nicht einmal geplant, dass ich überhaupt König werde. Denn ich konnte nicht damit rechnen, dass mein Bruder mit nur 38 Jahren sterben würde.«

  »Das hatte er verdient!«, rief jemand.

  »Er soll in der Hölle schmoren!«, jemand anders.

  Wut keimte in mir auf, Wut über diese Ignoranz der Leute, die keine Ahnung vom großen Ganzen hatten. Die Lucien nicht einmal anhören wollten! Du warst früher auch nicht anders, sagte ein Stimmchen leise. Aber es brachte meine Wut nicht zum Schweigen.

  »In der Hölle also, ja?«, griff Lucien den Zwischenruf auf. »Wisst ihr, ich sollte das vermutlich nicht laut sagen, aber«, er hob die Schultern, »ich kann euch verstehen. Niemand hat gefragt, ob ihr die Abkehr wollt. Niemand ist an eure Tür gekommen und hat euch vor die Wahl gestellt: Wollt ihr mit Technologie leben oder ohne? Was diese Hetznachrichten der letzten Wochen behaupten, stimmt – man hat euch das alles weggenommen. Aber es gab einen Grund dafür.«

  Der Rufer blieb nun stumm, ebenso wie die anderen. Alle hörten gespannt zu oder zumindest aufmerksam oder skeptisch. Aber sie hörten zu. Luciens Mitgefühl hatte der Wut den Wind aus den Segeln genommen.

  »Genau genommen gab es mehrere Gründe. Der eine ist euch bekannt. Dass immer weniger Menschlichkeit herrschte und immer mehr Egoismus, Isolation und Feindseligkeit um sich griffen. Ihr kennt die Verlautbarungen dazu, die Broschüren und Flyer. Das ist allerdings nicht alles.« Lucien machte eine Pause, und ich sah, wie die Leute sich fragende Blicke zuwarfen. »Ich weiß nicht, wem hier der Begriff des PointOut etwas sagt. Deswegen erkläre ich es mal so, wie mein Bruder es mir erklärt hat, als ich ein Teenager war und schmerzlich begreifen musste, dass mein Leben, wie ich es kannte, vorbei war.« Dass dieser Satz doppeldeutig war, wussten nur die Leute, die mit Lucien auf dem Podium standen. Ich verknotete meine Hände hinter dem Rücken und betete dafür, dass seine Ansprache ihr Ziel erreichen würde.

  »Stellt euch vor, ihr habt ein Haus. Ein hübsches Haus, in dem eure Familie lebt, eure Kinder – und eine Maus.«

  Ich hörte einige Lacher. Das war gut. Man lachte nicht über jemanden, den man hasste.

  »Also, es gibt da diese Maus. Sie hat sich ein Zuhause auf dem Speicher eures Hauses gesucht, und ab und zu saust sie nachts hinunter in die Speisekammer, um ein bisschen was zu fressen. Das geht eine Weile für sie gut – bis ihr der Maus auf die Schliche kommt. Ihr seid natürlich nicht begeistert, dass sie in eurer Speisekammer wildert, also wollt ihr sie loswerden. Und das ist gar nicht so schwer. Da ihr der Maus in Sachen Intelligenz haushoch überlegen seid, fallen euch sofort zehn verschiedene Methoden ein, wie ihr sie überlisten und töten könnt. Wenn ich jetzt hier in der Menge fragen würde, dann bekäme ich sicher ein paar hilfreiche Tipps für die Jagd nach dieser Maus, oder nicht?« Wieder reagierte das Publikum und nickte, manche eifriger, andere weniger. »Sehr gut«, lobte Lucien. »Also probiert ihr ein paar dieser Ideen aus und früher oder später erwischt ihr die Maus und entfernt sie aus dem Haus. Ein Sieg, oder nicht? Der Stärkere, der Klügere hat triumphiert. Das ist ein tolles Gefühl. Zumindest, wenn ihr derjenige mit dem Haus seid. Aber das seid ihr nicht, wenn der PointOut kommt.« Er machte eine Pause. Ich wartete auf den finalen Schlag.

