by Kiefer, Lena
»Leopolds Tod ist eine Tragödie. Nicht nur, weil sein Bruder nun ohne Familie leben muss und sein Sohn keinen Vater mehr hat. Sondern vor allem, weil Leopold de Marais ein großartiger Mann und Herrscher war. Ihr alle solltet ihn betrauern, denn nur ihm verdankt ihr es, dass ihr noch am Leben seid. Ihm verdankt ihr, dass es das Wort Freiheit überhaupt noch gibt. Die OmnI ist schlau, sie wird wieder versuchen, euch zu manipulieren. Seid klug und hört nicht darauf! Denn wenn sie und Exon Costard gewinnen, dann war Paris nur der Anfang.«
Als ich in die Gesichter vor mir sah, erinnerte ich mich an die Nacht, in der ich Leopold an den Kopf geworfen hatte, dass es für niemanden in dieser Welt eine Chance gab. Und ich erinnerte mich auch an das, was er daraufhin zu mir gesagt hatte.
»Wir haben zu essen, wir haben ein Dach über dem Kopf, wir können unsere Zeit so verbringen, wie wir es wollen. Vielleicht schafft ihr es ja, dankbar dafür zu sein. Ich war es nicht. Und damit muss ich für den Rest meiner Tage auf dieser Welt leben.«
Ich wusste, das war alles, mehr hatte ich nicht zu sagen. Also dankte ich dem Publikum eilig und trat zurück, mit wackligen Knien und zittrigen Händen. Jetzt, wo die Anspannung langsam abflaute, wurde mir klar, dass ich gerade ohne Netz und doppelten Boden eine flammende Rede auf die Abkehr gehalten hatte – und dass es ein großartiges Gefühl gewesen war.
Erst dann bemerkte ich den Applaus, und ich sah zu Liora und Code, die stellvertretend für all jene standen, die Lucien nicht hatte überzeugen können. Jetzt sahen sie mich an, fragend und verwundert, aber nicht mehr feindselig oder abweisend. Und da wusste ich, ich hatte meine Mission erfüllt.
»Dad!« Nur Minuten später und ein paar Meter hinter dem Podium flog ich meinem Vater in die Arme. Er drückte mich fest an sich und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte sich diese Umarmung wieder gut an. Zum Glück merkte ich erst jetzt, wie sehr ich meine Familie vermisst hatte.
»Ich bin unheimlich stolz auf dich, Phee. Das war eine tolle Rede.« Er schob mich auf Armeslänge von sich, wie nur Eltern es tun. »Gut siehst du aus. Deine Mutter hat mir gesagt, dass du in Ordnung bist, aber es ist schön, mich jetzt selbst davon überzeugen zu können.«
Ich lächelte. »Du aber auch, Dad. Täusche ich mich oder ist das ein neuer Haarschnitt?« Ich befühlte die Spitzen seiner dunklen Haare, die weniger zauselig aussahen als bei unserer letzten Begegnung.
»Das ist mein Werk«, meldete sich Lexie, und ich fand mich in der nächsten Umarmung wieder. Sie roch nach verbranntem Essen und ich musste in mich hineinlachen, als ich merkte, dass sich die ganze Welt auf den Kopf stellen konnte und manche Dinge trotzdem gleich blieben.
»Hey, ich will jetzt auch mal.« Mein Bruder drängte sich an unserem Dad vorbei und schloss mich in die Arme. »Du lebst noch«, sagte er leise, »ich hatte befürchtet, die hätten es doch geschafft, dich zu erledigen.« Die Wortwahl war harsch, aber der Tonfall weich. Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich meinen Bruder losließ und prüfend ansah.
»Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht oder so ähnlich.« Ich berührte seine Wange. »Tut gut, dich zu sehen, Neas.«
Er lächelte. »Tut auch gut, dich zu sehen, Phee.« Dann spähte er über meine Schulter zu den beiden FlightUnits, die auf dem Wasser warteten. »Das nennt man wohl einen Aufstieg in der Gesellschaft, oder?«, neckte er mich.
»Sei nicht blöd. Ich kann nichts dafür, wer er ist.« Ich sah ebenfalls zu den Units. Lucien war bereits an Bord mit dem Stadtvorsteher, genau wie Imogen und Dufort. Ich hatte darum gebeten, kurz mit meiner Familie reden zu dürfen, aber dafür blieb nicht viel Zeit. Jede Minute, die wir hier waren, stieg das Risiko, dass die OmnI doch noch zuschlug.
