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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

Page 8

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


  60.

  Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. – Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln: – von allen Seiten heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen Erderschütterer-Tact, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, erscheint vor dem Thore dieses höllischen Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt, – ein grosses Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit! Mit welchem Zauber fasst sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich hier eingeschifft? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht todt sein und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geisterhaftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weissen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Ueber das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es! – – Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller grosse Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, – es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor Allem – Distanz

  61.

  Zu Ehren der Freundschaft. – Dass das Gefühl der Freundschaft dem Alterthum als das höchste Gefühl galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz des Selbstgenügsamen und Weisen, ja gleichsam als dessen einzige und noch heiligere Geschwisterschaft: diess drückt sehr gut die Geschichte von jenem macedonischen Könige aus, der einem weltverachtenden Philosophen Athen's ein Talent zum Geschenk machte und es von ihm zurückerhielt. "Wie? sagte der König, hat er denn keinen Freund?" Damit wollte er sagen: "ich ehre diesen Stolz des Weisen und Unabhängigen, aber ich würde seine Menschlichkeit noch höher ehren, wenn der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz davongetragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt, indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten Gefühle nicht kennt, – und zwar das höhere nicht!"

  62.

  Liebe. – Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde.

  63.

  Das Weib in der Musik. – Wie kommt es, dass warme und regnerische Winde auch die musikalische Stimmung und die erfinderische Lust der Melodie mit sich führen? Sind es nicht die selben Winde, welche die Kirchen füllen und den Frauen verliebte Gedanken geben?

  64.

  Skeptiker. – Ich fürchte, dass altgewordene Frauen im geheimsten Verstecke ihres Herzens skeptischer sind, als alle Männer: sie glauben an die Oberflächlichkeit des Daseins als an sein Wesen, und alle Tugend und Tiefe ist ihnen nur Verhüllung dieser "Wahrheit", die sehr wünschenswerthe Verhüllung eines pudendum –, also eine Sache des Anstandes und der Scham, und nicht mehr!

  65.

  Hingebung.- Es giebt edle Frauen mit einer gewissen Armuth des Geistes, welche, um ihre tiefste Hingebung auszudrücken, sich nicht anders zu helfen wissen, als so, dass sie ihre Tugend und Scham anbieten: es ist ihnen ihr Höchstes. Und oft wird diess Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpflichten, als die Geberinnen voraussetzen, – eine sehr schwermüthige Geschichte!

  66.

  Die Stärke der Schwachen. – Alle Frauen sind fein darin, ihre Schwäche zu übertreiben, ja sie sind erfinderisch in Schwächen, um ganz und gar als zerbrechliche Zierathen zu erscheinen, denen selbst ein Stäubchen wehe thut: ihr Dasein soll dem Manne seine Plumpheit zu Gemüthe führen und in's Gewissen schieben. So wehren sie sich gegen die Starken und alles "Faustrecht".

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  Sich selber heucheln. – Sie liebt ihn nun und blickt seitdem mit so ruhigem Vertrauen vor sich hin wie eine Kuh: aber wehe! Gerade diess war seine Bezauberung, dass sie durchaus veränderlich und unfassbar schien! Er hatte eben schon zu viel beständiges Wetter an sich selber! Sollte sie nicht gut thun, ihren alten Charakter zu heucheln? Lieblosigkeit zu heucheln? Räth ihr also nicht – die Liebe? Vivat comoedia!

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  Wille und Willigkeit. – Man brachte einen Jüngling zu einem weisen Manne und sagte: "Siehe, das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird!" Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. "Die Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben: und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüsst und gebessert werden, – denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde." – "Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!" Der weise Mann antwortete: "Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, – so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade: wer könnte für sie des Oels und der Milde genug haben." – Was Oel! Was Milde! rief ein Anderer aus der Menge; "Man muss die Weiber besser erziehen! – Man muss die Männer besser erziehen," sagte der weise Mann und winkte dem Jünglinge, dass er ihm folge. – Der Jüngling aber folgte ihm nicht.

  69.

  Fähigkeit zur Rache. – Dass Einer sich nicht vertheidigen kann und folglich auch nicht will, gereicht ihm in unsern Augen noch nicht zur Schande: aber wir schätzen Den gering, der zur Rache weder das Vermögen noch den guten Willen hat, – gleichgültig ob Mann oder Weib. Würde uns ein Weib festhalten (oder wie man sagt "fesseln") können, dem wir nicht zutrauten, dass es unter Umständen den Dolch (irgend eine Art von Dolch) gegen uns gut zu handhaben wüsste? Oder gegen sich: was in einem bestimmten Falle die empfindlichere Rache wäre (die chinesische Rache).

  70.

  Die Herrinnen der Herren. – Eine tiefe mächtige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört, zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, an die wir für gewöhnlich nicht glauben: wir glauben mit Einem Male daran, dass es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen geben könne, fähig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschliessungen und Aufopferungen, fähig und bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Manne, über das Geschlecht hinaus, zum leibhaften Ideale geworden ist. Zwar sollen solche Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade nicht diesen Begriff vom Weibe geben: gewöhnlich sollen sie den idealen männlichen Liebhaber, zum Beispiel einen Romeo, darstellen; aber nach meiner Erfahrung zu urtheilen, verrechnet sich dabei das Theater und der Musiker, der von einer solchen Stimme solche Wirkungen erwartet, ganz regelmässig. Man glaubt nicht an diese Liebhaber: diese Stimmen enthalten immer noch eine Farbe des Mütterlichen und Hausfrauenhaften, und gerade dann am meisten, wenn Liebe in ihrem Klange ist.

