Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 30

by Kiefer, Lena


  »Sieh mich nicht so an«, sagte sie. »Ich habe Theorien, aber sonst nichts.«

  »Kann …« Ich schluckte. »Kann es sein, dass Leopold noch lebt? Dass diese ominöse Landung einer FlightUnit in dem Gebiet etwas damit zu tun hat?«

  Sie sah mich an und ich entdeckte erneut Tränen in ihren Augen. »Nein, das glaube ich nicht. Ich schätze, jemand war dort, um alles zu überwachen. Wer auch immer das gewesen sein mag.«

  Ein Gewicht senkte sich auf mich, und mir wurde klar, dass ich insgeheim trotzdem noch gehofft hatte – auf ein Wunder, darauf, dass Leopold am Leben war und wir ihn finden konnten. Dass er dann in sein Amt zurückkehren würde und Lucien frei wäre. Aber Amelies Worte nahmen mir diese Hoffnung.

  »Es tut mir leid, Ophelia. Das alles. Ich habe versucht, wenigstens Lucien nicht auch noch mit in meinen Abgrund hinabzuziehen, aber wenn ich sehe, wie nah Costard einem Sieg ist, dann weiß ich nicht, ob es etwas gebracht hat.«

  Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie mir da gerade sagte. »Dann hast du Maraisville gar nicht gemieden, weil du dich von Lucien abgewendet hast? Sondern um ihn zu schützen?« Ich starrte sie an. Wann würde ich wohl lernen, dass nichts in dieser Welt so war, wie es schien?

  Amelie nickte. »Als Leopolds FlightUnit abgestürzt war, wusste ich, dass eine Rückkehr unmöglich sein würde. Ich konnte nicht Königin werden, weil mich Costard mit seinem Wissen über meine Aktivitäten erpresst hätte. Und ich wäre keine Unterstützung für Lucien gewesen, nachdem ganz Maraisville wusste, dass ich Leo gegenüber nicht loyal gewesen war. Meine Anwesenheit hätte Luc nur geschadet. Also habe ich mich versteckt.«

  Ich verstand sie. Aus den gleichen Gründen hatte ich entschieden, nicht mit Lucien nach Maraisville zurückzukehren. »Bis heute.«

  »Nein, heute habe ich mich auch versteckt. Ich wollte nur einen kurzen Blick auf ihn werfen und sehen, ob es ihm gut geht. Ob er zurechtkommt. Ich wollte das nie für ihn, ich …« Die Worte erstickten sie und Amelie presste eine Hand auf den Mund. Aber ich sah mehr in ihren Augen als die Sehnsucht nach ihrem kleinen Bruder. Ich sah Angst.

  »Du bist nicht nur deswegen hier, oder?«

  Sie wischte sich über die Wangen und schüttelte den Kopf. »Ich habe Gerüchte gehört, dass ein Anschlag geplant sei. Ich wollte sichergehen, dass niemand einen Scharfschützen schickt oder einen Sprengsatz am Pier anbringt. Also habe ich heute Morgen alles überprüfen lassen und ein paar Sicherheitsleute engagiert, die sich unter die Leute mischen. Ich dachte mir zwar, dass die Schakale da sein würden, aber wer weiß schon, ob man ihnen noch trauen kann.«

  Ich war sprachlos, was mir selten genug passierte. Beschämt musste ich zugeben, dass mein ach so klares Bild von Amelie de Marais – von der frustrierten, zynischen, machthungrigen Schwester, die alles tun würde, um Königin zu werden – ein Trugschluss gewesen war. Sie war schon so früh in eine Abhängigkeit von Ferro und dann von Costard geraten, dass sie am Ende nur noch dem Pfad folgen konnte, den sie vor Jahren betreten hatte. Das alles war tieftraurig. Furchtbar, aber auch tieftraurig.

  »Ophelia?«, hörte ich plötzlich Dufort. Er klang beunruhigt. »Wo bist du? Wir heben in zwei Minuten ab.« Ich hatte völlig vergessen, dass man auf mich wartete.