»Ich muss bald los.« Entschuldigend sah ich meine Familie an. »Es wäre zu gefährlich, wenn Lucien länger hierbleibt.«
Eneas deutete hinter mich. »Weiß er das auch?«
Ich fuhr herum und sah, dass Lucien im Eilschritt auf uns zukam. Erst dachte ich, es wäre etwas passiert, aber sein Gesicht war entspannt, vielleicht sogar ein bisschen aufgeregt.
»Was machst du hier?«, fragte ich streng, sobald er in der Nähe war. »Das ist nicht sicher!«
»Wenn ich jedes Mal ein Bubble Fazz ausschütten würde, sobald das jemand zu mir sagt, Stunt-Girl, dann wäre das Meer nicht mehr blau, sondern pink.« Er lächelte unbeirrt. »Außerdem lasse ich es mir garantiert nicht nehmen, deine Familie kennenzulernen.« Er wandte sich an Lexie und schüttelte erst ihr, die verdammt rot dabei wurde, die Hand, dann meinem Vater und meinem Bruder.
»Eure Majestät.« Mein Vater nickte ihm zu. Lucien verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen.
»Oh, bitte nicht. Sagen Sie einfach Lucien zu mir, Sir.«
»Dann sag du auch Andrew zu mir«, protestierte mein Vater. »Sir, so weit kommt es noch. Wenn meine Ophelia sich für jemanden auf eine Bühne stellt und die Abkehr als gute Idee anpreist, dann gehört derjenige auf jeden Fall zur Familie.«
Ich sah, wie Lucien das freute. »Danke, S … Andrew.«
»Mich kannst du gern Sir nennen, wenn du willst«, sagte Eneas, von jeher Garant für einen blöden Spruch.
Lucien lachte. »Ja, du bist definitiv Ophelias Bruder.« Er deutete hinter sich. »Leider kann ich nicht bleiben, das Sicherheitskonzept sieht vor, dass ich mich direkt wieder in die FlightUnit begebe«, sagte er und imitierte Duforts Stimme. »Aber vielleicht möchtet ihr ja einmal nach Maraisville kommen. Ihr seid jederzeit willkommen.«
Eneas nickte. »Total gerne. Ich wollte schon immer in einem Schloss wohnen.«
»Ach«, winkte ich ab. »Das ist ziemlich langweilig. Zur Hälfte besteht es eigentlich nur aus Büros.«
Lucien grinste, als er die Anspielung auf unser erstes Treffen bemerkte. Dann verabschiedete er sich und gab mir zu verstehen, dass ich leider auch nicht mehr viel Zeit hatte. Als er weg war, seufzte Lexie.
»Meine Güte, was für ein gutaussehender junger Mann – und so wohlerzogen«, sagte sie, als hätte ich ihr gerade einfach nur meinen Freund vorgestellt und nicht den König von Europa.
»Nicht immer«, gab ich zurück. »Er kann ziemlich heftig fluchen, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gibt.«
»Phee, du und dein Humor immer. Ich bin sicher, dass …«
Was Lexie noch sagte, hörte ich nicht mehr. Meine gesamte Aufmerksamkeit wurde abrupt von jemandem absorbiert, den ich durch die Streben des 3V-Coasters neben dem Podium stehen sah. Jemanden mit einer dunklen Kappe und einer schwarzen Jacke, deren Kragen hochgeschlagen war.
Nein. Das kann nicht sein.
28
»Ich bin gleich wieder da«, sagte ich zu meiner Familie, ließ sie einfach stehen und machte mich an die Verfolgung. Dufort würde ausflippen, weil ich mich nicht an seinen Plan hielt, aber ich war nicht der König. Niemand hatte etwas davon, mir was anzutun – und die OmnI war nicht hier. Das würde schon gut gehen.
»Caspar Dufort«, sprach ich in die EarLinks, als ich schon fast in der Mitte des Piers war. Er meldete sich prompt.
»Ophelia, wo steckst du? Du solltest in der Unit sein.«
»Meinst du, ich habe noch zehn Minuten?«
»Warum?«, fragte er. Ich bahnte mir einen Weg durch die Leute und versuchte, die sich schnell entfernende Person mit der dunklen Kappe im Auge zu behalten.
