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Kiss Me Once

Page 38

by Stella Tack


  Alex knirschte mit den Zähnen. »Allerhöchstens bi«, murmelte er und ließ sich von einem Kellner Wein nachschenken.

  Benjamin sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sich über uns amüsieren oder sich für uns genieren sollte. Wahrscheinlich tat er beides.

  Zum Glück kam in dem Moment der Nachtisch. Sofort stürzte ich mich auf meine Vanillecreme mit Karamellsoße.

  »Also?«, bohrte Alex nach und spülte den Alkohol mit noch mehr Alkohol runter. Den Pudding ignorierte er. »Wie hast du es geschafft, das Herz deiner süßen Lucy zu erobern?«

  »Ich weiß nicht«, sagte Benjamin und stützte das Kinn in der Hand ab. »Ich glaube, wir hatten einfach nur Glück. Der Anfang war eine absolute Katastrophe. Ich sah sie im Büro und war sofort Hals über Kopf verliebt. Aber ich brauchte fast eine Woche, bis ich mich traute, sie anzusprechen.« Er lachte bei der Erinnerung. »Und danach haben wir uns stundenlang unterhalten.«

  Benjamin sah gerade so glücklich aus, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Ich musste wieder an Ryan denken und wie sehr ich ihn vermisste. Schnell schüttelte ich mich und atmete ein paarmal tief durch, bevor ich Benjamin ein Lächeln schenkte.

  »Ich hoffe, du lädst mich zur Hochzeit ein, Benjamin.«

  »Gerne, Ivy. Du warst mir in den letzten Jahren immer die angenehmste Gesellschaft, weißt du? Deshalb habe ich meist darum gebeten, neben dir sitzen zu dürfen.«

  Und ich hatte mich immer nur beschwert.

  Das Knarren eines Stuhls riss mich aus meinen Gedanken. »Sehr geehrte Gäste«, begann mein Vater, der mit einem Glas Champagner in der Hand aufgestanden war. »Ich denke, das Essen wird bald abgeräumt, und wenn Sie nichts dagegen haben, werden wir uns alle in etwa einer halben Stunde im Four Seasons treffen. Ihre Zimmer sind reserviert und für den Transfer ist gesorgt. Ich hoffe, Sie haben bisher einen amüsanten und unterhaltsamen Abend gehabt. Ich danke Ihnen allen, dass Sie RedEnergies und meine Familie unterstützen.« Er hob feierlich sein Glas und die Gesellschaft applaudierte höflich.

  »Na endlich, mir ist schon der Hintern eingeschlafen«, murmelte Alex, während wir nach draußen gingen. »Und wenn ich mir noch länger Benjamins Liebesglück hätte anhören müssen, hätte ich womöglich etwas Blödes getan.«

  »Etwas Blödes wie Jeff anzurufen und ihm zu sagen, dass du ein Idiot bist?«, witzelte ich.

  »Nein, das weiß er schon«, brummte Alex.

  Ich tätschelte ihm mitleidig den Arm. Armer Alex.

  Hinter uns konnte ich Mrs Bloomsbury hören, die Benjamin gerade fragte, was er studierte. Höflich wie immer begann er, ihr von seinem abgeschlossenen Architekturstudium zu erzählen.

  Da wir die ersten waren, die das Haus verlassen hatten, konnten wir uns aussuchen, mit welcher Limousine wir fahren wollten. Zur Auswahl standen die schwarze, die schwarze und die schwarze. Alex strebte Letzterer entgegen und zu meiner Verwunderung sah ich Harry, der uns die Tür aufhielt.

  »Harry! Was ist mit Maxton? Ist ihm was passiert?«, fragte ich alarmiert.

  Harry schenkte mir ein knappes Lächeln, während er sich die Krawatte zurechtrückte. Auf seiner Nase saß eine Sonnenbrille, obwohl es bereits stockdunkel war. »Maxton fühlt sich heute nicht gut. Er hat sich daher freigenommen. Ich habe schon für einen Ersatz gesorgt.«

  »Oh … sag Maxton bitte alles Gute von mir. Ich hoffe, er ist bald wieder fit.«

  »Mach ich, Ivy. Als Entschädigung fahre ich euch.«

  Ich grinste dankbar und ließ mich neben Alex in den Sitz fallen. In der Limousine war locker Platz für sechs Leute, weshalb Harry noch wartete, bis Benjamin und Mrs Bloomsbury ebenfalls eingestiegen waren, bevor er losfuhr.

