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Kiss Me Once

Page 12

by Stella Tack


  Nach wenigen Minuten kam Ivy von den Toiletten zurück. Ein frisch geflochtener Zopf hing ihr über der Schulter und das Sonnenlicht brachte ihre hellen Haare zum Leuchten. Sie lächelte einen Studenten an, der etwas zu ihr sagte. Die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken tanzten und ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog. Sie war wirklich hübsch. So ganz anders als auf den Fotos, die ich gesehen hatte. Am meisten verblüffte mich jedoch diese widersprüchliche Ausstrahlung: irgendwie unsicher, aber gleichzeitig sehr selbstbewusst. Eine gefährliche Mischung. Wie salzig und süß.

  »Fertig?«, fragte ich, als Ivy wieder neben mir stand. Sie blickte mich kurz an, dann nickte sie. Fuck! Dieser Augenaufschlag. Und diese langen Wimpern.

  Nachdem Ivy sich ihre Handtasche geschnappt hatte, gingen wir zusammen in Richtung des Springbrunnens, der so sehr nach Chlor roch, dass es mir beinahe sämtliche Nasenhaare wegätzte. Ivy blieb trotzdem bewundernd davor stehen. Die Moskitos, die trotz der Mittagszeit um das Wasser herumschwirrten, schienen sie nicht im Geringsten zu stören. Sie holte ihr Handy heraus, lehnte sich mit der Hüfte gegen den Brunnen und schoss ein Selfie. Dabei war ihr allerdings die Sonne, die plötzlich hinter einer Wolke hervortrat, in die Quere gekommen, und sie hatte im falschen Moment die Augen zusammengekniffen.

  Amüsiert beobachtete ich, wie sie frustriert das Ergebnis betrachtete. Als ich über ihre Schulter einen Blick auf das Foto warf, musste ich schnell ein Lachen unterdrücken, denn auf dem Schnappschuss kniff sie das Gesicht so sehr zusammen, dass sie wie ein Mops aussah. Ein niedlicher Mops.

  »Soll ich ein Foto von dir machen?«, bot ich an. Ich konnte mir das Lachen nicht länger verkneifen.

  Ivy guckte beleidigt. »Das ist gar nicht so einfach«, verteidigte sie sich.

  »Ein Selfie zu machen?«, fragte ich ungläubig.

  »Die Sonne hat mich geblendet.«

  »Dann darfst du eben nicht in die Sonne schauen.«

  »Ach ja? Na dann zeig mal her, wenn du es besser kannst.«

  Ich seufzte, nahm ihr das Handy aus der Hand, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an mich. »Sag: Ryan ist der Größte!«, wies ich sie an und in dem Moment, in dem sie mich wütend anstarrte, drückte ich den Auslöser. »Bitte schön.« Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis.

  Ivy lugte darauf und schnaubte. »Das zählt nicht! Du hast die Sonnenbrille auf.«

  »Schön, dann machen wir eben noch eins ohne Brille.« Ich schob mir gerade das billige Gestell auf den Kopf, als uns eine Stimme unterbrach.

  »Hey, soll ich vielleicht ein Foto von euch machen?« Vor uns stand eine junge Studentin. Ihr Gesicht wurde von einem schwarzen Bob eingerahmt und sie schien uns schon die ganze Zeit beobachtet zu haben, denn sie gab sich sichtlich Mühe, uns nicht auszulachen.

  »Nein danke«, sagte Ivy im gleichen Augenblick, in dem ich »Ja bitte« sagte. Genervt sahen wir uns an.

  »Komm schon«, raunte ich ihr zu. »Sonst hast du am Ende gar kein Erinnerungsfoto von deinem ersten Tag an der UCF.«

  Ivy pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie funkelte mich noch ein paar Sekunden wütend an, doch dann nickte sie. »Okay, dann bitte ja«, sagte sie an das Mädchen gewandt.

  Ivy wollte ihr gerade ihr Handy geben, als das Mädchen stattdessen eine runde gelbe Kamera hochhielt. »Wenn ihr wollt, kann ich auch ein Polaroid machen? Dann könnt ihr das Foto gleich mitnehmen«, bot sie an.

  Ivy blinzelte irritiert. »Willst du Geld dafür haben?«

  »Ach was.« Das Mädchen winkte ab und stellte lächelnd die Kamera ein. »Ich studiere Fotografie im dritten Jahr. Dieses Jahr ist Polaroid dran und ich wollte sowieso ein wenig üben. Ihr zwei seid ein süßes Paarmotiv.«

  »Wir sind kein …«, fing Ivy an.