»Ich habe meine Familie so lange nicht gesehen«, log ich. »Zehn Minuten mehr wären super. Und es ist ja alles ruhig.«
Einen Moment sagte Dufort nichts. Dann hörte ich, wie er ausatmete. »In Ordnung. Aber sieh zu, dass du in der Nähe bleibst.«
Ich sah auf meine Uhr. Lucien würde noch mit dem Stadtvorsteher von Brighton reden und der war eine Labertasche. Das bedeutete, ich hatte auf jeden Fall genug Zeit, um herauszufinden, was dieser besondere Gast am Pier wollte.
Vor einer der alten Spielwelten stand immer noch die Kunststofffigur eines Astronauten, der früher für den virtuellen Mondspaziergang im Inneren geworben hatte. Auf der anderen Seite lud ein Beduine zur Wüstenrallye ein. Beide Figuren waren vom Salz in der Luft u
nd dem Sonnenlicht völlig ausgebleicht, nur noch ihre Silhouetten waren zu erkennen. Auch die Person, die in diesem Moment die Tür zwischen ihnen öffnete und hindurchschlüpfte, erkannte man nur, wenn man wusste, wer sie war.
Ich ließ die Tür zuschlagen und schaute erst, ob auch niemand auf mich achtete, bevor ich sie wieder öffnete. Dahinter war es dunkel, trotzdem schob ich mich hinein und wartete, bis meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Es roch nach nasser Pappe und überall stand Gerümpel herum: ausgemusterte Bänke vom Pier, leere Kartons, Metallteile der Fahrgeschäfte und nicht benutzte Müllbehälter. Auf dem Boden sah man noch die Öffnungen für die Anschlussstecker der virtuellen Räume, die früher hier gewesen waren.
Langsam tastete ich mich vor, wagte aber nicht, ihren Namen zu rufen. Was wollte sie hier? Und warum in drei Teufels Namen hatte sie –
Ich fuhr herum, aber das Geräusch hatte mich zu spät gewarnt. Die kräftigen Hände zweier Männer packten mich und zogen mich blitzschnell tiefer in das Gebäude hinein. Ich wehrte mich nur halbherzig. Die beiden Kerle gehörten garantiert zu ihr. Das ersparte mir die Suche.
Wir näherten uns dem Bereich, wo an einem Tresen früher offenbar die Tickets verkauft und die InterLinks ausgegeben worden waren. Hier war es etwas heller, denn die vorderen Türen hatten Scheiben aus Mattglas und ließen etwas Licht hinein.
»Madam?«, sprach der eine meiner Bewacher die Gestalt an, die mit dem Rücken zu uns neben dem Tresen stand.
»Was habe ich euch gesagt?«, kam die harsche Antwort. »Ihr sollt am hinteren Eingang warten und mir sagen, wenn die Menge sich zerstreut hat.«
»Das haben wir, Madam.« Der andere zog den Kopf ein. »Aber es ist Ihnen jemand gefolgt.«
»Gefolgt?« Die Person drehte sich um. Dann musterte sie mich. »Ophelia Scale. Was für eine Überraschung.«
»Amelie de Marais.« Ich lächelte, aber es war wohl eher eine Grimasse. »Das ist aber eine hübsche neue Bleibe, die Sie sich da ausgesucht haben.«
Sie warf mir einen arroganten Blick zu, um anschließend ihre Bodyguards hinauszukomplimentieren: »Ihr könnt gehen. Tut, was ich euch aufgetragen habe.«
Es gab keinen Widerspruch, stattdessen verschwanden die beiden Männer im Halbdunkel hinter mir. Ich blieb allein mit Amelie und ihrem abschätzenden Blick. Sie sah dünn aus und müde, ihr Zopf war unordentlich, ihre Haut fahl. Hätte sie mich nicht mit dem Blick ihrer blauen Augen durchbohrt, hätte ich vielleicht Mitleid empfunden.
»Was machen Sie hier?«, fragte ich. Ich musste irgendwie über meine EarLinks die Schakale herbeordern, damit sie Amelie in Gewahrsam nehmen konnten. Aber das ging nicht unauffällig, und ich war im Gegensatz zu ihren Gorillas nicht bewaffnet. Also konnte ich auch ebenso gut Fragen stellen, bis man nach mir suchte und meinen WrInk ortete.
Amelies Blick wechselte von misstrauisch zu kühl. »Ich glaube nicht, dass ich einer Verräterin Rechenschaft schuldig bin.«
»Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte ich leichthin. »Aber ich dachte, wo wir doch schon hier sind, könnten wir uns auch unterhalten. So von Verräterin zu Verräterin.«
»Ich bin keine Verräterin!« Amelie zischte diese Worte wie eine Schlange kurz vorm tödlichen Biss.