  »Ein schöner Abend«, sagte die alte Frau und lächelte uns alle der Reihe nach an. »Und mein Enkel hatte schon Angst, ich würde mich langweilen.«

  »Ihr Enkel?« Verwirrt sah ich Benjamin an, doch der hob nur unschuldig die Hände.

  »Ja, dieser junge Mann hier«, krächzte sie und tätschelte Alex die Wange.

  Überrascht zog ich eine Augenbraue hoch und musterte Alex, der plötzlich rot wie eine Tomate war. »Ihr seid verwandt? Das hast du noch gar nicht erwähnt, Alex.«

  Er verdrehte die Augen. »Manchmal vergisst sie, wer ich bin, und dann weiß sie es plötzlich wieder. Da soll mal einer durchblicken.«

  »Heißt du dann Alexander Bloomsbury van Klemmt?«, fragte ich amüsiert und auch Benjamin konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

  Alex presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kein Kommentar.«

  Mrs Bloomsbury lachte ebenfalls. »Oh nein. Er heißt Alexander Ludwig Maria van Klemmt Bloomsbury.«

  Der ganze Wagen schüttelte sich vor Lachen – außer Alex, der zu beschäftigt damit war, seine Oma strafend anzusehen.

  »Oma!«

  »Lass mir doch den Spaß, mein Schatz. Wir sollten diesen Abend genießen. Ich sag nur Feminismus und so.«

  Holy Moly! Ich liebte diese Frau. Meine eigene Oma hatte mich immer nur angebrüllt.

  Wenige Augenblicke später blieb das Auto stehen und Harry sah uns im Rückspiegel an. »Wir sind da. Alle aussteigen und viel Spaß.«

  Ich warf einen Blick nach draußen, doch durch die getönten Fenster war nicht viel zu erkennen, außer dass wir vor dem Four Seasons standen. Dutzende Menschen – ich nahm an, dass es Journalisten waren – tummelten sich neben einer Absperrung. Dass mein Vater diese ganze Sponsoringsache in die Öffentlichkeit hatte ziehen wollen, wurde mir immer unangenehmer. Spätestens nach heute wäre ich niemals unerkannt an der UCF geblieben. Vielleicht war es doch ganz gut, dass ich dort nicht mehr studierte.

  »Bereit?«, fragte Alex mit seltsamer Stimme.

  Ich nickte und sah den Schatten eines breitschultrigen Mannes, der uns die Tür öffnete und sowohl Benjamin als auch Mrs Bloomsbury nach draußen half. Alex – ganz der Gentleman – deutete mir an, vor ihm auszusteigen.

  Draußen herrschte ein regelrechtes Blitzlichtgewitter, sodass ich dankbar nach der helfenden Hand des Security griff. Jetzt durfte ich nur nicht auf den Saum meines Kleides treten. Aber natürlich versagte ich auf ganzer Linie. So viel Publikum machte mich einfach nervös! Da wuchs der Leistungsdruck, der in diesen High Heels auch so schon enorm hoch war, noch mehr. Und gerade als ich mich aufrichten und einen Schritt vom Auto weggehen wollte, verfing sich mein Absatz.

  Ich fluchte, spürte, wie ich den Halt verlor … und wurde von zwei starken Armen aufgefangen. Peinlich! Peinlich! Peinlich! Was musste der arme Bodyguard nur von mir denken? Er machte noch keine zwei Sekunden seinen Job und schon musste er mich retten.

  »Sorry … ähm … danke«, stammelte ich und vermied es, ihn anzusehen. Meine Wangen waren bestimmt knallrot.

  Der Security lachte. »Keine Ursache.«

  Ich erstarrte. Diese Stimme. Mein Herz schlug plötzlich schneller und als ich aufsah, hatte ich das Gefühl, als würde die Welt um mich herum stehen bleiben. »Ryan?«, hauchte ich ungläubig.

  Ryan zuckte beinahe beschämt mit den Schultern, während er sanft eine Hand auf meinen Rücken legte. Obwohl er mich kaum berührte, spürte ich seine Wärme sogar durch das Kleid hindurch. Ich blinzelte heftig und atmete ein paarmal tief ein und aus.

  Die Welt nahm wieder Fahrt auf, als sich Alex neben mich stellte und mir einen Arm um die Schultern legte.

  »Hey, Pitbull. Nette Frisur«, sagte er amüsiert.

  Ryan schnaubte leise.

