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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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by Friedrich Wilhelm Nietzsche


  21.

  An die Lehrer der Selbstlosigkeit. – Man nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen: – man ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig "selbstlos", sehr wenig "unegoistisch" gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass die Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) – so bist du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben desshalb deine Tugend! Man lobt den Fleissigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleisse schädigt; man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich "zu Schanden gearbeitet hat", weil man urtheilt: "Für das ganze Grosse der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten Einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, dass das Opfer Noth thut! Viel schlimmer freilich, wenn der Einzelne anders denken und seine Erhaltung und Entwickelung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste der Gesellschaft!" Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner selber willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses Werkzeug – ein sogenannter "braver Mensch" – durch diesen Tod der Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten hätte, – ja man gesteht sich wohl einen Vortheil davon zu, schlägt aber jenen anderen Vortheil, dass ein Opfer gebracht und die Gesinnung des Opferthiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesammt-Vortheil des Individuums sich nicht in Schranken halten lässt, kurz: die Unvernunft in der Tugend, vermöge deren das Einzelwesen sich zur Function des Ganzen umwandeln lässt. Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem, – das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. – Freilich: zur Erziehung und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vortheil als verschwistert erscheinen lassen, – und es giebt in der That eine solche Geschwisterschaft! Der blindwüthende Fleiss zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der Weg zu Reichthum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so: sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vortheil, aber "zum allgemeinen Besten" in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, dass der blindwüthende Fleiss zwar Reichthümer und Ehre schafft, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuss an Reichthum und Ehren geben könnte, ebenso, dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste aller Zeitalter – unser Zeitalter – weiss aus seinem vielen Fleisse und Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiss: es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! – Nun, wir werden unsere "Enkel" haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachtheil im Sinne des höchsten privaten Zieles, – wahrscheinlich irgend eine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der Reihe nach von diesem Gesichtspuncte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der "Nächste" lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vortheile hat! Dächte der Nächste selber "selbstlos", so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er dieselbe nicht gut nennte! – Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Principe! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz, "du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen" dürfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen decretirt werden, welches damit selber seinem Vortheil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz "du sollst den Vortheil auch auf Unkosten alles Anderen suchen" zur Anwendung gebracht, also in Einem Athem ein "Du sollst" und "Du sollst nicht" gepredigt!

  22.

  L'ordre du jour pour le roi. – Der Tag beginnt: beginnen wir für diesen Tag die Geschäfte und Feste unseres allergnädigsten Herrn zu ordnen, der jetzt noch zu ruhen geruht. Seine Majestät hat heute schlechtes Wetter: wir werden uns hüten, es schlecht zu nennen; man wird nicht vom Wetter reden, – aber wir werden die Geschäfte heute etwas feierlicher und die Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nöthig wäre. Seine Majestät wird vielleicht sogar krank sein: wir werden zum Frühstück die letzte gute Neuigkeit vom Abend präsentiren, die Ankunft des Herrn von Montaigne, der so angenehm über seine Krankheit zu scherzen weiss, – er leidet am Stein. Wir werden einige Personen empfangen (Personen! – was würde jener alte aufgeblasene Frosch, der unter ihnen sein wird, sagen, wenn er diess Wort hörte! "Ich bin keine Person, würde er sagen, sondern immer die Sache selber".) – und der Empfang wird länger dauern, als irgend jemandem angenehm ist: Grund genug, von jenem Dichter zu erzählen, der auf seine Thüre schrieb: "wer hier eintritt, wird mir eine Ehre erweisen; wer es nicht thut – ein Vergnügen." – Diess heisst fürwahr eine Unhöflichkeit auf höfliche Manier sagen! Und vielleicht hat dieser Dichter für seinen Theil ganz Recht, unhöflich zu sein: man sagt, dass seine Verse besser seien, als der Verse-Schmied. Nun, so mag er noch viele machen und sich selber möglichst der Welt entziehen: und das ist ja der Sinn seiner artigen Unart! Umgekehrt ist ein Fürst immer mehr werth, als sein "Vers", selbst wenn – doch was machen wir? Wir plaudern, und der ganze Hof meint, wir arbeiteten schon und zerbrächen uns die Köpfe: man sieht kein Licht früher, als das in unserem Fenster brennen. – Horch! War das nicht die Glocke? Zum Teufel! Der Tag und der Tanz beginnt, und wir wissen seine Touren nicht! So müssen wir improvisiren, – alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es heute einmal wie alle Welt! – Und damit verschwand mein wunderlicher Morgentraum, wahrscheinlich vor den harten Schlägen der Thurmuhr, die eben mit all der Wichtigkeit, die ihr eigen ist, die fünfte Stunde verkündete. Es scheint mir, dass diessmal der Gott der Träume sich über meine Gewohnheiten lustig machen wollte, – es ist meine Gewohnheit, den Tag so zu beginnen, dass ich ihn für mich zurecht lege und erträglich mache, und es mag sein, dass ich diess öfters zu förmlich und zu prinzenhaft gethan habe.

  23.

