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Kiss Me Once

Page 13

by Stella Tack


  »Setz dich schon mal hin. Ich komme gleich«, raunte er.

  »Was machst du? Ich dachte, du passt auf mich auf?«, zischte ich aufgebracht, doch Ryan winkte nur lässig ab, während er den beiden Mädchen hinterhereilte. Wütend sah ich ihm nach.

  Schließlich setzte ich mich doch auf einen der frei gewordenen Plätze. Eine schwere Parfümwolke hing über den Stühlen in der Luft, sodass mir fast ein wenig schlecht davon wurde. Am liebsten hätte ich mich woanders hingesetzt, aber da der Raum vollkommen überfüllt war und die Alternative – nämlich der Boden – doch nicht so reizvoll war, blieb ich missmutig sitzen. Ob es auffallen würde, wenn ich Ryan in der Nacht mit seinem eigenen Kissen erstickte?

  Da ich immer noch das Gefühl hatte, jeden Augenblick umzukippen, goss ich mir einen Kaffee ein und lugte in die braune Tüte. Darin waren ein Blaubeermuffin und ein Panino. Die Geste war so nett, dass ich verwirrt die Augen schloss. Ich verstand Ryan MacCain einfach nicht. Warum musste er nur immer den arroganten Bad Boy raushängen lassen, wenn er sich doch offensichtlich Gedanken um mich machte?

  Seufzend schloss ich die Augen und schlürfte an dem Kaffee, und mein Magen entspannte sich langsam. Ryan musste wider besseren Wissens ein Pfund Zucker in den Kaffee geschüttet haben. Er war einfach perfekt.

  »Entschuldige, ist der Platz neben dir noch frei?«, erklang plötzlich eine Stimme neben mir.

  Ich öffnete die Augen, um zu sehen, wer mich da angesprochen hatte, und verschluckte mich prompt an meinem Getränk. Holy Moly! Vor mir stand ein Abercrombie-Model – mit durchdringend blauen Augen. Der Typ schnaufte, als wäre er gerannt, und Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Sein T-Shirt schmiegte sich so eng an seine Brust, als hätte es ihm jemand aufgemalt. Und wenn er lächelte, blitzte ein Grübchen an seinem Kinn auf.

  Beinahe schüchtern deutete er auf den Platz neben mich. »Ist da noch frei?«, hakte er nach. Seine Stimme klang etwas verunsichert, was aber vielleicht daran lag, dass ich ihn einfach nur anstarrte.

  »Äh, nein, äh, ja … klar, setz dich«, sagte ich völlig überfordert von so viel männlicher Perfektion und erntete dafür ein schönes Lächeln, für das andere bestimmt viel Geld ausgegeben hätten. Und ich musste es wissen. Meine makellosen Zähne hatten ein halbes Vermögen gekostet.

  »Danke«, stieß er hervor und ließ sich neben mich fallen. Erschöpft schloss er kurz die Augen und fuhr sich gähnend durch das glatte blonde Haar. »Gott sei Dank bin ich noch rechtzeitig! Ich habe verschlafen und dachte schon, ich komme als einziger Vollidiot zu spät in die erste Vorlesung«, murmelte er und sah dabei genauso fertig aus, wie ich mich fühlte. Offenbar war ich doch nicht die einzige Person auf dieser Welt, die mit dem frühen Aufstehen überfordert war. Sofort wurde mir leichter ums Herz.

  »Keine Sorge.« Ich schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen. »Ich bin auch gerade erst vor einer Minute reingewankt.« Wie zur Bestätigung knurrte mein Magen laut und wütend. Ich verzog gequält das Gesicht.

  »Ich glaube, dein Magen redet gerade mit meinem«, sagte er lachend.

  »Auch kein Frühstück gehabt?«, fragte ich schmunzelnd, griff in die Tüte und holte mein Panino heraus.

  »Nein«, murmelte er betrübt. »Meine Froot Loops waren leer.«

  Ich lachte. »Du magst Froot Loops?«, fragte ich ihn und biss genüsslich in mein Panino.

  Er räusperte sich verlegen. Offensichtlich war es ihm doch ein bisschen peinlich. Aber schließlich zuckte er mit den Schultern. »Ein Teil von mir ist wohl nie darüber hinweggekommen, zehn geworden zu sein«, witzelte er, lehnte sich zurück und sah sich im Vorlesungssaal um, während ich den Rest meines Paninos aufaß.

  Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass unser nettes Geplänkel damit beendet war, als er sich wieder zu mir drehte.

  »Weißt du«, sagte er leise. »Das Dümmste war, dass auf der Schachtel sogar ein Post-it klebte, auf dem Neue kaufen! stand.« Er fing an zu lachen. Und kurz darauf stimmte ich mit ein, weil, na ja, mir hätte das auch passieren können.

  Ich biss mir auf die Unterlippe und musterte meinen Sitznachbarn neugierig. Seine Haltung war entspannt, während er mit einem Stift herumspielte, der schwer und gleichzeitig teuer aussah. Als Vorschulkind hatte ich einen ähnlichen besessen. Ich erinnerte mich noch genau an die rote Kappe und die Gravur am Ende, die ich damals zwar noch nicht hatte lesen können, die ich aber gerne mit der Fingerspitze nachgefahren war. Der Stift hatte ein kleines Vermögen gekostet und war so schwer, dass ich ihn mit meiner kleinen Hand kaum hatte halten können.

  »Schreibst du nicht mit deinem Notebook mit?«, fragte ich neugierig und deutete auf die restlichen Studenten, die fast alle ihre Laptops vor sich hatten.

  Er schüttelte den Kopf. »Ich muss gestehen, ich habe nicht daran gedacht, ihn mitzunehmen. Ich dachte, am ersten Tag würde es noch ein bisschen entspannter zugehen.«

  »Sieht wohl nicht so aus.« Ich seufzte und holte meinen Muffin heraus. Der Geruch nach Blaubeeren und süßem Teig stieg mir in die Nase und gerade als ich hineinbeißen wollte, hörte ich neben mir ein lautes Knurren. Ich wandte den Kopf und sah, wie mein Sitznachbar rot wurde. Ich unterdrückte ein Grinsen. »Willst du ein Stück?«, bot ich ihm an.

  »Ach nein, danke«, sagte er. »Mein Magen ist nur unglaublich indiskret. Ich werde gleich ein Wörtchen mit ihm reden müssen.« Genau in dem Moment knurrte sein Magen noch lauter. Was meinen Sitznachbarn nur noch röter werden ließ.

  »Hier, nimm.«

  »Wirklich?« Seine Augen wurden groß, als ich meinen Muffin in zwei Hälften brach und ihm eine davon hinhielt. Dankbar nahm er sie an. Zufrieden aßen wir vor uns hin, während wir uns hin und wieder schüchtern anlächelten.

  Nach einer Weile räusperte er sich. »Fühlst du dich auch ein wenig überfordert von so vielen Leuten?«, erkundigte er sich, während er hungrig zu dem Rest des Muffins in meiner Hand schielte. Seufzend brach ich das kleine Stück entzwei und reichte ihm eine Hälfte.

  »Ziemlich«, gestand ich und nahm noch einen Schluck von meinem Kaffee.

  »Ich war vorher an einer privaten Highschool, da waren wir genau sechs Schüler in einer Klasse«, erzählte er mir. »Im Vergleich dazu ist das hier …« Er verstummte und ließ seinen Blick über den überfüllten Hörsaal schweifen.

  Aber er musste auch gar nicht weiterreden. Ich wusste genau, was er meinte. Bei mir war es ähnlich gewesen. Ich hatte jahrelang Privatunterricht bekommen und nur wenige Kurse, wie etwa Reiten und Fechten, in einer Gruppe gehabt. Mich hatte der Anblick von so vielen Studenten in einem Saal auch vollkommen überwältigt. Wenn Ryan nicht bei mir gewesen wäre …

  »Bist du hier eigentlich in einer Verbindung?«, unterbrach er meine Gedanken und maß mich mit neugierigen Blicken.

  »Nein, ich wohne momentan noch im Wohnheim. Allerdings habe ich überlegt, einer beizutreten«, schwindelte ich, um das Gespräch nicht sofort im Keim zu ersticken, indem ich zugab, dass Verbindungen für mich nicht infrage kamen. »Bist du denn Mitglied in einer?«

  Er nickte und fuhr sich durchs Haar. »Ja, ich bin Mitglied bei Delta Phi. Gestern fand die Begrüßungsparty statt, darum auch der Brummschädel.« Er gähnte ausgiebig. Dabei sah ich etwas an seinem Handgelenk aufblitzen, das meine Aufmerksamkeit erregte. Eine Uhr. Aber nicht einfach irgendeine Uhr. Es war zwar keine Rolex, aber wenn mich nicht alles täuschte, handelte es sich um eine Junghans aus der aktuellen Saison. Und die war aus echtem Platin.