  Doch ich zog sie bereits an mich. »Lächeln, Liebling«, sagte ich grinsend.

  Als Antwort kniff sie mich in die Seite. Es tat nicht wirklich weh, sondern kitzelte eher. Ein Lachen entkam mir und genau in diesem Augenblick drückte das Mädchen auf den Auslöser. Es klickte und schon schoss ein kleines weißes Bildchen heraus. Die Studentin senkte die Kamera, nahm das Bild heraus und begann, es in der Luft zu wedeln.

  »Eigentlich bringt das gar nichts«, erklärte sie uns amüsiert. »Aber ich kann nicht anders.« Sie musterte das Foto und reichte es uns, sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis. »Hier, bitte schön! Ist toll geworden.«

  »Danke«, sagte Ivy und nahm das Bild entgegen.

  Neugierig schaute ich über ihre Schulter und musste kurz schlucken. Fuck! Auf dem Bild sahen wir wirklich aus wie ein Paar. Meine Arme waren um Ivys Taille geschlungen. Ich lachte und sah dabei tatsächlich … glücklich aus. Ivy selbst berührte mich mit einer Hand an der Brust. Sie sah zu mir auf und ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, während ihre hellen Haare in der Sonne glänzten.

  »Es ist … nett«, presste ich hervor. »Danke noch mal«, fügte ich an das Mädchen gewandt hinzu.

  »Kein Ding. Ich muss dann aber auch schon weiter. Viel Spaß noch euch beiden«, sagte sie und winkte uns zum Abschied noch kurz zu, während sie in Richtung Parkanlage davoneilte.

  »Kann ich es behalten?«, fragte Ivy zögernd, nachdem das Mädchen außer Hörweite war, und drückte das Polaroid an ihre Brust. »Oder willst du es haben?«

  Ich schnaubte nur. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich immer noch einen Arm um Ivys Taille geschlungen hatte. Schnell ließ ich sie los und trat zwei Schritte zurück. Ivy atmete einmal tief durch.

  Ich räusperte mich verlegen. »Was willst du noch sehen?«, erkundigte ich mich schnell, damit die Situation nicht noch unangenehmer wurde.

  Sie schluckte. »Nichts mehr. Ich glaube, ich will zurück ins Wohnheim und meine restlichen Sachen auspacken.«

  Ich nickte und setzte die Brille wieder auf. Schweigend gingen wir zurück ins Wohnheim. Unsere Schritte knirschten auf dem Kies und ich merkte, wie Ivy ein paar Studenten sehnsüchtig beim Frisbeespielen beobachtete. Ich notierte mir, so ein Ding zu besorgen.

  »Brauchst du noch was?«, erkundigte ich mich knapp, als wir ihr Zimmer erreichten.

  Sie ließ sich aufs Bett fallen und schüttelte müde den Kopf. »Nein, du kannst jetzt wieder zu den beiden Mädchen gehen.«

  »Welche Mädchen?«, fragte ich verwirrt.

  Sie schnaubte. »Na, die beiden auf dem Sofa. Beide blond und die eine lacht wie eine Hyäne.«

  Ach die! Stimmt. Wie hieß sie noch mal? Clara? Cory? Keine Ahnung, aber ihr Lachen war wirklich fürchterlich gewesen.

  Ich ignorierte Ivys bissigen Kommentar und verdrehte nur die Augen. »Ich bin dann in meinem Zimmer«, sagte ich, damit sie mich nicht suchen musste, und schloss die Tür.

  Ivy

  »Ivy! Aufwachen!«

  »Mhmm…« Brummend streckte ich mich unter der Decke. »Jetzt nicht, Maria. Ich will noch kein Frühstück. Ist noch viel zu früh«, nuschelte ich in mein Kissen. Eigentlich sollte sie das wissen. Vor zehn Uhr ging bei mir gar nichts.

  »Ivy, hast du den Wecker nicht gehört?«, fragte Maria ungeduldig. Seit wann klang Maria so genervt? Und seit wann war ihre Stimme so tief?

  »Mhpf, war zu laut«, nuschelte ich und war bereits wieder dabei wegzudämmern, als mich etwas im Gesicht traf. Kerzengerade schoss ich nach oben und sah mich verwirrt um. Mein Blick fiel auf einen Flipflop, der neben meinem Kopfkissen lag. Also das hätte Maria niemals getan.

  »Ivy, steh endlich auf!«

  »Was?« Erst jetzt entdeckte ich Ryan, der im Türrahmen stand und mich wütend anstarrte.

