Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)
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Mit seinem Besten schaden. – Unsere Stärken treiben uns mitunter so weit vor, dass wir unsere Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen zu Grunde gehen: wir sehen auch wohl diesen Ausgang voraus und wollen es trotzdem nicht anders. Da werden wir hart gegen Das an uns, was geschont sein will, und unsere Grösse ist auch unsere Unbarmherzigkeit. – Ein solches Erlebniss, das wir zuletzt mit dem Leben bezahlen müssen, ist ein Gleichniss für das gesammte Wirken grosser Menschen auf Andere und auf ihre Zeit: – gerade mit ihrem Besten, mit dem, was nur sie können, richten sie viele Schwache, Unsichere, Werdende, Wollende zu Grunde, und sind hierdurch schädlich. Ja es kann der Fall vorkommen, dass sie, im Ganzen gerechnet, nur schaden, weil ihr Bestes allein von Solchen angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche an ihm, wie an einem zu starken Getränke, ihren Verstand und ihre Selbstsucht verlieren: sie werden so berauscht, dass sie ihre Glieder auf allen den Irrwegen brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt.
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Die Hinzu-Lügner. – Als man in Frankreich die Einheiten des Aristoteles zu bekämpfen und folglich auch zu vertheidigen anfieng, da war es wieder einmal zu sehen, was so oft zu sehen ist, aber so ungern gesehen wird: – man log sich Gründe vor, um derenthalben jene Gesetze bestehen sollten, blos um sich nicht einzugestehen, dass man sich an die Herrschaft dieser Gesetze gewöhnt habe und es nicht mehr anders haben wolle. Und so macht man es innerhalb jeder herrschenden Moral und Religion und hat es von jeher gemacht: die Gründe und die Absichten hinter der Gewohnheit werden immer zu ihr erst hinzugelogen, wenn Einige anfangen, die Gewohnheit zu bestreiten und nach Gründen und Absichten zu fragen. Hier steckt die grosse Unehrlichkeit der Conservativen aller Zeiten: – es sind die Hinzu-Lügner.
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Komödienspiel der Berühmten. – Berühmte Männer, welche ihren Ruhm nöthig haben, wie zum Beispiel alle Politiker, wählen ihre Verbündeten und Freunde nie mehr ohne Hintergedanken: von diesem wollen sie ein Stück Glanz und Abglanz seiner Tugend, von jenem das Furchteinflössende gewisser bedenklicher Eigenschaften, die Jedermann an ihm kennt, einem andern stehlen sie den Ruf seines Müssigganges, seines In-der-Sonne-liegens, weil es ihren eigenen Zwecken frommt, zeitweilig für unachtsam und träge zu gelten: – es verdeckt, dass sie auf der Lauer liegen; bald brauchen sie den Phantasten, bald den Kenner, bald den Grübler, bald den Pedanten in ihrer Nähe und gleichsam als ihr gegenwärtiges Selbst, aber eben so bald brauchen sie dieselben nicht mehr! Und so sterben fortwährend ihre Umgebungen und Aussenseiten ab, während Alles sich in diese Umgebung zu drängen scheint und zu ihrem "Charakter" werden will: darin gleichen sie den grossen Städten. Ihr Ruf ist fortwährend im Wandel wie ihr Charakter, denn ihre wechselnden Mittel verlangen diesen Wechsel, und schieben bald diese, bald jene wirkliche oder erdichtete Eigenschaft hervor und auf die Bühne hinaus: ihre Freunde und Verbündeten gehören, wie gesagt, zu diesen Bühnen-Eigenschaften. Dagegen muss Das, was sie wollen, um so mehr fest und ehern und weithin glänzend stehen bleiben, – und auch diess hat bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nöthig.
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Handel und Adel. – Kaufen und verkaufen gilt jetzt als gemein, wie die Kunst des Lesens und Schreibens; Jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit, Jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die Jagd gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor – dadurch, dass sie aufhörte nothwendig zu sein und eine Sache der Laune und des Luxus wurde: – so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht verkauft und gekauft wird und wo die Nothwendigkeit dieser Technik allmählich ganz verloren geht: vielleicht, dass dann Einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Luxus der Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebenso gern mit dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte. Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmannes zu sein: und es wäre möglich, dass man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich aller Partei- und Tageslitteratur, unter die Rubrik "Prostitution des Geistes" zu bringen.