  Irritiert setzte ich meinen prüfenden Blick auf, der mir schon so einige Male dabei geholfen hatte zu erkennen, was ein echter Diamant und was doch nur funkelndes Glas war. Mit dem schlichten T-Shirt und der Jeans wirkte er zwar wie der hübsche Junge von nebenan. Aber als ich ihn genauer musterte, fielen mir einige Kleinigkeiten auf, die auf ziemlich viel Geld hindeuteten. Seine Bootsschuhe von Armani waren unverkennbar aus Echtleder, und die Tasche, die er achtlos neben sich hatte fallen lassen, war wahrscheinlich ein unbezahlbares Einzelstück. Aber vor allem seine aufrechte und betont lässige Haltung war ein eindeutiger Beweis. Niemand
sonst würde den Rücken so gerade halten. Ich zermarterte mir das Hirn, ob ich ihm schon mal begegnet war. Möglich wäre es.

  Mein Sitznachbar schien meinen neugierigen Blick bemerkt zu haben, denn er streckte mir plötzlich die Hand entgegen. »Nachdem wir schon so feierlich den Muffin geteilt haben, sollten wir uns vielleicht auch vorstellen« Er grinste schief. Sein linker Schneidezahn war ein wenig spitz. »Hi, ich bin …«

  »… im Weg. Das ist mein Platz.«

  Wir zuckten gleichzeitig zusammen, als ein Schatten über uns auftauchte. Ryan stand direkt vor uns und bedachte meinen Sitznachbarn mit einem solch kühlen Blick, dass ich nur erschrocken blinzeln konnte.

  Mein Banknachbar riss überrascht die Augen auf und hob abwehrend die Hände. »Wow, Mann, kein Stress. Ich habe gefragt, ob ich mich hinsetzen kann, und sie hat es mir erlaubt.« Er deutete auf mich.

  Ryan funkelte mich an. »So, hat sie das?«

  Am liebsten hätte ich die Augen verdreht, aber ich hielt mich zurück und zuckte nur mit den Schultern. »Du warst nicht da und ich wusste ja nicht, wann du zurückkommst.« Das ob überhaupt hing vorwurfsvoll zwischen uns in der Luft.

  »Tja, es ist trotzdem mein Platz«, sagte Ryan mürrisch. »Also solltest du die Biege machen, Kumpel.«

  Mein Banknachbar zögerte. Doch Ryans einschüchternder Blick schien schließlich seine Wirkung zu zeigen, denn er seufzte schwer und schnappte sich seine Tasche.

  »Sicher, sorry. Wir sehen uns bestimmt noch.« Er lächelte mir zwar zum Abschied zu, aber leider sah es nicht mehr ganz so freundlich aus wie vorhin. Was ich ihm nicht mal zum Vorwurf machen konnte. Er musste sich gerade ziemlich verarscht vorkommen.

  Kaum war mein Sitznachbar aufgestanden, setzte Ryan sich wortlos neben mich und starrte finster an die Tafel, die gefühlt kilometerweit unter uns war.

  »Du hättest ihn nicht von seinem Platz werfen müssen«, sagte ich wütend.

  Er sah auf und blähte die Nasenflügel. »Sein Platz? Es ist mein Platz! Ich habe ihn besorgt.« Ja, aber wie. Die Mädels waren auch nirgends mehr zu sehen. Wahrscheinlich lagen sie noch wundgeküsst in der nächsten Besenkammer und schwelgten in Erinnerung an die besten fünf Minuten ihres Lebens.

  »Aber du brauchst den Platz doch gar nicht. Du hättest genauso gut in einer Ecke stehen und auf mich aufpassen können.« Meine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut.