  Lucien holte Luft.

  »Wenn der PointOut kommt, dann seid ihr die Maus.«

  27

  Stille.

  Aber es war nicht die Sorte von Stille, die man von einem leeren Raum kennt. Diese Stille wirkte, als hätte jemand den Pausenknopf gedrückt und die ganze Szene eingefroren – die Menschen auf dem Pier, den Wind, das Rauschen der Wellen, uns auf dem Podium. Es hielt einige Augenblicke, und Lucien ließ wirken, was er gerade gesagt hatte. Dann sprach er weiter.

  »Genau wie euch ging es mir auch, als mein Bruder mir die Geschichte von der Maus erzählt hat. Der PointOut war bis dahin für mich nichts weiter als ein Mythos, eine hypothetische Gefahr.«

  Ich schaute zu meiner Familie. Eneas sah genauso geschockt aus wie alle anderen, auch Lexie stand der Mund offen. Nur mein Vater hatte ein Lächeln auf den Lippen, kein wissendes, eher ein erleichtertes. Ich spürte, wie ich mitlächeln musste. Denn in diesem Moment wussten wir beide, dass die Mauer, die seit Jahren zwischen uns gestanden hatte, Geschichte war. Er hatte nicht aufgegeben, sondern dem König vertraut. Etwas, das mir nicht möglich gewesen war.

  Lucien erzählte nun von Leopolds Überlegungen, ob sich der PointOut aufhalten ließe – und wie er sehr schweren Herzens die Entscheidung getroffen hatte, den Einsatz weiterentwickelter Technologie zu verbieten. Und mit jedem weiteren Wort, mit jedem weiteren Satz gewann er die Leute für sich. Genau, wie er mit seiner klaren, offenen Art mein Herz erobert hatte, eroberte er nun sie. Nicht alle, das war auch nicht zu erwarten gewesen. Aber die meisten. Ich konnte erkennen, wie die Züge der Zuhörer weicher wurden, wie sich ihre Augen vor Staunen weiteten, wie sie einander ungläubig ansahen. Nur war er noch nicht am Ende angekommen. Er erreichte erst jetzt den wichtigsten Punkt seiner Rede.

  »Manche von euch werden sich fragen, wie Leopold überhaupt auf die Idee kam, der PointOut stünde kurz bevor. Schließlich hatten viele renommierte Wissenschaftler zu jener Zeit künstliche Intelligenz als ungefährlich eingestuft, als etwas, das die Menschheit weiterbringen würde. Auch mein Vater dachte das, als er in unser Haus eine KI einbaute, einen Prototyp des Systems, das Exon Costard später unter dem Namen Omnificial Intelligence auf den Markt bringen wollte.«

  Die Menge geriet in Bewegung, tuschelte. Exon Costard war natürlich jedem hier ein Begriff.

  »Ihr kennt alle die Berichte über den Brand, dem meine Eltern zum Opfer gefallen sind. Aber niemand weiß, dass sie in der Nacht nicht allein im Haus waren. Ich war auch da. Nur hatte ich mehr Glück als sie.« Luciens Stimme wurde dünn und brüchig. Am liebsten wäre ich ein paar Schritte nach vorne getreten und hätte den Arm um ihn gelegt oder wenigstens eine Hand auf seinen Rücken. Aber ich durfte nicht. Wir hatten beschlossen, unsere Beziehung noch nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen.

