Book Read Free

Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

Page 9

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


  80.

  Kunst und Natur. – Die Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen: – in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. – Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten Lagen gut und ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Abweichung von der Natur ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in der Hand zurückbehält: – so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles "natürliches" Stammeln und Schreien zu finden weiss. Hier soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit – zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht- und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid, – Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, – gewiss nicht die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der Athener gieng in's Theater, um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! – man vergebe mir diese Ketzerei! – Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, – es liegt Nichts an den Reden! – so denken sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen – und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben nicht "auf's Wort" geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unterschied, das ist die schöne Unnatürlichkeit, derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Melodie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) –, aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. – Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner's? Vielleicht anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort und Musik seiner Schöpfungen vor der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess – so schien es mir – höre man weder die Worte noch selber die Musik.

  81.

  Griechischer Geschmack. – "Was ist Schönes daran? – sagte jener Feldmesser nach einer Aufführung der Iphigenie – es wird Nichts darin bewiesen!" Sollten die Griechen so fern von diesem Geschmacke gewesen sein? Bei Sophokles wenigstens wird "Alles bewiesen".

  82.

  Der esprit ungriechisch. – Die Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden: welche gar zu gerne einen kleinen Sprung in's Gegentheil machen und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge solcher kleiner Sprünge in's Gegentheil seine gesellige Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verräth. Logik erscheint ihnen als nothwendig, wie Brod und Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. – Der gesellige Sinn der Griechen war bei Weitem weniger entwickelt, als der der Franzosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren Witzbolden, daher – ach! Man wird mir schon diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele! – Est res magna tacere – sagt Martial mit allen Geschwätzigen.

  83.

  Uebersetzungen. – Man kann den Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Uebersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneille's, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Alterthums in einer Weise, zu der wir nicht den Muth mehr hätten – Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das römische Alterthum selbst: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Alterthums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urtheilen dürfen): was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte! – als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter liessen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. Sie scheinen uns zu fragen: "Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen? denn todt ist er nun einmal: wie hässlich ist alles Todte!" – Sie kannten den Genuss des historischen Sinnes nicht; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der That, man eroberte damals, wenn man übersetzte, – nicht nur so, dass man das Historische wegliess: nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle – nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.

  84.

  Vom Ursprunge der Poesie. – Die Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen so: "gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt ist die Poesie gekommen? – diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit der Mittheilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die trotzdem wie ein Hohn auf alle nützliche Zweckmässigkeit überall auf Erden aufgeschossen ist un
d noch aufschiesst! Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal loskommen wollen – das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspirirt!" Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen reden, – sie haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist! Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in's Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine sehr grosse Nützlichkeit – damals als man den Rhythmus in die Rede dringen liess, jene Gewalt die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heisst und den Gedanken neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht: freilich eine abergläubische Nützlichkeit! Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher an's Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere Vorstellung: und diese gerade hat vielleicht am mächtigsten zur Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den Phythagoreern erscheint sie als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung: aber längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, – das war das Recept dieser Heilkunst. Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles einen Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling; mit ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf's Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte: – alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern weil seine Nachwirkung sanft macht. – Und nicht nur im Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, – jede Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein. Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde – die Griechen sagten, der Hexameter sei in Delphi erfunden –, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen – das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt: er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apollo's, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann. – Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, – und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf Dichtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben? – und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: Viel ja lügen die Sänger! " –

  85.

  Das Gute und das Schöne. – Die Künstler verherrlichen fortwährend – sie thun nichts Anderes –: und zwar alle jene Zustände und Dinge, welche in dem Rufe stehen, dass bei ihnen und in ihnen der Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese ausgelesenen Dinge und Zustände, deren Werth für das menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt, Sind die Objecte der Künstler: sie liegen immer auf der Lauer, dergleichen zu entdecken und in's Gebiet der Kunst hinüberzuziehen. Ich will sagen: sie sind nicht selber die Taxatoren des Glückes und des Glücklichen, aber sie drängen sich immer in die Nähe dieser Taxatoren, mit der grössten Neugierde und Lust, sich ihre Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden sie, weil sie ausser ihrer Ungeduld auch die grossen Lungen der Herolde und die Füsse der Läufer haben, immer auch unter den Ersten sein, die das neue Gute verherrlichen, und oft als Die erscheinen, welche es zuerst gut nennen und als gut taxiren. Diess aber ist, wie gesagt, ein Irrthum: sie sind nur geschwinder und lauter, als die wirklichen Taxatoren. – Und wer sind denn diese? – Es sind die Reichen und die Müssigen.