»Nicht?« Ich hielt meinen flapsigen Ton aufrecht. »Wenn Sie keine sind, warum verstecken Sie sich dann? Warum kommen Sie inkognito zu dieser offiziellen Rede, um Ihren Bruder zu sehen, auch wenn es nur aus der Ferne ist?« Das war geraten, aber es gab nicht viele Optionen, die Amelies Anwesenheit hier erklärten. Und ich hatte ihren Blick gesehen, dort vor dem Podium. Es war der gleiche wie jetzt. Unglücklich und voller Schmerz.
»Ich habe … ich wollte nur …« Sie presste die Lippen aufeinander.
»Ich verstehe das«, half ich ihr, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum. »Ich habe heute meinen Bruder auch zum ersten Mal seit fast einem Jahr gesehen. Es ist schön zu wissen, dass es ihm gut geht.«
Amelie nickte, und dann passierte etwas, womit ich bei dieser Frau niemals gerechnet hätte: Sie begann zu weinen. Sie tat es stumm, ohne dramatisches Schluchzen oder sonst einen Laut, aber ihre Tränen waren deutlich zu erkennen. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Auf Abneigung, auf Hass, aber nicht darauf, dass sie weinen würde.
»Hier.« Ich fand in meiner Hosentasche ein unbenutztes Taschentuch. Zaghaft hielt ich es Amelie hin und sie nahm es. Natürlich nicht, um sich lauthals zu schnäuzen, wie ich es wohl getan hätte. Sie tupfte sich stattdessen sehr damenhaft die Augen.
»Ich weiß, wofür du mich hältst«, sagte sie dann. »Die gefühlskalte Schwester, die für ein bisschen Macht jeden ihrer Brüder von der nächstbesten Klippe stoßen würde. Aber das ist nicht wahr. Ich liebe Lucien seit der Minute, als er geboren wurde.« Amelies Hände zitterten. »Er kam auf die Welt, da war ich schon ein Teenager und hätte von ihm furchtbar genervt sein müssen, weil er so laut war und ständig an meinem Bein hing. Aber ich war es nicht. Ich habe jede freie Minute mit ihm verbracht, weil man sich seiner Wärme einfach nicht entziehen konnte. Ich habe ihn vor allem beschützt und hätte das auch weiterhin getan, aber …« Sie faltete das Taschentuch zu einem kleinen Viereck. »Aber dann kamen unsere Eltern ums Leben, Lucien verlor fast seines und Leopold musste mit Phoenix einen fatalen Deal eingehen, um unseren Bruder zu retten. Danach konnte ich nichts mehr für Luciens Schutz tun.«
Ich trat neben ihr an den Tresen. Was sie da sagte, ließ mich nicht kalt. »Also warst du deshalb so wütend auf Leopold?«, wechselte ich ungefragt zum Du. Sie störte sich nicht daran.
»Ich war wütend auf Leopold, weil er die Verantwortung für diese ganze Tragödie trug. Dass meine Eltern starben, war seine Schuld! Er hatte die verdammte KI gegen sich aufgebracht und damit riskiert, dass sie sich wehrt. Und er hatte nur sein Zimmer gegen sie abgeschirmt, alle anderen aber nicht. Er hätte sie retten können! Er hätte verhindern können, dass so etwas passiert! Lynx hätte einen Vater gehabt, Imogen einen Mann, Lucien hätte nicht für einen soziopathischen Tyrannen Morde begehen müssen. Nichts davon wäre je passiert!«
Ich war nicht sicher, ob ich alles richtig verstand, aber zumindest bekam ich endlich zu sehen, was für ein riesiges Paket Amelie de Marais seit Jahren mit sich herumtrug.
»Also hast du gemeinsame Sache mit Ferro gemacht«, stellte ich fest.
Amelie schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe nie gemeinsame Sache mit ihm gemacht. Ja, ich habe ihn geliebt und fand Leopolds Ansichten zum PointOut immer viel zu extrem. Und ja, ich war wütend, dass er Ferro rausgeworfen hat, nur weil der infrage stellte, dass die Abkehr die richtige Idee sei. Also habe ich mit ReVerse sympathisiert und kam darüber auch mit anderen Leuten in Kontakt. Mit gefährlichen Leuten.«
Ich schluckte. Mir kam ein furchtbarer Gedanke. »Etwa mit Costard?«
Sie nickte, und ich hätte nicht vermutet, dass Amelie de Marais so schuldbewusst aussehen konnte.