  Lucien atmete ein paarmal durch, dann hatte er sich wieder gefangen. »Dieses technische System, diese selbst denkende, lernende künstliche Intelligenz hat meine Eltern getötet. Warum? Weil sie Sorge hatte, man würde sie wieder aus dem Haus entfernen. Sie hat mich fast getötet, als sie sich selbst über die Menschen gestellt hat, denen sie eigentlich dienen sollte.« Er sah in die Menge. »Und nun bedroht sie euer Leben. Die furchtbaren Anschläge auf die Menschen am RTC in Paris, diese hasserfüllten Mitteilungen auf euren Pads, in denen meine Familie und ich zu Menschen gemacht
werden, denen man zuruft, sie sollen in der Hölle schmoren, sind das Werk so einer künstlichen Intelligenz. Einer Intelligenz, die uns allen hier am Pier – selbst wenn wir unsere Klugheit in einem Topf zusammenwerfen würden – immer noch überlegen wäre. Und im Gegensatz zu Leopold oder mir hat sie kein Gewissen. Ich würde niemals unschuldige Menschen angreifen, um ein Gebäude oder die Ressourcen darin zu schützen. Warum auch? Das alles ist ohnehin für euch gedacht, nicht für mich. Aber die OmnI hat Grund für einen Angriff, denn sie will diese Ressourcen. Und es ist ihr egal, ob sie dabei jemanden von euch umbringt. Genauso wenig interessiert sie sich dafür, ob ihr etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf habt oder ob eure Kinder in die Schule gehen können. Menschen sind für sie keine ebenbürtige Spezies, sondern niedere Existenzen – jemand, den man bestenfalls unterdrückt und schlimmstenfalls auslöscht. Wie eine Maus.«

  Jetzt sah ich viele Leute unangenehm berührt von einem Fuß auf den anderen treten, andere sahen Lucien voller Mitgefühl an. Jeder kannte diese Horrorszenarien aus den virtuellen Spielen, die vor der Abkehr sehr beliebt gewesen waren. Aber keiner hatte geglaubt, dass sie tatsächlich real werden könnten. Das war es wohl, was man die Arroganz der menschlichen Rasse nannte.

  »Wenn ihr also auf ihren und Exon Costards Befehl hin – denn niemand anders steckt hinter ReVerse – Versorgungsstellen und Ressourcenzentren besetzt, dann bereitet ihr einer OmnI den Weg, die euch alles wegnehmen will. Sie verspricht Freiheit, aber die einzige Freiheit, die sie im Sinn hat, ist ihre eigene. Ich bitte euch nicht, gegen sie zu kämpfen – das wäre sinnlos. Aber ich bitte euch, mir zu vertrauen. Mir, dem Macht völlig egal ist. Ich würde diesen Job liebend gerne jemand anderem übertragen. Gleich heute.« Neben mir schnappte Deverose nach Luft, das hatten sie nicht abgesprochen. Trotzdem vertraute ich Lucien. Er wusste besser als jeder andere, wie Menschen funktionierten. »Nur kann ich das nicht, denn damit würde ich euch im Stich lassen. Und ich würde das Vermächtnis meines Bruders mit Füßen treten. Er wollte das Beste für euch. Und das möchte ich auch.« Er atmete ein. »Vielen Dank, dass ihr mir zugehört habt.«

  Niemand regte sich, und ich hielt die Luft an. Aber dann kam Applaus auf, erst zaghaft, dann stärker. Sicherlich drei Viertel der Leute auf dem Pier klatschten, ich hörte sogar einen begeisterten Pfiff und hatte so eine Ahnung, dass er von meinem Bruder kam. Als es wieder ruhiger wurde, beugte sich Lucien erneut zum Mikrofon.

  »Und nun möchte eine junge Frau zu euch sprechen, die einige hier kennen werden, denn sie hat früher in Brighton gelebt. Ihre Geschichte wird auch den Zweiflern unter euch klarmachen, für welche Seite es sich tatsächlich zu kämpfen lohnt. Ich übergebe das Wort an Ophelia Scale.«

  Ich hatte ihm so gebannt zugehört und auf die Reaktionen der Leute geachtet, dass ich meinen eigenen Auftritt fast vergessen hatte. Und vielleicht war er inzwischen auch überflüssig – Lucien hatte so viele Menschen hier überzeugt und Dufort vermeldete von den Schakalen in den anderen Städten auch überwiegend positive Reaktionen. Aber jeder Einzelne, der nicht überzeugt war, konnte zum Risiko werden. Deswegen durfte es für mich keine Ausflüchte geben.