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Unerwünschte Jünger. – Was soll ich mit diesen beiden Jünglingen machen! rief mit Unmuth ein Philosoph, welcher die Jugend "verdarb", wie Sokrates sie einst verdorben hat, – es sind mir unwillkommene Schüler. Der da kann nicht Nein sagen und jener sagt zu Allem: "Halb und halb." Gesetzt, sie ergriffen meine Lehre, so würde der Erstere zu viel leiden, denn meine Denkweise erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehethun-Wollen, eine Lust am Neinsagen, eine harte Haut, – er würde an offenen und inneren Wunden dahin siechen. Und der Andere wird sich aus jeder Sache, die er vertritt, eine Mittelmässigkeit zurecht machen und sie dergestalt zur Mittelmässigkeit machen, – einen solchen Jünger wünsche ich meinem Feinde.
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Ausserhalb des Hörsaales. – "Um Ihnen zu beweisen, dass der Mensch im Grunde zu den gutartigen Thieren gehört, würde ich Sie daran erinnern, wie leichtgläubig er so lange gewesen ist. Jetzt erst ist er, ganz spät und nach ungeheurer Selbstüberwindung, ein misstrauisches Thier geworden, – ja! der Mensch ist jetzt böser als je." – Ich verstehe diess nicht: warum sollte der Mensch jetzt misstrauischer und böser sein? – "Weil er jetzt eine Wissenschaft hat, – nöthig hat!" –
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Historia abscondita. – Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!
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Ketzerei und Hexerei. – Anders denken, als Sitte ist – das ist lange nicht so sehr die Wirkung eines besseren Intellectes, als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender, isolirender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei und gewiss ebensowenig, als diese, etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auch als böse fühlen, dass aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in grösster Fülle hervor.
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Letzte Worte. – Man wird sich erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgend ein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiscret gegen sich selber wurde: er liess zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt habe, – er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! – Der Gedanke des sterbenden Nero: qualis artifex pereo! war auch der Gedanke des sterbenden Augustus: Histrionen-Eitelkeit! Histrionen-Schwatzhaftigkeit! Und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates! – Aber Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste aller Selbstquäler, – der war ächt und kein Schauspieler! Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen sein! Vielleicht diess: "Das Leben – das ist ein langer Tod. Ich Narr, der ich so Vielen das Leben verkürzte! War ich dazu gemacht, ein Wohltäter zu sein? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich sie ewig sterben sehen können. Dafür hatte ich ja so gute Augen: qualis spectator pereo!" Als er nach einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt
man es für rathsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken, – er starb eines doppelten Todes.
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Aus drei Irrthümern. – Man hat in den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Engländer (wie Newton) –, theils weil man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntniss glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Franzosen (wie Voltaire) –, theils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sichselber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die bösen Triebe des Menschen überhaupt nicht betheiligt seien – das Hauptmotiv in der Seele Spinoza's, der sich als Erkennender göttlich fühlte: – also aus drei Irrthümern.
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Die Explosiven. – Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte, – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich desshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!
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Veränderter Geschmack. – Die Veränderung des allgemeinen Geschmackes ist wichtiger, als die der Meinungen; Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellectuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz gewiss gerade Das nicht, wofür man sie noch so häufig anspricht, dessen Ursachen. Wie verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, dass Einzelne, Mächtige, Einflussreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urtheil ihres Geschmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durchsetzen.- – sie legen damit Vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch Mehrerer und zuletzt ein Bedürfniss Aller wird. Dass diese Einzelnen aber anders empfinden und "schmecken", das hat gewöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirn, kurz in der Physis: sie haben aber den Muth, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urtheile sind solche "feinste Töne" der Physis.
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Vom Mangel der vornehmen Form. – Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zu einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Cultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur: letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Noth: man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, dass die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfunden wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Grössen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Noth speculirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten und Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimirt – durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, – aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und Glück hier den Einen über den Andern erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! – und der Socialismus beginnt.
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Gegen die Reue. – Der Denker sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst Antworten. Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue empfinden – das überlässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist.
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Arbeit und Langeweile. – Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme "Windstille" der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten: – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind, als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.
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Was die Gesetze verrathen. – Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die härtesten Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei Todsünden: einen anderen Gott haben als den Wahabiten-Gott und – rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als "die schmachvolle Art des Trinkens"). "Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?" – fragte erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr. "Nun, Gott ist gnädig und barmherzig!" – sagte der alte Häuptling. – So gab es bei den alten Römern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödtlich versündigen könne: einmal durch Ehebruch, sodann – durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Controle zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein-Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrath
an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes.
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Die geglaubten Motive. – So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden, – nicht aber durch Das, was wirklich Motiv war! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten Ranges.
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Epikur.- Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur's anders zu empfinden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: – ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.