  86.

  Vom Theater. – Dieser Tag gab mir wieder starke und hohe Gefühle, und wenn ich an seinem Abende Musik und Kunst haben könnte, so weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich nicht haben möchte, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls emportreiben möchte, – jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat. Was würden jene Menschen überhaupt von "höheren Stimmungen" wissen, wenn es nicht rauscherzeugende Mittel und idealische Peitschenschläge gäbe! – und so haben sie ihre Begeisterer, wie sie ihre Weine haben. Aber was ist mir ihr Getränk und ihre Trunkenheit! Was braucht der Begeisterte den Wein! Vielmehr blickt er mit einer Art von Ekel auf die Mittel und Mittler hin, welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund erzeugen sollen, – eine Nachäffung der hohen Seelenfluth! – Wie? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen, – vor Schlafengehen, bevor er in seine Höhle kriecht? Man schickt ihn in's Theater und setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und müden Augen? Menschen, deren Leben keine "Handlung", sondern ein Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und schauen fremdartigen Wesen zu, denen das Leben mehr ist, als ein Geschäft? "So ist es anständig", sagt ihr, "So ist es unterhaltend, so will es die Bildung!" – Nun denn! So fehlt mir allzuoft die Bildung: denn dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft. Wer an sich der Tragödie und Komödie genug hat, bleibt wohl am Liebsten fern vom Theater; oder, zur Ausnahme, der ganze Vorgang – Theater und Publicum und Dichter eingerechnet – wird ihm zum eigentlichen tragischen und komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück dagegen ihm nur wenig bedeutet. Wer Etwas wie Faust und Manfred ist, was liegt dem an den Fausten und Manfreden des Theaters! – während es ihm gewiss noch zu denken giebt, dass man überhaupt dergleichen Figuren aufs Theater bringt. Die stärksten Gedanken und Leidenschaften vor Denen, welche des Denkens und der Leidenschaft nicht fähig sind – aber des Rausc
hes! Und jene als ein Mittel zu diesem! Und Theater und Musik das Haschisch-Rauchen und Betel-Kauen der Europäer! Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte der Narcotica! – Es ist beinahe die Geschichte der "Bildung", der sogenannten höheren Bildung!

  87.

  Von der Eitelkeit der Künstler. – Ich glaube, dass die Künstler oft nicht wissen, was sie am besten können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf etwas Stolzeres gerichtet haben, als diese kleinen Pflanzen zu sein scheinen, welche neu, seltsam und schön, in wirklicher Vollkommenheit auf ihrem Boden zu wachsen vermögen. Das letzthin Gute ihres eigenen Gartens und Weinbergs wird von ihnen obenhin abgeschätzt, und ihre Liebe und ihre Einsicht sind nicht gleichen Ranges. Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich rührenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick Etwas "aus dem Nichts" entstehen kann; er schöpft am glücklichsten von Allen aus dem unteren Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die herbsten und widrigsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit den süssesten zusammengelaufen sind; er kennt jenes müde Sich-schieben der Seele, die nicht mehr springen und fliegen, ja nicht mehr gehen kann; er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als der Orpheus alles heimlichen Elendes ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst unwürdig erschien, und mit Worten namentlich nur zu verscheuchen, nicht zu fassen war, – manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele: ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Charakter liebt vielmehr die grossen Wände und die verwegene Wandmalerei! Es entgeht ihm, dass sein Geist einen anderen Geschmack und Hang hat und am liebsten still in den Winkeln zusammengestürzter Häuser sitzt: – da, verborgen, sich selber verborgen, malt er seine eigentlichen Meisterstücke, welche alle sehr kurz sind, oft nur Einen Tact lang, – da erst wird er ganz gut, gross und vollkommen, da vielleicht allein. – Aber er weiss es nicht! Er ist zu eitel dazu, es zu wissen.

 

‹ Prev