  »Ich bin sofort da«, antwortete ich ihm. Dann sah ich Amelie an und hatte plötzlich eine wahnwitzige Idee. »Willst du nicht mitkommen nach Maraisville? Wenn du Lucien sagst, dass es dir leidtut, dann –«

  »Nein«, unterbrach sie mich. »Ich kann ihm nicht verschweigen, dass ich ausgerechnet Costard Informationen gegeben habe. Und wenn er es erfährt, wird er mich hassen. Das ertrage ich nicht. Mir ist es lieber, er hält mich für eine flüchtige Verräterin als für eine Mitschuldige am Tod unseres Bruders.«

  »Du bist nicht schuld an Leopolds Tod. Du hast ihn nicht ermordet.«

  »Nein, das nicht. Aber das hast du auch nicht, und trotzdem fühlst du dich schuldig. Genau wie ich.«

  Ich widersprach nicht. Allerdings übersah sie etwas Wichtiges. »Mir hat Lucien trotzdem verziehen. Warum sollte er es bei dir nicht tun, du bist schließlich seine Schwester.«

  Wenn ich ehrlich war, konnte ich nicht vorhersagen, wie Lucien reagieren würde, wenn Amelie bei ihm auftauchte. Aber er würde sie nicht verjagen, das wusste ich. An dem Abend im Refugium hatte er mir gesagt, wie sehr er bedauerte, dass er ihr nie gesagt hatte, wie wichtig sie ihm war. Außerdem waren sie doch die Einzigen aus ihrer Familie, die es noch gab.

  Amelie holte Luft, aber in dem Moment schalteten sich erneut meine EarLinks ein.

  »Stunt-Girl?«, fragte Lucien. »Bitte sag, dass du nichts Dummes machst.«

  Ich lächelte und sah zu Amelie, die mich zweifelnd anschaute. »Ich mache nichts Dummes. Ich habe nur –«

  »Dann komm bitte sofort zur FlightUnit, okay? Bevor ich in meinen jungen Jahren einen Herzinfarkt bekomme, weil du da unten irgendwo in der Menge steckst.« Ich hörte, wie jemand im Hintergrund etwas sagte. »Was? Wieso?«, fragte Lucien. Sein plötzlich beunruhigter Tonfall versetzte meinen Körper in sofortige Alarmbereitschaft.

  »Lucien?«, fragte ich. »Was ist los?«

  »Keine Ahnung«, antwortete er hastig. »Wir starten, aber keiner hat da–«

  Die Verbindung brach ab.

  »Bist du noch da? Lucien, melde dich, verdammt noch mal!« Die Stille in meinem Ohr wurde übermächtig. »Luc!«

  Aber es kam keine Antwort.

  29

  »Was ist?«, fragte Amelie, und sie klang genauso panisch, wie ich mich fühlte.

  Ich war schon auf dem Weg zum Ausgang. »Etwas stimmt nicht, er –«

  Ein ohrenbetäubender Knall verschluckte alles. Die Wände des Gebäudes wackelten, der Boden schwankte, ich griff nach Amelies Arm, damit keiner von uns fiel. Es fühlte sich an wie ein Erdbeben, aber ich wusste, es war keins.

  »Lucien!«

  Ich rannte zur Tür, stieß sie auf und bekam sie sofort wieder ins Gesicht. Zweiter Versuch, gleiches Ergebnis. Der Strom aus flüchtenden Menschen drängte sich draußen vorbei und machte es unmöglich, rauszukommen. Ich ließ von der Tür ab, rannte durch das dunkle Gebäude zum Hintereingang. Amelie folgte mir und rief ihren Sicherheitsleuten Anweisungen zu. Als wir die hintere Tür erreichten, warnte mich meine Angst davor, sie zu öffnen. Trotzdem riss ich sie auf.

  Was ich zuerst sah, waren all die Menschen. Eine Menge in wilder Panik, die zur Promenade drängte. Schreie übertönten die tausend trampelnden Schritte, Schreie voller Furcht und Schmerz. Es stank verbrannt, Rauch verschleierte die Sicht, ich konnte kaum den Coaster in dreißig Meter Entfernung erkennen. Dahinter waren qualmende Trümmer zu sehen. In meinem Kopf sah ich Bilder von meinem Dad, der tot am Boden lag, von Eneas mit Brandwunden, und Lucien …

  Ich rannte los, bahnte mir blindlings einen Weg durch die Leute, wurde herumgestoßen, in die andere Richtung gezerrt, boxte gegen Arme, gegen Körper, man schleifte mich mit, ich kämpfte mich frei. Meter um Meter kämpfte ich mich gegen die Masse in Richtung Coaster. Ich konnte schon die Trümmer des Podiums sehen, da bekam ich einen Ellenbogen in die Seite, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Ich knallte aufs Holz, hob die Arme über den Kopf, um ihn zu schützen, Füße traten gegen mich, auf mich, ich wollte hochkommen, wurde aber gleich wieder zu Boden geworfen.