  »Stell den verdammten Wecker nicht immer ab«, rief er und knallte die Tür wieder hinter sich zu.

  Stöhnend ließ ich mich zurück in mein Kissen sinken. Warum zum Teufel hatte dieser Typ eigentlich die Schlüsselkarte für mein Zimmer? Ich musste ihm dieses Ding so bald wie möglich abnehmen. Er konnte schließlich nicht einfach nach Lust und Laune hier hereinspazieren. Noch dazu völlig ohne Grund. Es war noch nicht mal hell draußen – zumindest war es das nicht, als mein Wecker zum ers
ten Mal geklingelt und ich auf die Snooze-Taste gedrückt hatte. Ich liebte diese Taste wirklich sehr. Doch als ich jetzt zum Fenster sah, war es eindeutig hell draußen. Sehr hell sogar. Schnell schielte ich auf meinen Wecker und … Oh mein Gott, ich kam zu spät zur ersten Vorlesung! Der Schock traf mich wie ein Kübel kaltes Wasser. Plötzlich hellwach, sprang ich aus dem Bett und zog das Erstbeste aus dem feinen Klamottenstapel. Ein weiches Stück Stoff, das sich als quietschgelbes Kleid entpuppte. Nicht gerade das Outfit, das ich am ersten Tag an der Uni hatte tragen wollen, aber zur Not tat es das auch. Kaum hatte ich es angezogen, fiel mir siedend heiß ein, dass ich mich noch duschen musste. Meine Haare waren ungewaschen und die Zähne hatte ich auch noch nicht geputzt. So konnte ich niemals in die Vorlesung gehen.

  Schnell schlüpfte ich in meine Flipflops, schnappte mir ein Handtuch samt Toilettenbeutel und sauste zur Tür hinaus. Dabei hätte ich fast Ryan über den Haufen gerannt, der mit verschränkten Armen neben meinem Zimmer stand und wartete.

  »Was machst du? Wir müssen los«, rief er mir hinterher.

  Ich ignorierte die Frage und eilte an Ryan vorbei in Richtung Bad. Dabei hätte ich beinahe zwei Studentinnen über den Haufen gerannt, die bereits auf dem Weg nach draußen waren. »Sorry!«, entschuldigte ich mich und bog um die Ecke. Abrupt blieb ich stehen, als ich die Schlange von Studentinnen sah, die vor den Sanitäreinrichtungen standen und offensichtlich warteten. Oh nein! Mir war bereits gestern aufgefallen, wie wenig Duschen es für ein ganzes Stockwerk gab, und ich hatte mich schon gefragt, wie das morgens vonstattengehen sollte. Die Antwort war wohl: gar nicht. Oder: früher aufstehen. Mist. Ungeduldig stellte ich mich an und versuchte abzuschätzen, wie lang es noch dauern würde, bis ich duschen oder zumindest aufs Klo gehen konnte.

  Eigentlich hatte ich gestern noch alles für den heutigen Tag vorbereiten wollen, doch dann war ich bei einer Folge Stranger Things einfach eingeschlafen.

  Heute Morgen hatte mein Wecker zwar geklingelt, aber ich … ich war es so gewohnt, dass mich Maria oder ein anderes Dienstmädchen aufweckte, dass ich einfach weitergeschlafen hatte. Ich Idiotin! So viel zum Thema Selbstständigkeit.

  Gerade überlegte ich, einfach ungeduscht in die Uni zu gehen, als mich eine große Hand an der Schulter packte. Erschrocken wirbelte ich herum. Doch es war nur Ryan, der mich bereits den Gang zurückschleifte.

  »Was machst du? Ich muss da rein!«, jammerte ich und bemerkte, wie uns ein paar Studenten verwundert nachschauten.

  Ryan schnaubte nur ungerührt. »Wenn wir so lange warten, kommst du viel zu spät. Hier!«, sagte Ryan und hielt mir eine Tür auf. »Geh da rein, ich halte Wache.«

  Entsetzt starrte ich auf den Männerwaschraum. »Das geht nicht«, rief ich mit leicht panischer Stimme.

  Ryan warf mir einen ungeduldigen Blick zu. »Natürlich geht das! Er ist im Augenblick leer und wenn jemand reinwill, halte ich ihn auf, bis du wieder draußen bist.«

  »Aber … ich … das ist mir peinlich«, sagte ich und tapste unruhig von einem Bein aufs andere. Ich musste dringend aufs Klo.

  »Peinlicher, als zu stinken?«, fragte Ryan.