»Es gab Zeiten, da dachte ich, er wäre die Lösung für alle Probleme. Ich habe ihm geglaubt, dass Leopolds Angst vor dem PointOut nur der Irrglaube eines verbohrten Idealisten ist, der sich dem Fortschritt in den Weg stellt. Ich wusste, dass ReVerse mich an seiner Stelle auf dem Thron sehen wollte, und es schmeichelte mir, weil endlich jemand erkannte, dass ich Leopold in Sachen Intelligenz und Fähigkeiten in nichts nachstand. Aber dann …« Sie formte das Taschentuch in ihrer Hand zu einer Rolle und wrang sie so fest, dass es knirschte. »Dann habe ich gemerkt, dass Costard nur jemanden wollte, der ihm Informationen liefert und Leo in seinem Sinne lenkte. Der Rassisten wie die Viklunds ins Boot holte, weil sie seiner Sache nützen würden, wenn erst der Aufstand losbrach. Der ihm verriet, wie sich die OmnI stehlen ließe. Ich habe viel zu spät kapiert, dass sie nicht nur über Leos Leiche gehen würden, wenn es so weit wäre. Sondern auch über meine und die von Lucien.«
»Aber da war es schon zu spät?« Das konnte ich nicht glauben. Wie man an mir sah, war es doch selten wirklich zu spät für eine Kurskorrektur.
Amelie lachte bitter auf. »Viel zu spät. Nachdem Ferro tot war und du dieses Attentat verübt ha
ttest, bei dem Troy Rankin mit der OmnI über alle Berge verschwand, hat Leopold sehr schnell herausgefunden, dass ich dem Widerstand Informationen geliefert hatte.«
Ich sah sie an. »Er hat dich dennoch nicht aus der Stadt geworfen.«
»Das war kein Akt der Güte. Oder Geschwisterliebe. Ich habe mich entschuldigt, ich bin vor ihm im Staub gekrochen, um ihm zu beweisen, wie leid es mir tat. Aber er vertraute mir nicht mehr und wollte nicht riskieren, dass mein Wissen am Ende vollständig beim Feind landet. Also hat er mich weiter als Beraterin arbeiten lassen, ohne jedoch auch nur einen meiner Ratschläge zu befolgen.«
»Das muss wirklich beschissen gewesen sein«, sagte ich und meinte es auch so. Nicht willkommen zu sein und trotzdem gefangen, jeden Tag der Missbilligung von Leopold ausgesetzt, das war demütigend. »Bist du deswegen kurz vor seinem Tod verschwunden?«
Sie nickte. »Es war einfach zu viel für mich. Nachdem Lucien zu dir auf diese Insel gegangen war, wurde es mit Leo unerträglich. Ich wusste, dass ich das verdiene, aber ausgehalten habe ich es trotzdem nicht. Also habe ich meinen Kram gepackt und bin geflohen. Erst eine Woche später erfuhr ich, dass Leopold tot ist.«
»Dann hattest du mit dem Absturz also wirklich nichts zu tun.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Amelie beantwortete sie trotzdem.
»Nein. Ich wollte ihn vielmehr aufklären, nachdem ich Gerüchte gehört hatte, dass daran etwas faul gewesen sein soll.«
Ich verengte die Augen. Woher wusste sie das eigentlich?
»Ich habe noch Kontakte nach Maraisville«, gab Amelie zu. »Menschen, die mir vertrauen, auch wenn es nur sehr wenige sind. Aber meine Nachforschungen haben nichts ergeben. Die Hackerin wusste nicht, wer sie beauftragt hatte.«
»Ja, ich weiß. Wir waren auch bei ihr. Kurz nach dir.«
Überrascht sah Amelie mich an. »Habt ihr mehr herausfinden können?«
Ich schüttelte den Kopf. »Tilda wusste wirklich nicht, wer sie angeheuert hatte – und die Nachricht mit dem Auftrag ließ sich nicht zurückverfolgen. Die OmnI könnte es wahrscheinlich, aber … na ja.« Ich ließ ein schiefes Lächeln sehen. »Costard scheint jedenfalls nicht dahinterzustecken. Wir wissen aber auch nicht, wer es sonst sein könnte.« Hoffnungsvoll sah ich sie an. Amelies Kenntnis der politischen Welt war vermutlich immer noch unschlagbar. Wusste sie mehr darüber?