  »Phee! Großer Gott!«

  Jemand zog mich auf die Beine und dann in eine Nische zwischen zwei Buden. Ich sah hoch und erkannte das Gesicht meines Vaters. Es war mit Ruß verschmiert und er hatte einen Schnitt an der Wange. Sonst wirkte er in Ordnung.

  »Dad!«, rief ich erleichtert. »Was machst du hier, warum –«

  »Geht’s dir gut?«, unterbrach er mich. Seine Stimme zitterte.

  »Ja, aber was ist mit Eneas und Lexie?« Sie hatten viel zu nah am Podium gestanden.

  »Sie sind da oben, es geht ihnen gut.« Er zeigte zu dem Leuchtturm, der eigentlich nur eine Aussichtsplattform war. »Deswegen haben wir dich auch gesehen.«

  Mein Blick wanderte nach oben, und ich erkannte mein
en Bruder, aber die Erleichterung war nur ein sehr kleiner Tropfen auf den sehr heißen Stein. Ich musste zu Lucien! Aber immer noch drängten Menschen an unserer Nische vorbei. Ich konnte nicht raus. »Was ist passiert?«, fragte ich über den Lärm hinweg meinen Vater.

  »Eine Explosion!«, rief er. »Die eine FlightUnit hob ab, hat sich gedreht und auf die andere gefeuert. Dabei ist ein Stück des Piers abgerissen worden. Danach ist sie verschwunden.«

  »Verschwunden?« Was sollte das heißen? »Du meinst, die Unit hat die zweite zerstört und ist dann weggeflogen?«

  Mein Vater nickte.

  Wir starten, aber keiner hat da –. Das war das Letzte gewesen, was ich von Lucien gehört hatte. Er hatte sagen wollen, dass niemand den Start der Unit initiiert hatte. Niemand von ihnen. Meine Angst blockierte meinen Kopf. Aber irgendwann setzte die Logik doch wieder ein.

  »Ein Hack«, sagte ich. Aber wer hätte das tun sollen? Tilda saß in Haft, und selbst bei Leopolds Absturz hatte nur sie auf die Triebwerksregulierung zugreifen können. Unmöglich, dass sie sich in die Steuerung der Unit selbst oder gar ihre Waffen hätte hacken können. Also gab es nur eine Möglichkeit.

  Mein Vater sprach aus, was ich dachte. »Du glaubst, die OmnI hat die Unit entführt?« Wir hatten jahrelang zusammengearbeitet, entwickelt und getüftelt. Wir brauchten nicht viele Worte, um uns zu verständigen.

  »Und dann die andere Unit zerstört, damit wir nicht folgen können.« Ich aktivierte meine EarLinks. »Maraisville Lagezentrum.« Keine Antwort, es wurde nicht einmal eine Verbindung aufgebaut. »Scheiße! Ich komme nicht durch!« Die OmnI hatte ganze Arbeit geleistet.

  Der Strom der Leute wurde schwächer und ich wagte mich aus unserer sicheren Ecke. »War jemand in der zweiten Unit drin? Weißt du das?« Ich lief direkt am Coaster entlang, duckte mich unter den Eisenstreben hindurch. Mein Vater folgte mir.

  »Ich habe gesehen, wie die Frau mit den dunklen Haaren, die Lucien angekündigt hat, hineingegangen ist.«

  Er meinte Imogen. Nein. Nein, bitte nicht.

  »Bleib hier«, bat ich. Dann kämpfte ich mich bis zur hinteren Kante. Erst als ich dort ankam, sah ich das volle Ausmaß der Katastrophe: Dem Pier fehlte eine ganze Ecke, als hätte ein wildes Tier sie herausgerissen, die Kanten rauchten und die Streben waren verkohlt. Die FlightUnit dahinter war ein Trümmerhaufen, halb im Wasser versunken. Die OmnI hatte auf die Aggregate gezielt, zwei brennende, qualmende Krater in den Flügeln. Leblose Körper trieben im Wasser, entstellt vom Feuer und der Wucht der Explosion. Ich presste die Hand auf den Magen und atmete tief ein. Angst um Lucien, um Dufort, um Imogen drückte mir gegen die Kehle. Ich hatte hundert Fragen im Kopf, die sich genauso nach vorne drängten wie die Leute in Richtung Promenade. Warum entführte die OmnI Lucien? Warum kein Attentat? Hatte sie Pläne mit ihm? Hatte jemand anders Pläne mit ihm? Und wie viel Zeit blieb, um ihn zu retten? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, um ihm zu helfen. Aber hier konnte ich vielleicht helfen.