  Ryan schnaubte. »Nicht bei so vielen Leuten. Das kann ich tun, wenn die Vorlesungssäle ein wenig leerer sind. Von mir aus warte ich dann auch draußen. Aber solange hier die Hölle los ist, bleibe ich neben dir sitzen. Punkt.«

  »Wolltest du dich nicht so wenig wie möglich in mein Leben einmischen?«

  »Wolltest du dich nicht bemühen, uns das Leben nicht unnötig schwer zu machen?«

  »Was hat das denn damit zu tun?«

  Ryan sog scharf die Luft ein. Gerade als er zu einer Antwort ansetzte, wurde eine Tür aufgerissen und eine dürre Frau stöckelte in den Raum. Es war, als hätte jemand auf die Stummtaste gedrückt. Zweihundert Studenten waren auf einen Schlag still. Die Frau ging in die Mitte des Saals, knallte ihren Aktenordner auf den Tisch und bedachte die Klasse – wenn man sie denn so nennen konnte – mit einem strengen Blick.

  »Ich bin Mrs Garcia und ich unterrichte Klassische Literatur. Falls Sie der Meinung sind, dass Ihnen hier wie in der Highschool das Händchen gehalten wird und wir jede einzelne Zeile miteinander durchgehen werden, dann empfehle ich Ihnen, sich entweder einen anderen Studienzweig zu suchen oder Ihre Vorstellungen von universitärem Lernen grundsätzlich zu überdenken. In meiner Vorlesung lernen Sie keine Vokabeln oder lesen brav Ihre Texte vor. Sie lernen hier komplexe Textstrukturen zu analysieren, zu kritisieren und vor allem zu kommentieren. Gelesen wird zu Hause. Ihre Arbeiten werden mit Noten bewertet. Wer keine Arbeit abliefert, bekommt auch keine Note und damit auch nicht die nötigen Credits, um ins nächste Semester zu kommen. Wir behandeln in diesem Kurs Werke, von denen ich persönlich überzeugt bin, dass sie Ihnen in Ihrer Entwicklung als junge Erwachsene weiterhelfen. Ob Sie in meinen Unterricht kommen oder ihn schwänzen, interessiert mich nicht. Aber wenn Sie den Aufwand betreiben und hierherkommen, erwarte ich stillschweigenden Fleiß und einen offenen Geist. Das heißt im Klartext: keine Handys, kein Internetsurfen, keine Briefzettelchen. Wenn ich auch nur einen davon durch meinen Klassenraum fliegen sehe, befördere ich den Unruhestifter in Kreatives Schreiben Teil 1. Dort können Sie Ihre Ergüsse der Welt mitteilen, ohne mich dabei zu stören.«

  Wow. Das war mal eine Ansage. Mrs Garcia war in etwa so kuschelig wie eine Käsereibe. Sie war gerade mal zwei Minuten im Raum und schon hatte ich Respekt vor ihr – und panische Angst, in diesem Fach durchzufallen. So ähnlich schien es auch den anderen Studenten zu gehen, denn man hörte nur noch einheitliches Klicken von Kugelschreiberminen, die ausgefahren wurden, oder das Klackern von Laptoptastaturen. Mrs Garcia warf uns einen scharfen Blick zu, wartete, bis die Aufmerksamkeit sämtlicher Studenten wieder auf sie gerichtet war, und begann mit ihrer Vorlesung.

  Ryan

  Ich beobachtete Ivy, wie sie über ihren Block gebeugt dasaß und hektisch mitschrieb. Der ganze Saal schien in einen angsterfüllten, fast schon panischen Zustand verfallen zu sein. Ich hatte nicht mal einen Block dabei, geschweige denn einen Stift. Die Uni wusste von mir und meiner Funktion als Begleitschutz. Offiziell war ich nur als Gaststudent eingeschrieben und musste keine Credits abliefern, um ins nächste Semester zu kommen. Demnach war ich auch nicht gezwungen, so zu tun, als würde ich dem Unterricht folgen, während ich eigentlich Ivy anstarrte und dieses Kleid verfluchte.

  Sie hatte ein knallgelbes Kleid angezogen – und ich wurde auch noch scharf dabei. Angestrengt versuchte ich, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, was bei dem langweiligen Geplapper über Literatur ziemlich schwer war. Ständig ging es nur um Liebe, Leid und Krieg. Und das alles in einer Sprache, die absolut nicht mehr aktuell war. Am liebsten würde ich Mr Darcy sagen, wo er sich seinen Stolz hinstecken konnte. Diese Art von Büchern war das Langweiligste, womit man sich meiner Meinung nach beschäftigen konnte. Außer vielleicht mit Briefmarken sammeln.

