Kiss Me Once
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Sie hörte sich weise und aufgeräumt an. Dabei wusste ich, wie sie damals gelitten hatte, als ihre Eltern so viel gestritten hatten. Sie wollte immer bei mir übernachten. Und später hatten sie sich ebenfalls getrennt. Es stimmte, dass meine Eltern jung gewesen waren. Ich war ein Unfall gewesen. So erklärte ich es mir jedenfalls.
»Aber eine Sache verstehe ich nicht, Emma. Sie hat doch eine Menge Kohle von deinem Vater bekommen, zusätzlich zu ihrem eigenen Geld. Warum lebt ihr dann so sparsam in Deutschland?«
»Sie hat nichts von ihm angenommen. Es war ja auch ihre Entscheidung zu gehen.«
»Echt jetzt? Warum das denn nicht?«, fragte Jen entgeistert. »Jede andere Frau in New York hätte deinen Vater bluten lassen. Er muss ihr wirklich gute Gründe gegeben haben, warum sie gegangen ist. Und du weißt, dass ich deinen Vater eigentlich liebe.« Sie legte versöhnlich ihre Hand auf mein Bein.
»O mein Gott. Ich hoffe, das ist vorbei!« Ich boxte sie kurz in den Oberarm, musste aber grinsen, als ich mich daran erinnerte, dass Jen in meinen Vater verknallt gewesen war wie ein Golden-Retriever-Welpe in sein Herrchen. Sie hatte den Film American Beauty gesehen, für den sie viel zu jung gewesen war. Danach hatte sie geglaubt, dass es völlig in Ordnung sei, den Vater einer Freundin anzuhimmeln. Tatsächlich war es einfach unglaublich peinlich gewesen.
»Und warum hat sie nichts von ihm genommen?«
»Sie war wohl zu stolz, um sein Geld anzunehmen.« Ich hatte die Augen geschlossen, während ich sprach, aber die Sonne schien so stark, dass hinter meinen geschlossenen Lidern helle Punkte tanzten.
»Sorry, aber das war dumm. Deine Mom hätte sich nach der Scheidung ein super Leben machen können. Das sind ja keine Almosen. Sie hat das Geld verdient. Schließlich hat sie sich um dich gekümmert. Jede New Yorker Nanny kostet ein Schweinegeld«, bemerkte Jen trocken. »Es hätte ihr zugestanden.«
»Warum bist du damals eigentlich bei deinem Vater geblieben und nicht zu deiner Mutter gezogen?«, fragte ich, um von mir abzulenken.
»Sie ist einfach zu stressig«, sagte Jen knapp und nahm noch einen Schluck von ihrem Milchshake, während sie ihre ausgestreckten Beine langsam anhob. Das machte sie häufiger. Damit wollte sie im Liegen nebenher die Bauchmuskeln trainieren. Als hätte sie zusätzliches Training nötig.
»Ich fand deine Mom früher ziemlich nett.«
»Natürlich. Alle finden sie nett«, keuchte Jen und nahm jetzt beide Beine gleichzeitig hoch. Ein Hauch Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. »Aber keiner sieht, dass sie alles kontrollieren will. Was ich anziehe, was ich esse, wen ich treffe, was ich mache, was ich denke. Das halte ich nicht aus. Mein Vater ist viel entspannter. Und glücklicherweise durfte ich bei der Scheidung vor Gericht sagen, wo ich lieber wohnen wollte.«
»Meine Mutter will auch alles kontrollieren«, erwiderte ich. Meine Eltern waren gar nicht vor Gericht gezogen und ich war auch nie gefragt worden, bei wem ich bleiben wollte. Es war klar gewesen, dass ich zu meiner Mutter zog. Mein Vater hatte gar keine Zeit, sich um ein zwölfjähriges Mädchen zu kümmern. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je ohne Telefon in der Hand gesehen zu haben. Wenn mich früher jemand gefragt hatte, welchen Beruf mein Vater ausübte, hatte ich geantwortet: »Er telefoniert.« Damals hatte er bei einer Hedgefondsgesellschaft gearbeitet, also Geld für andere angelegt. Jetzt investierte er in Immobilien. Was genau er tat, hatte ich bisher noch nicht verstanden, aber das würde sich bald ändern, wenn ich Business studierte.
»Hast du deinen Vater denn trotzdem oft gesehen?«, fragte Jen.