  Die Mitte der FlightUnit, wo normalerweise die Passagiere untergebracht waren, sah halbwegs intakt aus. Ich sprang hinunter auf den Ponton, dessen Seil sich an den scharfen Abrisskanten verhakt hatte, dann weiter auf die Rampe. Sie stand unter Wasser und ich versank bis zur Hüfte darin. Mühsam kämpfte ich mich vorwärts, bis ich wieder auf trockenem Boden stand.

  Der Innenraum einer FlightUnit war ohnehin nicht allzu groß, aber dieser hier hatte sich in ein Labyrinth verwandelt. Die Wandverkleidung war von der Explosion weggesprengt worden und ragte nun wie abgeschälte Haut in den Raum. Kabel hingen dazwischen, die Sitze versperrten mir den Weg. Ich zerrte sie zur Seite, bis ich endlich etwas sah. Es war eine Leiche, die eines Schakals. Ich wusste es, noch bevor ich vergeblich nach einem Puls tastete. Bedauernd schloss ich seine Augen. Dann sah ich mich um.

  »Imogen!« Sie lag ganz vorne, bedeckt von einem Stück des Wandpaneels, das abgerissen worden war. Ich zog das Trümmerteil mit bebenden Händen von ihr weg und ging in die Hocke. Bitte sei am Leben, bitte sei am Leben, bitte.

  Sie war bewusstlos, die Augen geschlossen, das Gesicht blutverschmiert, an ihrer Stirn eine Platzwunde. Ich hielt zwei Finger auch an ihren Hals. Erst spürte ich nichts, dann drückte ein schwacher Puls gegen meine Fingerkuppen. Sehr schwach und sehr unregelmäßig. Schnell suchte ich ihren Körper nach offensichtlichen Verletzungen ab, aber ich konnte nichts entdecken. Hatte sie innere Blutungen? Oder etwas am Kopf? Wie sollte ich ihr helfen, wenn ich keine Ahnung hatte, was ihr fehlte? Sollte ich Hilfe holen? Nein, das dauerte zu lange.

  Ich stand auf, kratzte meinen Verstand zusammen, ging zur vorderen Wand. Mit dem Fuß schob ich Schutt zur Seite, bevor ich die Klappe öffnen konnte. Der Koffer mit dem Notfallset schien unversehrt. Ich zog ihn heraus und öffnete ihn auf dem Boden.

  Die Unit schwankte, und ich fuhr herum zur Rampe, wo mehrere Leute durch das Wasser auf mich zuwateten. Es waren Schakale – vor allem solche, die sich unter die Leute gemischt hatten. Sie trugen normale Alltagskleidung und hatten ein paar Blessuren.

  »Was ist der Plan?«, fragte mich eine von ihnen, eine Brünette mit kurzen Haaren. Sie hieß Carla, soweit ich wusste. Dufort hielt viel von ihr.

  Wieso fragst du mich das?, wollte ich schon zurückgeben, als mir klar wurde, dass ich hier die Einzige war, die noch Befehle erteilen konnte. Was erwarteten sie von mir? Dass ich ihnen erklärte, was wir jetzt tun sollten? Ich hatte doch keine Ahnung von den verdammten Notfallprotokollen! Das hier war keine meiner Missionen, das war eine verdammte Katastrophe. Und ich hatte keinen Plan. Ich hatte nur Angst.

  Konzentrier dich, Stunt-Girl. Du weißt, was zu tun ist. Es war das erste Mal, dass ich Luciens Stimme auf diese Art hörte – nur in meinem Kopf, als Wegweiser und Ratgeber. Vielleicht, weil er bisher immer für mich erreichbar gewesen war, wenn ich ihn gebraucht hatte. Zumindest bis jetzt. Aber ich würde nicht versagen und ihn im Stich lassen. Ich musste bei klarem Verstand bleiben, wenn ich ihn lebend wiedersehen wollte.