  71.

  Von der weiblichen Keuschheit. – Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung der vornehmen Frauen, ja vielleicht giebt es nichts Paradoxeres. Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen und die äusserste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge in die Seele zu geben. Alle "Ehre" des Weibes steht im Grunde nur hier auf dem Spiele: was verziehe man ihnen sonst nicht! Aber hierin sollen sie unwissend bis in's Herz hinein bleiben: – sie sollen weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken für diess ihr "Böses" haben: ja das Wissen ist hier schon das Böse. Und nun! Wie mit einem gra
usigen Blitzschlage in die Wirklichkeit und das Wissen geschleudert werden, mit der Ehe – und zwar durch Den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pflicht, Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott und Thier und was Alles sonst noch! in Einem empfinden müssen! – Da hat man in der That sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der seines Gleichen sucht! Selbst die mitleidige Neugier des weisesten Menschenkenners reicht nicht aus, zu errathen, wie sich dieses und jenes Weib in diese Lösung des Räthsels und in diess Räthsel von Lösung zu finden weiss, und was für schauerliche, weithin greifende Verdachte sich dabei in der armen aus den Fugen gerathenen Seele regen müssen, ja wie die letzte Philosophie und Skepsis des Weibes an diesem Puncte ihre Anker wirft! – Hinterher das selbe tiefe Schweigen wie vorher: und oft ein Schweigen vor sich selber, ein Augen-Zuschliessen vor sich selber. – Die jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu erscheinen; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art Frechheit. – Die Frauen empfinden leicht ihre Männer als ein Fragezeichen ihrer Ehre und ihre Kinder als eine Apologie oder Busse, – sie bedürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. – Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein!

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  Die Mütter. – Die Thiere denken anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen als das productive Wesen. Vaterliebe giebt es bei ihnen nicht, aber so Etwas wie Liebe zu den Kindern einer Geliebten und Gewöhnung an sie. Die Weibchen haben an den Kindern Befriedigung ihrer Herrschsucht, ein Eigenthum, eine Beschäftigung, etwas ihnen ganz Verständliches, mit dem man schwätzen kann: diess Alles zusammen ist Mutterliebe, – sie ist mit der Liebe des Künstlers zu seinem Werke zu vergleichen. Die Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht; und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter der Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist: – es sind die männlichen Mütter. – Bei den Thieren gilt das männliche Geschlecht als das schöne.

  73.

  Heilige Grausamkeit. – Zu einem Heiligen trat ein Mann, der ein eben geborenes Kind in den Händen hielt. "Was soll ich mit dem Kinde machen? fragte er, es ist elend, missgestaltet und hat nicht genug Leben, um zu sterben." "Tödte es, rief der Heilige mit schrecklicher Stimme, tödte es und halte es dann drei Tage und drei Nächte lang in deinen Armen, auf dass du dir ein Gedächtniss machest: – so wirst du nie wieder ein Kind zeugen, wenn es nicht an der Zeit für dich ist, zu zeugen." – Als der Mann diess gehört hatte, gieng er enttäuscht davon; und Viele tadelten den Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit gerathen hatte, denn er hatte gerathen, das Kind zu tödten. "Aber ist es nicht grausamer, es leben zu lassen?" sagte der Heilige.

  74.

  Die Erfolglosen. – Jenen armen Frauen fehlt es immer an Erfolg, welche in Gegenwart Dessen, den sie lieben, unruhig und unsicher werden und zu viel reden: denn die Männer werden am sichersten durch eine gewisse heimliche und phlegmatische Zärtlichkeit verführt.

  75.

  Das dritte Geschlecht. – "Ein kleiner Mann ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, – aber die kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hochwüchsigen Frauen, von einem anderen Geschlechte zu sein" – sagte ein alter Tanzmeister. Ein kleines Weib ist niemals schön – sagte der alte Aristoteles.

  76.

  Die grösste Gefahr. – Hätte es nicht allezeit eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes – ihre "Vernünftigkeit" – als ihren Stolz, ihre Verpflichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschämt wurden, als die Freunde "des gesunden Menschenverstandes": so wäre die Menschheit längst zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr der ausbrechende Irrsinn – das heisst eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am Menschen-Unverstande. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und die grösste Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele Dinge mit einander übereinzustimmen und sich ein Gesetz der Uebereinstimmung aufzulegen – gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind. Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten hat; – aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, dass man im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fortwährend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je; fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen jene Allverbindlichkeit – die Erforscher der Wahrheit voran! Fortwährend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine neue Lüsternheit bei feineren Köpfen: und schon das langsame Tempo, welches er für alle geistigen Processe verlangt, jene Nachahmung der Schildkröte, welche hier als die Norm anerkannt wird, macht Künstler und Dichter zu Ueberläufern: – diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat! Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, – ach! ich will das unzweideutigste Wort gebrauchen – es bedarf der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschütterlicher Tactschläger des langsamen Geistes, damit die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr,- wir bedürfen ewig der Vertheidigung! – Nun, es lässt sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.

  77.

  Das Thier mit gutem Gewissen. – Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa's gefällt – sei diess nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini's und Bellini's) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) – bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman? "Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!" – das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, – er ist und war niemals volksthümlich! Volksthümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: – und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. – Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen zu müssen.

  78.

  Wofür wir dankbar sein sollen. – Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen
ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, – die Kunst, sich vor sich selber "in Scene zu setzen". So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. – Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem Sünder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen.

  79.

  Reiz der Unvollkommenheit. – Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, – ja er hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle "Werke" hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an's Ziel gekommen zu sein.

 

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