  Ich schluckte. »Ich … oh, okay, drei Minuten. Danke!«

  Hastig betrat ich den Männerwaschraum und lief sofort zur Toilette. Als ich endlich nicht mehr kurz davor war, an akutem Nierenversagen zu sterben, machte ich eine schnelle Katzenwäsche und flocht mir die Haare zu einem Fischgrätenzopf. Prüfend musterte ich mich im Spiegel. Okay, so betrachtet war das gelbe Kleid doch ganz süß. Ein wenig knapp vielleicht, aber es betonte sehr vorteilhaft meine Figur. Make-up ließ ich im Beutel, da dafür keine Zeit mehr war. Meine dunklen Augenringe kaschierte ich stattdessen mit einer großen Sonnenbrille.

  Als ich wenig später wieder zur Tür hinaushuschte, wartete Ryan bereits ungeduldig auf mich. Wortlos hielt er mir meine gepackte Unitasche entgegen.

  »Danke«, nuschelte ich. Offenbar hatte er doch nicht wie versprochen die ganze Zeit vor der Tür Wache gehalten.

  »Glaub ja nicht, dass ich dich jeden Tag aus den Federn schmeiße«, knurrte er nur, stieß sich ab und ging nach unten.

  Ich warf noch schnell mein Handtuch und meinen Toilettenbeutel in mein Zimmer, dann folgte ich Ryan in gebührendem Abstand. Trotz Sonnenbrille kniff ich die Augen zusammen, als wir aus der abgedunkelten Eingangshalle ins Freie traten.

  Meine erste Vorlesung fand bei Mrs Garcia statt. Um Punkt acht Uhr morgens, was ich persönlich schon als unzumutbar empfand. Doch dass die Sonne dabei auch noch so unverschämt hell leuchten musste, war fast zu viel für einen morgendlichen Zombie wie mich. Ryan hingegen war offensichtlich ein Frühaufsteher – was ihn in meinen Augen um einiges weniger attraktiv machte. Okay, das war gelogen. Ryan war heiß wie die Hölle, vor allem, wenn er so wie jetzt neben mir über den Campus rannte. Aber zumindest dämpfte es ein wenig meine Schwärmerei für ihn. Vor allem, wenn er in Zukunft jeden Tag um sieben Uhr morgens vor meiner Tür stand und meinen Schlaf der Gerechten störte.

  Im Moment hatte ich allerdings ganz andere Sorgen. Eine davon war, dass ich keinen Sport-BH trug. Und der wäre gerade wirklich nützlich gewesen. Aber wer hätte auch ahnen können, dass ich gleich am ersten Tag Frühsport treiben müsste?

  Zum Glück war das Truman House, in dem die Literaturvorlesungen stattfanden, relativ nahe gelegen. Der Park entpuppte sich dabei als besonders praktische Abkürzung. Vor allem, wenn man wie wir quer über die Wiese lief und einfach sämtliche Verbotsschilder ignorierte, die das Betreten des Rasens untersagten. Als wir endlich in das Gebäude stürmten und die Treppen zum Vorlesungssaal A hochliefen, schnaufte ich wie ein Walross auf Landgang. Ryan hingegen besaß die Frechheit, nicht mal so zu tun, als hätte ihn dieser Sprint auch nur halb so fertiggemacht wie mich. Ich hasste Menschen mit Kondition.

  Schnaufend lehnte ich mich gegen die Wand und fühlte mich absolut elend, mein Blutzucker war im Keller und ich hätte noch im Stehen einfach weiterschlafen können.

  »Alles okay?«, fragte Ryan. Er musterte mich kritisch.

  »Mhm, nur ein bisschen schwindlig«, gab ich zu und atmete tief durch. Und noch mal.

  Etwas raschelte und plötzlich hatte ich eine braune Tüte unter der Nase, aus der es verführerisch duftete. Verwundert hob ich den Blick und sah, wie Ryan kommentarlos eine Thermoskanne aus seiner Tasche holte und mir beides in die Hände drückte.

  »Was ist das?«, fragte ich verwirrt. Ich stand völlig auf dem Schlauch.

  »Dein Frühstück«, sagte er knapp.

  Als ich es endlich schaffte, die Thermoskanne aufzuschrauben, stieg mir sofort der Geruch nach süßem Kaffee in die Nase. Genau das, was ich jetzt brauchte.

  »Das ist …« Ich spürte einen Kloß im Hals und schluckte. »Danke«, flüsterte ich.