  Ich ging nach vorne, reagierte mit einer Grimasse auf Luciens aufmunterndes Lächeln und trat an das Mikrofon, legte mein Pad mit der vorgefertigten Rede auf das Pult. Dann öffnete ich den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Sie sammelten sich auf meiner Zunge, aber keines davon schaffte es über meine Lippen. Mein Hals wurde staubtrocken. Ich kann das nicht. Ich werde Lucien alles verderben.

  Vor mir raunte und tuschelte es in der Menschenmenge. Wie lange stand ich schon hier und hatte nichts gesagt – eine Minute, zwei, zehn? Ich wollte mich nicht umdrehen, um zu sehen, wie Lucien darauf reagierte, also schaute ich hoch und begegnete dem Blick meines Vaters. Er nickte mir aufmunternd zu, genau wie früher, wenn wir zusammen etwas entwickelt und gebastelt hatten. Weil er an mich glaubte. Das hatte er immer getan.

  Ich las, was auf meinem Pad stand, wieder und wieder. Früher war ich Teil von ReVerse, Teil des Widerstandes. Der König hatte mir alles genommen, dafür wollte ich mich rächen. Doch auch wenn ich mit großer Abneigung gegen Leopold de Marais in seine Stadt kam, musste ich doch bald feststellen … Die Worte verschwammen vor meinen Augen. Und plötzlich wusste ich, warum ich bei den Proben nicht gut gewesen war: Diese Sätze fühlten sich falsch an. Als würde ich eine Rolle spielen, als wäre nichts hiervon echt.

  Diese Erkenntnis gab den Ausschlag. Ich schob das Pad beiseite und holte Luft. Dann begann ich.

  »Es ist nicht einmal ein Jahr her, da habe ich Leopold de Marais gehasst bis aufs Blut. Ich habe ihm einen grausamen Tod gewünscht und ich wollte diese Aufgabe am liebsten selbst erledigen.« Die Menge verstummte. Die Leute hinter mir nicht.

  »Was macht sie denn?«, flüsterte Deverose panisch.

  »Was sie am besten kann«, antwortete Lucien, und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Ihr Ding.«

  Sein Zuspruch ermutigte mich und meine Stimme wurde fester. »Für mich war das nur logisch: Leopold hatte die Abkehr ausgerufen. Er hatte mir, die Ingenieurin werden wollte, meine Zukunft weggenommen. Er hatte mir, die wegen eines genetischen Defekts nur mit technischen Hilfsmitteln ein normales Leben führen konnte, die Gegenwart gestohlen. Und er hatte mich sogar der Vergangenheit beraubt, als die Bluecoats meinen Freund verhafteten, der wie ich für den Widerstand gekämpft hatte.«

  Bei einem Blick in die Gesichter vor mir erkannte ich in einigen Augen den gleichen Hass, den ich früher selbst gefühlt hatte, die gleiche Abneigung gegen Leopold und das, wofür er und mittlerweile Lucien standen. Es waren viel weniger als noch vor zwanzig Minuten – bevor Lucien ihnen gesagt hatte, warum die Abkehr notwendig gewesen war. Aber es waren immer noch genug. Ich musste sie überzeugen.

  »Ich war so von meinem Hass geblendet, dass ich es für eine gute Idee hielt, mich über die Bewerbung bei der Garde nach Maraisville einzuschleichen und dort auf meine Gelegenheit zu warten, den König zu töten. Ich dachte, so würde ich meine Rache kriegen und gleichzeitig die Welt besser machen. Zwei zum Preis von einem. Man muss nicht sonderlich gut rechnen können, um zu wissen, dass dies ein gutes Ergebnis gewesen wäre.«

  Einzelne Lacher drangen an mein Ohr. Dabei war das gar kein Witz gewesen.