  Die Anzeichen der Corruption. – Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit nothwendigen Zuständen der Gesellschaft, welche mit dem Wort "Corruption" bezeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgend wo die Corruption eintritt, nimmt ein bunter Aberglaube überhand und der bisherige Gesammtglaube eines Volkes wird blass
und ohnmächtig dagegen: der Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges, – wer sich ihm ergiebt, wählt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit dem Religiösen, immer viel mehr "Person", als dieser, und eine abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen giebt. Von diesem Standpuncte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen dafür, dass der Intellect unabhängiger wird und sein Recht haben will. Ueber Corruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiosität, – sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, dass er ein Symptom der Aufklärung ist. – Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die Corruption Platz greift, der Erschlaffung: und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt eben so heiss erstrebt, wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, dass jene alte Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in unzählige Privat-Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar geworden ist; ja, wahrscheinlich ist in Zuständen der "Corruption" die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie eines Volkes grösser, als je, und das Individuum giebt so verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte, – es war damals noch nicht reich genug dazu! Und so sind es gerade die Zeiten der "Erschlaffung", wo die Tragödie durch die Häuser und Gassen läuft, wo die grosse Liebe und der grosse Hass geboren werden, und die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel aufschlägt. – Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschädigung für den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten der Corruption nachzusagen, dass sie milder seien und dass jetzt die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und stärkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten, ebensowenig als jenem Tadel: nur so viel gebe ich zu, dass jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und dass ihre älteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen; aber die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten der Corruption ihre höchste Ausbildung, – jetzt erst wird die Bosheit geschaffen und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Corruption sind witzig und verläumderisch; sie wissen, dass es noch andere Arten des Mordes giebt, als durch Dolch und Ueberfall, – sie wissen auch, dass alles Gutgesagte geglaubt wird. – Viertens: wenn "die Sitten verfallen", so tauchen zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die Vorläufer und gleichsam die frühreifen Erstlinge der Individuen. Noch eine kleine Weile: und diese Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines Volkes, – und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der Verfall auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls, so kommt dann immer der Cäsar, der Schluss-Tyrann, der dem ermüdeten Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die Müdigkeit für sich arbeiten lässt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum am reifsten und folglich die "Cultur" am höchsten und fruchtbarsten, aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn: obwohl die höchsten Cultur-Menschen ihrem Cäsar damit zu schmeicheln lieben, dass sie sich als sein Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, dass sie Ruhe von Aussen nöthig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten ist die Bestechlichkeit und der Verrath am grössten: denn die Liebe zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mächtiger, als die Liebe zum alten, verbrauchten, todtgeredeten "Vaterlande"; und das Bedürfniss, sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glückes sicherzustellen, öffnet auch edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich bereit zeigt, Gold in sie zu schütten. Es giebt jetzt so wenig sichere Zukunft: da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer ein leichtes Spiel spielen, – man lässt sich nämlich auch nur "für heute" verführen und bestechen und behält sich die Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sich's, sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick, als ihre Gegensätze, die Heerden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft; ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständniss noch auf Gnade rechnen können, – aber der Tyrann oder Cäsar versteht das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran, einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will über sich gedacht haben, was Napoleon einmal in seiner classischen Art und Weise ausgesprochen hat: "ich habe das Recht, auf Alles, worüber man gegen mich Klage führt, durch ein ewiges "Das-bin-ich" zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von Niemandem Bedingungen an. Ich will, dass man sich auch meinen Phantasieen unterwerfe und es ganz einfach finde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe." So sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres Gatten in Frage zu ziehen. – Die Zeiten der Corruption sind die, in welchen die Aepfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die Samenträger der Zukunft, die Urheber der geistigen Colonisation und Neubildung von Staats- und Gesellschaftsverbänden. Corruption ist nur ein Schimpfwort für die Herbstzeiten eines Volkes.

  24.

  Verschiedene Unzufriedenheit. – Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens; die starken Unzufriedenen – die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben – für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die Ersteren zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, dass sie sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein Wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im Ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden; überdiess sind sie die Förderer aller Derer, welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen, – dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Nothstände! Hätte es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Ueberzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur beständigen Verwandelung gar nicht entstanden sein: denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im Grossen und die Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Socialisten und Staats-Götzendiener Europa's könnten es mit ihren Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen "Glücke" bringen, vorausgesetzt, dass sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen Verwandelung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist; diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellectuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel, als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genie's ist.

  25.

  Nicht zur Erkenntniss vorausbestimmt. – Es giebt eine gar nicht seltene blöde Demüthigkeit, mit der behaftet man ein für alle Mal nicht zum Jünger der Erkenntniss taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fusse um und sagt sich: "Du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt! Diess darf nicht die Wahrheit sein!" – und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: Ich will Nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es giebt schon der alten zu
viele."

  26.

  Was heisst Leben? – Leben – das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: Du sollst nicht tödten!

  27.

  Der Entsagende.- Was thut der Entsagende? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen, als alle Menschen der Bejahung, – er wirft Vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und Manches darunter, was ihm nicht unwerth, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade Das, was allein sichtbar an ihm wird: darnach giebt man ihm den Namen des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effecte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. – ja! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns – dieser Bejahende! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt.

 

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