  Ryan nickte nur und deutete mit dem Kopf auf den Vorlesungssaal, in den schon die ganze Zeit Studenten strömten. »Bereit für deinen ersten Tag?«, fragte er leise. Er beobachtete mich aufmerksam, als wollte er keine einzige Bewegung verpassen.

  Ich warf einen zögernden Blick in den Saal, klammerte mich an meinem Essen fest und nickte langsam. Bemüht lässig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Plötzlich spürte ich eine federleichte Berührung in meinem Rücken und kurz darauf wurde ich von Ryan praktisch in den Raum geschoben.

  Die Atmosphäre in dem Raum traf mich vollkommen unvorbereitet. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wahrscheinlich stand mein Mund offen, denn was ich sah, war kein Vorlesungssaal, sondern eher eine Arena mit einer endlos langen Reihe von schmalen Bänken und Stühlen, die sich stufenartig nach oben schraubte. Und ausnahmslos jede Bank war bereits besetzt. Es mussten grob geschätzt über zweihundert Studenten sein. Ein paar saßen sogar auf den Stufen und hatten ihre Rucksäcke zu einem Schreibtisch umfunktioniert. Papier raschelte, Stifte klickten und Tastaturen klapperten bei denen, die einen Laptop mitgebracht hatten.

  Hier trafen so viele Arten von Menschen jeder Herkunft, Haut- und Haarfarbe aufeinander, dass ich mich wie erschlagen fühlte. Meine Sinne waren schlichtweg überreizt. Aber zum Gl
ück blieb Ryan neben mir entspannter. Er war die Ruhe in dem Sturm, der gerade über mir zusammenschlug. Lediglich sein Blick verriet ein gewisses Maß an Anspannung und Wachsamkeit, während er blitzschnell die Menschenreihen absuchte. Sondierte er den Raum nach freien Plätzen oder nach einer potenziellen Bedrohung? Beides schien mir hier nicht vorhanden zu sein.

  Zittrig holte ich Luft, als Ryan plötzlich schützend einen Arm um meine Schultern legte. Für eine Sekunde versteifte ich mich wegen der plötzlichen Nähe, die wir die letzten beiden Tage über peinlichst zu vermeiden versucht hatten. Für jeden Außenstehenden musste es wie eine nette Geste wirken, aber ich wusste, dass er mir nur helfen wollte. Und tatsächlich. Das sanfte Streicheln seines Daumens beruhigte meinen Puls so weit, dass ich wieder normal atmen konnte. Dankbar sah ich zu ihm auf.

  »Keine Angst, ich pass auf dich auf«, flüsterte er und zog mich näher an sich heran. Mein Herz schlug schneller, während Ryan die Führung übernahm und zielstrebig die hinteren Bankreihen anvisierte. Keine Ahnung, wo er da noch einen Platz finden wollte, denn hier hinten teilten sich sogar zwei Studenten einen Stuhl.

  »Warte kurz«, sagte er und ließ mich vor der Bankreihe stehen, während er sich geschickt einen Weg über Rucksäcke und ausgestreckte Beine hinweg zu zwei Mädchen bahnte, die mir seltsam bekannt vorkamen. Erst ein paar Sekunden später wurde mir klar, wo ich sie schon mal gesehen hatte. Ryan hatte vorgestern mit ihnen auf dem Sofa geflirtet. Durch den enormen Lärmpegel konnte ich nicht verstehen, was er zu ihnen sagte, doch seine ganze Haltung hatte sich verändert. Flirtete er etwa gerade mit den beiden? Perplex beobachtete ich, wie sich Ryans Lippen zu einem zweideutigen Lächeln verzogen, während sich seine Lider zu einem Schlafzimmerblick herabsenkten. Eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, als er den Kopf zur Seite neigte und man den Ansatz eines Tattoos erkennen konnte, das sich sein Schlüsselbein hinaufzog.

  Am Schlimmsten war jedoch, wie die Mädchen ihn ansahen. Wie ein verboten köstliches Appetithäppchen, das man ihnen vor die Nase gesetzt hatte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Ich presste die Lippen fest zusammen und versuchte, nicht in Ryans Richtung zu schauen. Doch es gelang mir nicht wirklich. Und als ich sah, wie sich die Grübchen in seinen Wangen vertieften, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Die Mädchen kicherten. Ich wusste nicht, was Ryan gerade gesagt hatte, aber plötzlich standen sie auf und verließen die Bankreihe. Dabei ignorierten sie mich vollkommen. Ryan jedoch gab mir einen Schubs in Richtung der freien Plätze.

 

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