  Die Professorin schien schwer motiviert zu sein, ihre Studenten schon am ersten Tag zur Verzweiflung zu treiben. Sie warf mit dem Beamer so schnell eine PowerPoint-Folie nach der anderen an die Wand und kommentierte das Ganze mit Jahreszahlen und französischen Namen, dass es an ein Wunder grenzte, wenn man auch nur ein Drittel von dem Stoff mitbekam. Die Hälfte der Studenten hatte bereits nach zehn Minuten aufgegeben – sowohl mit Zuhören als auch mit Mitschreiben. Andere starrten nur noch panisch auf die Dozentin.

  Ivy kritzelte indessen verbissen weiter. Immer wieder verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, während sie konzentriert auf die Folie starrte, ohne dabei auch nur einmal im Schreiben innezuhalten. Unauffällig schielte ich auf ihre Mitschrift und musste ein Grinsen unterdrücken. Für ein Mädchen hatte sie eine ziemliche Sauklaue. Wie sie das jemals wieder entziffern wollte, war mir ein Rätsel.

  Auf einmal steckte sie fluchend ihren Stift hinters Ohr, wühlte hektisch in ihrer Tasche herum und holte etwas heraus.

  »Nicht lachen«, zischte sie und setzte sich eine riesige Brille auf die Nase, mit der sie aussah wie eines der Chipmunks ….

  Ich prustete los. Erst zwei Sekunden später wurde mir klar, dass die Warnung mir gegolten hatte. Schnell versuchte ich, das Lachen mit einem Hustenanfall zu überspielen. »Nette Brille«, presste ich erstickt hervor, wofür ich einen unauffälligen Mittelfinger unter der Bank kassierte.

  Himmel! Dafür, dass Ivy immer noch fluchte wie eine Zwölfjährige, warf sie mit ganz schön krassen Gesten um sich. Unauffällig beobachtete ich sie weiter dabei, wie sie hektisch auf ihrem Zettel herumschmierte und verzweifelt versuchte, alles mitzuschreiben. Als sie meinen Blick bemerkte, funkelte sie mich wütend an. »Hör auf, mich anzuglotzen.«

  »Warum?«, flüsterte ich zurück. »Bist du etwa immer noch sauer wegen vorhin?«

  »Sauer? Ich? Nicht doch. Ich finde es toll, wenn du
mich wegen zwei Parfumtussis einfach sitzen lässt.«

  »Parfumtussis?«, echote ich verblüfft.

  »Ja! Es stinkt hier immer noch nach Hello Kitty Pink Wild Tiger.«

  »So einen Duft gibt es doch gar nicht.«

  »Ach ja? Willst du wetten?«

  »Niemals. Ivy, sag mal, bist du etwa eifer…«

  »Die Dame mit den pinken Haaren und der junge Herr mit den Nieten im Gesicht! Möchten Sie uns nicht an Ihrem sicher überaus interessanten Gespräch teilhaben lassen?«

  Keine Ahnung, wer mehr zusammenzuckte, Ivy, ich oder der gesamte Saal. Ivy sah panisch auf, als die Professorin uns quer durch den Saal ansprach, während ich mir auf die Lippen biss. Scheiße.

  »W…wie bitte?« Ivys Stimme war nur noch ein hohes Piepsen und sie sah aus wie Bambi im Scheinwerferlicht.

  Mrs Garcia schnaubte und trat mit ihren Storchenbeinen ein paar Schritte nach vorne. »Da wir bereits geklärt haben, dass ich keine unnötigen Störungen in meinem Kurs wünsche, und ich Sie für eine kluge Person halte, würde ich gerne wissen, warum Sie es als nötig erachten, meinen Unterricht zu stören. Entweder Sie diskutieren gerade über den wesentlichen Grund der Spätentwicklung der Amerikanischen Literatur im 19. Jahrhundert oder es handelt sich um einen Notfall. In beiden Fällen würde mich Ihr Getuschel brennend interessieren.«

  »Ich … ähm … ich …«

  Hektisch blätterte Ivy durch ihre Unterlagen und suchte nach einer Notiz, die sie als Diskussionsgrund vorschieben konnte. Doch ihre Mitschrift war so unleserlich, dass sie höchstens Ort, Zeit und Datum würde vorlesen können. Mit jeder quälenden Sekunde, die verstrich, wurde sie blasser.

 

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