  »Die Stabschefin braucht dringend Hilfe.« Das schien mir das Wichtigste. »Sie muss hier vor Ort behandelt werden. Es ist zu gefährlich, sie in die Stadt zu bringen.«

  »Ich kümmere mich um sie«, sagte sofort einer der Agenten und hatte schon meinen Platz neben Imogen eingenommen. Alle Schakale waren medizinisch ausgebildet – nur rudimentär, aber das musste jetzt reichen.

  »Gut, dann …« Ich sah die übrigen Schakale an. »Wie viele von euch sind hier am Pier?«

  »Vierzehn«, sagte Carla. »Plus vier in Brighton, die alle Zugänge bewachen.«

  »Okay.« Ich stieß die Luft aus. »Zuerst brauchen wir den Kontakt nach Maraisville zurück. Die OmnI hat die Verbindung getrennt, also muss es irgendwo einen Verzerrer geben.« Normalerweise wurde die Beschädigung einer Unit automatisch gemeldet, aber ich ging davon aus, dass die OmnI uns bereits abgeschnitten hatte, bevor ihr die zweite FlightUnit zum Opfer gefallen war.

  Während sich Francis, ein großer, bulliger ehemaliger Mitrekrut von mir, für die Suche nach dem Verzerrer meldete, kamen über die Rampe zwei weitere Personen in die FlightUnit gewatet. Ich erkannte meinen Vater und Eneas.

  »Phee! Wie können wir helfen?«

  Ich starrte meinen Vater an. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.

  »Dad, kannst du …« Ich deutete auf die am Boden liegende Imogen. Er war kein Arzt, aber er hatte so viele medizinische Komponenten und Verfahren entwickelt, dass er zehnmal so kompetent war wie jeder andere hier. Er nickte und machte sich sofort an die Arbeit. Als ich aufstand, spürte ich, wie die kleine Ritterfigur in meiner Tasche gegen mein Bein drückte. Bei dem Gedanken, dass Lynx auch noch sein anderes Elternteil verlieren könnte, drehte sich mir der Magen um.

  Bleib bei der Sache.

  So gerne ich meinen Bruder bei mir gewusst hätte, die rationale Seite übernahm das Kommando. »Eneas, kannst du Francis begleiten? Du kennst den Pier, mit dir finden wir den Verzerrer sicher schneller.« Er nickte und ich sah Francis an. »Mein Bruder hilft dir bei der Suche.«

  Sie ver
schwanden auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen waren. Ich wandte mich an Carla.

  »Ich brauche ein paar Leute, die den Pier absichern. Ich glaube nicht, dass ihn jemand freiwillig betreten wird, aber man kann nie wissen.« Schließlich gab es immer noch haufenweise Radicals in der Stadt, und ob nicht irgendwo noch ReVerse-Kämpfer landen würden, wusste auch niemand. Wir mussten so schnell wie möglich hier weg. Aber das konnten wir erst, wenn wir Maraisville erreichten.

  Carla teilte ein paar Leute ein und wollte mit ihnen gehen, aber ich hielt sie zurück.

  »Amelie de Marais war hier«, sagte ich leise und nur zu ihr. »Ich habe mit ihr geredet und sie dann aus den Augen verloren, als das Chaos losgebrochen ist. Sie kann nicht weit sein. Kannst du versuchen, sie zu finden?«

  »Soll ich sie festnehmen?«, fragte Carla.

  »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Erklär die Situation und richte aus, dass ich sie um ihre Hilfe bitte.« Die Schakalin runzelte die Stirn, aber ich hatte keine Zeit für weitere Informationen. »Es ist wichtig, sie nicht zu zwingen.«

  Carla nickte und dann war sie ebenfalls weg. Nur zwei ihrer Kollegen blieben bei uns, und ich hielt es für das Beste, Imogen und meinen Vater nicht ohne Schutz zu lassen.

  »Helft mir mal kurz«, sagte ich und deutete auf ein herabgestürztes Deckenpaneel. Gemeinsam schafften wir das Teil aus dem Weg, sodass ich an den Waffenschrank kam, der dahinterlag. Ich suchte mir eine TLP-X mit Standardmunition heraus und schob sie in den hinteren Hosenbund. Es war albern, aber sofort fühlte ich mich sicherer. Gegen die OmnI half die Waffe nicht, aber gegen alles andere schon.

  Gut, fast alles.

  »Dad, wie geht es ihr?« Ich hockte mich neben ihn. Imogens Gesicht war genauso blutverschmiert wie noch vor zehn Minuten.

 

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