  »D…deine Haare …«, stammelte ich. »Sie sind kurz.«

  »Ja, ich … das ist …« Ryan stockte. Seine Wangen färbten sich rot, während er sich verlegen über das Haar strich, das ihm jemand mit etwas Gel zurückgekämmt hatte. Die Frisur hob die markanten Züge seines Gesichts noch deutlicher hervor. Seine grünen Katzenaugen wirkten größer, seine Wangenknochen schärfer und als er mir ein Lächeln zuwarf, stockte mir fast der Atem.

  »Was zum …«, fing ich an, wurde aber von Alex unterbrochen.

  »Er erk
lärt es dir später, ohne Zeugen und so«, sagte er und zog mich vor die Journalisten, wo er sofort ein professionelles Lächeln aufsetzte. »Lächeln, Ivy!«

  Ich versuchte es, musste dabei aber die ganze Zeit zu Ryan hinübersehen. Während der Fotosession stand Ryan etwas abseits und beobachtete das Geschehen. Er war die Ruhe in Person, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Beine leicht gespreizt. Sein Gesicht wirkte blass und seine Miene unergründlich. Genau wie Harry hatte auch Ryan inzwischen eine Sonnenbrille aufgesetzt, die seine grünen Augen verdeckte. Und – oh mein Gott! Er trug einen Anzug! Samt Krawatte! In seinem Ohr erkannte ich einen Ohrstöpsel, durch den ihm offensichtlich gerade Anweisungen durchgegeben wurden, denn er nickte kurz, bevor er sanft meinen Ellenbogen nahm und mich ins Hotel brachte.

  Obwohl viele Gäste noch draußen standen und sich von den Journalisten ablichten ließen, hatten sich bereits erstaunlich viele Menschen im Empfangsbereich des Hotels versammelt. Während Alex ohne zu zögern auf sie zuging, um sie zu begrüßen, blieb ich einfach stehen und sah Ryan an.

  »Was ist mit deinen Piercings?«, fragte ich überrascht. Erst jetzt war mir aufgefallen, dass er sie rausgenommen hatte.

  Ryans Mundwinkel hoben sich. Ohne Piercing wirkte seine Unterlippe fast noch voller. Mein Blick blieb daran hängen und ich spürte, wie mir warm wurde.

  »Angst, was mit ihnen passiert ist?«, raunte er.

  »Ja, leben sie noch?«, hauchte ich.

  Er nickte ernst. »Keine Sorge, morgen kommen sie wieder dorthin, wo sie hingehören.«

  »Gott sei Dank«, stieß ich hervor und blinzelte irritiert auf das Glas Champagner, das ich plötzlich in der Hand hielt. Wo kam das denn her? Verwirrt sah ich auf und begegnete dem amüsierten Blick von Alex, der mir kurz zuprostete, bevor er sich wieder unter die Gäste mischte.

  »Was machst du hier?«, flüsterte ich.

  »Meinen Job«, sagte Ryan ruhig und holte mich mit diesem knappen Satz wieder in die Realität zurück.

  Da hatten wir es. Ich war sein Job. Das war ich immer gewesen. Und daran würde sich auch nichts ändern. Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen, um mich daran zu hindern, etwas Unüberlegtes zu tun. Am liebsten würde ich ihm alles an den Kopf werfen, was mich in den letzten Wochen nicht hatte schlafen lassen. Es gab so vieles, was ich ihm sagen wollte, was ich ihm ins Gesicht brüllen wollte. Allem voran, warum er nicht auf meine Nachrichten reagiert hatte. Und warum er jetzt plötzlich neben mir stand, als wäre nichts passiert, und dabei noch die Frechheit besaß, so unverschämt gut auszusehen.

  Ich atmete tief durch und musste mich mit Gewalt daran erinnern, dass ich hier eine Rolle zu spielen hatte. Heute Abend war ich Ivy Redmond, Tochter eines der reichsten Ölmagnaten Amerikas. Und Ryan MacCain war mein Bodyguard. Nicht mehr und nicht weniger. Ich konnte es mir nicht erlauben, ihm hier eine Szene zu machen oder mich in seine Arme zu werfen und ihn so lange zu küssen, bis er mich um Verzeihung bat.

  »Verstehe«, sagte ich daher nur und straffte die Schultern.

  Ohne ihn weiter zu beachten, ging ich auf die Gäste zu und begann, mich mit ihnen zu unterhalten. Gesichter, Namen und Gespräche verschwammen zu einem Einheitsbrei und ich lächelte, bis meine Wangen schmerzten. Als mein Vater endlich ankam und alle in den großen Festsaal bat, taten mir bereits die Füße weh. Diese High Heels waren die reinste Tortur.