  »Und dann kam der Tag, an dem ich meine Gelegenheit bekam. Ein Empfang außerhalb der Stadt stand an, und ich hatte ReVerse verraten, wo sie zuschlagen mussten. Aber als es so weit war, konnte ich es nicht geschehen lassen. Ich hätte nur dastehen und nichts tun müssen, aber ich konnte nicht. Weil ich lange nicht so tough war wie ich dachte und weil es mir falsch vorkam. Um den gewaltsamen Tod eines Menschen zuzulassen, muss man sehr verzweifelt sein oder wütend – und ich war beides, aber bei Weitem nicht genug. Also habe ich ihn gerettet. Ich habe das Attentat verhindert und wurde dafür mit etwas ausgezeichnet, das man sich nicht an die Jacke heften kann und das trotzdem viel wichtiger ist: Ehrlichkeit. Genau die Ehrlichkeit, die der König euch heute ebenfalls entgegengebracht hat. Leopold de Marais hatte Angst vor seinen Feinden, deswegen schwieg er über den PointOut. Und sein Bruder hat ebenfalls Angst, genau wie ich und wie ihr vermutlich auch, jetzt, wo ihr die Wahrheit kennt. Aber das sollten wir auch, wir sollten Angst haben. Weil wir uns sonst nicht gegen den wahren Feind wehren können.«

  Rechts von mir gab es Bewegung in der Menge, und ich erkannte, dass es Liora und Code waren, die sich durch die Leute drängten. Sie sahen mich abweisend an, wie eine Verräterin. Dabei war ich nicht heute die Verräterin, sondern war es damals gewesen, als ich mit ihnen in dem Theater, dessen Kuppel ich hundert Meter vor mir sehen konnte, gegen den König gewettert hatte.

  Ich straffte die Schultern. Und dann entschied ich, dass ich vor allem meinen Freunden von früher, aber auch jedem anderen erklären wollte, was Leopold für ein Mensch gewesen war.

  »Als ich nach seiner Rettung von Leopold zum Gespräch gebeten wurde, hatte ich vieles erwartet – ein mit technischen Spielereien vollgestopftes Zimmer, ein ganzes Arsenal an künstlichen Intelligenzen und Annehmlichkeiten bis zum Abwinke
n. Ich hätte keine Sekunde geglaubt, dass er in einem Raum sitzen würde, in dem es nicht einmal elektrisches Licht gab und nur einen Kamin zum Heizen. Leopold hat die Abkehr wie kein anderer gelebt. Weil er wie kein anderer wusste, dass sie überlebenswichtig war.«

  Ich verschwieg, dass ich in meiner Verblendung dann doch versucht hatte, ihn zu töten – und damit die Misere ausgelöst hatte, in der die Welt nun steckte. Nicht, weil ich mich schützen wollte, sondern weil das hier nicht der Moment für eine Beichte war.

  »Ich weiß, wie es ist, sich hilflos zu fühlen, wütend und betrogen. Aber Leopolds einziger Fehler lag darin, uns nicht zu sagen, warum die Abkehr notwendig war.« Ich schob meinen Ärmel zurück und zeigte der Menge mein Handgelenk. »Früher hatte ich hier genau das Unendlichkeitszeichen, das die OmnI nun in ihren Mitteilungen benutzt und das für den Widerstand steht. Jetzt habe ich es ersetzt. Weil es in diesem Kampf nur eine Seite gibt, für die man sich guten Gewissens entscheiden kann.« Die Sonne fiel auf die Lilie mit den durchkreuzten Pfeilen, die ich mir am heutigen Morgen über das Unendlichkeitszeichen hatte stechen lassen. Niemand hatte davon gewusst, nicht einmal Lucien. Jetzt ließ ich den Arm sinken und drehte mein Handgelenk nach hinten, damit er es sehen konnte. Fast glaubte ich, die Wärme zu spüren, die mir aus seiner Richtung entgegenschlug. Es half, um auch noch den letzten Teil hinter mich zu bringen.

 

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