  Ich wollte gerade ebenfalls in den Saal gehen, als Ryan mich zurückhielt. »Alles okay?«, fragte er besorgt.

  »Ja, alles bestens.«

  Ryan schnaubte leise und deutete mit dem Kopf auf meine Schuhe. »Du humpelst leicht. Hast du Blasen?«

  »Ja, aber geht schon …«

  »Nichts da«, unterbrach er mich und führte mich zu einem Stuhl. »Lass mal sehen.«

  Überrascht stützte ich mich an seiner Schulter ab, als er mir den rechten Schuh auszog und sich meine Ferse ansah. Mein Blick wanderte zu seinen dunklen Haaren, die im Nacken kurz und nur vorn in der Stirn ein wenig länger waren. Wer auch immer ihm die Haare geschnitten hatte, er hatte gewusst, was er tat. Sein würziger Geruch stieg mir in die Nase und meine Gedanken, die ohnehin schon aus der Bahn geworfen waren, kamen noch mehr ins Trudeln.

  »Ryan, hör auf. Es geht schon«, sagte ich leise und drückte ihn weg.

  Ryan richtete sich auf und sah mich entschlossen an. »Warte hier!«, befahl er. »Ich hole ein Pflaster.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand in Richtung Rezeption.

  Fassungslos starrte ich ihm hinterher, während mein Herz so schnell pochte, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Was passierte hier gerade? Jede Sekunde mit ihm war die reinste Folter und gleichzeitig das, wonach ich mich so lange gesehnt hatte.

  Seufzend sah ich mich um. Inzwischen waren alle Gäste im Festsaal verschwunden, was bedeutete, dass ich mich beeilen musste. In nur wenigen Minuten würde mein Vater seine Rede halten und RedEnergies und das geplante Re-Branding vorstellen. In den nächsten zwei Stunden würde erst mein Vater genau erklären, wie er mit dem Geld der Sponsoren das Unternehmen neu ausrichten wollte, und danach würden einige unserer Sponsoren versuchen, noch mehr Investoren an Land zu ziehen. Und ich – das hatte mein Vater sich gewünscht oder besser gesagt mir befohlen – sollte die Abschlussrede halten und mich im Namen der Familie bedanken.

  Ein kluger Schachzug, wie ich fand. Vorausgesetzt ich schaffte es, mich an meinen Text zu erinnern. Was ich im Moment aber bezweifelte, denn das Denken fiel mir gerade etwas schwer. Es wurde sogar noch schlimmer, als Ryan zurückkam, sich wieder vor mich hinhockte, meinen nackten Fuß nahm und mir das Pflaster auf die Ferse klebte. Seine Hände, die warm und ein wenig rau auf meiner Haut lagen, jagten einen angenehmen Schauer über meinen Rücken. Als ich den Blick von seinen Fingern losriss, die sanft über meinen Knöchel massierten, trafen sich unsere Blicke. Seine Augen hatten einen dunklen Ton angenommen und in den smaragdgleichen Tiefen lag so viel … so viel Ryan. So viel Gefühl und gleichzeitig so viel Angst und Schmerz, dass mir fast ein wenig schwindelig wurde. Ich wusste nicht, was er gerade dachte, aber er presste die Lippen fest zusammen und ich sah die rhythmische Bewegung seines Kehlkopfes, als er schluckte.

  »Wir müssen reden«, murmelte er.

  Ich nickte wie ferngesteuert.

  »Aber später«, sagte er, schob mir den Schuh wieder auf den Fuß und half mir auf. »Du musst rein«, sagte er.

  Richtig, die Rede.

  »Später«, wiederholte ich und ließ mich von Ryan in den Saal führen. Seine Hand lag dabei die ganze Zeit warm an meinem Rücken.

  Kaum hatte ich Platz genommen, betrat mein Vater die Bühne. Applaus brandete los und verebbte erst wieder, als er mit seiner Rede begann. Meine Gedanken drifteten zu Ryan. Ich spürte immer noch ein Kribbeln auf meiner Haut. Und obwohl ich mich zwang, nicht in seine Richtung zu sehen, konnte ich seinen Blick deutlich fühlen. Die ganze Zeit.

  Ryan

  Ich kannte diesen Blick. Während ich bei den anderen Securitys am Rand des Saals stand, konnte ich kein einziges Mal wegsehen. Wie lange hatten wir uns jetzt nicht gesehen? Es kam mir wie eine beschissene Ewigkeit vor. Wie hatte ich nur glauben können, dass ich einfach zurückkommen könnte und alles wäre wieder wie zuvor? Was hatte mich überhaupt dazu bewogen, heute hierher zu kommen? Alex? Ich selbst? Sehnsucht? Dummheit? Oder … Hoffnung? Aber worauf?

  Ich wusste, dass Hoffnung nur eine Illusion war, die einen teuer zu stehen kommen konnte. Und ein Blick in ihr Gesicht hatte gereicht. Die Entschlossenheit und Stärke, die in Ivys Augen schimmerte, hatte mir eins klargemacht: Am Ende des Abends würde ich derjenige sein, der auf die Knie gehen und um Vergebung bitten würde. Was auch immer ich hier erreichen wollte, was auch immer ich von Ivy einfordern wollte, es würde mich einen hohen Preis kosten. Ich würde darum kämpfen müssen.

  Mr Redmonds Eröffnungsrede und die darauffolgenden Sponsoren-Beiträge zogen in völliger Bedeutungslosigkeit an mir vorbei. Ich konnte einfach nicht aufhören, Ivy anzusehen. Sie trug ein schulterfreies, hautenges silbernes Kleid
mit einem Schlitz an der Seite, der bis Kniehöhe reichte. Das helle Haar tanzte in dichten Locken um ihre Schultern und das Licht, das von der Bühne auf sie fiel, verlieh ihrer Haut einen beinahe schon perlmuttähnlichen Schimmer. Sie sah aus wie eine Eisprinzessin. Stolz reckte sie das Kinn und ließ sich kein einziges Mal anmerken, ob sie sich langweilte oder nicht. Die Ivy, die dort saß, war mir völlig fremd. Sie wirkte in diesem Augenblick durch und durch wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

  Als der Mann am Rednerpult – ich hatte seinen Namen vergessen – sein Loblied auf RedEnergies zu Ende geröchelt hatte, stand Ivy langsam auf. Keine Ahnung, wie dieses Mädchen zuvor noch über ihr eigenes Kleid hatte stolpern können. Sie bewegte sich so elegant und zielstrebig, dass praktisch der gesamte Raum die Luft anhielt.

  Ich sah kurz zu Mr und Mrs Redmond, die in der ersten Reihe saßen und Ivy aufmerksam beobachteten. Mrs Redmond sah aus, als wollte sie am liebsten aufspringen und ihrer Tochter eine nicht existente Fussel von der Schulter wischen. Carl Redmond hingegen schien sich nicht entscheiden zu können, ob er stolz oder nervös sein sollte. Aber das wusste ich in diesem Augenblick auch nicht. Ivy jagte mir gerade einen ziemlichen Respekt ein. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, dass ich trotz der Wochen, die ich mit ihr verbracht und in denen ich ihre Qualitäten zu schätzen gelernt hatte, eine wichtige Seite von ihr noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Eine Seite, die ich eindeutig unterschätzt hatte.

  Ivy stellte sich an das Rednerpult, räusperte sich kurz und ließ ihren Blick über die Zuschauermenge schweifen. Obwohl der Leistungsdruck, der dabei auf ihr lastete, enorm sein musste, ließ sie sich nichts anmerken. Nur ihre Hände zitterten leicht – was ich aber nur sehen konnte, weil ich im richtigen Winkel stand. Damn, hatte sie ein gutes Pokerface drauf.

  Sie räusperte sich ein weiteres Mal und wartete, bis das Wispern im Raum abgeklungen war, bevor sie zu sprechen begann.

  »Guten Abend, meine Damen und Herren. Für diejenigen unter Ihnen, zu denen ich heute Abend noch keinen persönlichen Kontakt hatte und die ich noch nicht begrüßen konnte, möchte ich mich noch einmal kurz vorstellen. Mein Name ist Ivy Redmond und ich habe vor einigen Monaten mein Studium begonnen. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie dieser wichtige Schritt in Ihrem Leben für Sie gewesen ist. Aber egal, wie lange er nun schon zurückliegt, ich denke, Sie alle wissen noch ganz genau, was Sie damals gefühlt haben: Vorfreude auf das Ungewisse, aber gleichzeitig auch lähmende Angst vor dem Scheitern. Ich selbst habe nicht einmal im Ansatz geahnt, was auf mich zukommen würde. Selbstverständlich hatte ich Hoffnungen, Wünsche und Vorstellungen – allesamt mehr oder weniger konkret. Aber ich kann Ihnen versichern, dass alles, was ich mir vorgenommen hatte … absolut nicht funktioniert hat.«

 

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