»Er ist häufiger auf irgendwelchen Business-Trips in Düsseldorf vorbeigeflogen. Wir haben uns manchmal einfach am Flughafen zum Essen getroffen.« Dann hatte er mir oft ein Geschenk mitgebracht, meistens ein unpassendes wie eine Haarspange, die mit künstlichen Diamanten besetzt war oder ein Hermès-Halstuch. Er fragte mich, was ich in der Schule machte, auch wenn ich wusste, dass er nicht viel mit meinen Antworten anfangen konnte. Bei unseren Treffen durfte ich das teuerste Gericht auf der Karte wählen – Rinderfilet oder Hummer. Dann erzählte er von seinem Job und seinen Kunden. Ich verstand nur die Hälfte, schaute ihn aber interessiert an, damit er nicht enttäuscht war.
»Meine Mutter fand die Geschenke schrecklich, aber meine Eltern haben immer so getan, als hätten sie sich ganz einvernehmlich getrennt, damit ich nicht leide. Hat ihnen irgendein Scheidungscoach geraten.«
Jen verdrehte die Augen. »Vielleicht ist mir da die offen gelebte Feindschaft von meinen Eltern sogar lieber als so ein Pseudo-Gesülze.«
»Naja, und in den Ferien habe ich Dad ein paarmal gesehen. Eine Woche auf den Malediven und einmal auf North Island, der gleichen Insel, wo Kate und William auf Hochzeitsreise gewesen sind.« Auf den Malediven hatte er mir ein teures Kleid aus dem Hotelshop gekauft. Ich hätte das Kleid gern zum Abi-Ball angezogen, aber ich wollte nicht den Blick meiner Mutter ertragen müssen, wenn sie das luxuriöse Kleid sah, und so blieb es nur versteckt in der hintersten Ecke meines Kleiderschranks hängen.
»Das klingt doch ziemlich cool«, meinte Jen.
»Ein ziemlicher Kontrast zu meinem sonstigen Leben war es auf jeden Fall.«
In den letzten zwei Urlauben hatte mein Vater allerdings noch jeweils eine andere Freundin mitgenommen. Beide waren eigentlich ganz nett gewesen und kauften mir noch mehr Geschenke. Aber im letzten Jahr hatte ich ihn gar nicht gesehen. Er hatte wohl ein paar Geldprobleme, worüber ich allerdings mit niemandem reden sollte. Nach den Urlauben hatte ich meiner Mutter auch immer erzählt, dass es langweilig gewesen sei und dass die Freundinnen meines Vaters hohl gewesen wären. Danach sah meine Mutter etwas fröhlicher aus. Und sie sah nie sonderlich fröhlich aus. Das ungute Gefühl, dass ich meinen Vater verriet, schob ich dann immer zur Seite. Ich konnte ihr ja schlecht von den Malediven vorschwärmen, während sie bei Regenwetter zu Hause geblieben war.
Jen und ich lehnten uns zurück und blickten in den Himmel.
»Hattest du denn nie ein schlechtes Gewissen, dass du deine Mutter alleingelassen hast?«, fragte ich Jen.
»Nur am Anfang. Als ich gemerkt habe, dass meine Mutter es darauf angelegt hat, mir Schuldgefühle einzureden, sind sie verpufft. Mom wollte das Sorgerecht für mich nur, um meinem Vater eins auszuwischen. Im Grunde ist sie froh, dass sie mich als Tochter aktivieren kann, wenn es gerade passt, aber sonst mit ihren Freundinnen in St. Barths abhängen kann. Wäre ich zu ihr gezogen, wäre ohnehin nur eine Nanny mit mir zu Hause gewesen.«
Jens Stimme klang trotzdem so, als wollte sie sich verteidigen. Vermutlich hatte jedes Scheidungskind ein schlechtes Gewissen, egal wie es gelaufen war.
»Also, Emma.« Sie rückte sich auf der Matratze zurecht und begann, ihre langen Haare mit den Fingern in Form zu ziehen. »Lass uns mal die Eltern vergessen und zu den wichtigen Dingen kommen.« Sie grinste und zeigte ihre wunderschönen, geraden Zähne. Die Zahnspange von damals hatte ihren Zweck erfüllt. Ansonsten sah sie aus wie früher, wenn sie grinste. Mit den kleinen Sommersprossen hatte sie mich immer ein wenig an Pippi Langstrumpf erinnert. Jen hatte sie schon als Kind gehasst, ich hatte sie immer süß gefunden und sie wie alles andere an ihr schrecklich vermisst, als wir umgezogen waren.
»Hast du einen Freund in Deutschland?«, fragte Jen und legte den Kopf seitlich auf die Liege, sodass sie meine Reaktion genau beobachten konnte.
Ich schüttelte den Kopf. »Keinen Freund.«
Jen nickte langsam.
»Ich hatte aber einen«, fügte ich hinzu und kam mir im gleichen Moment albern vor. Warum hatte ich das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen?
»Ja? So richtig?« Sie sog betont lange an ihrem Strohhalm, obwohl ihr Shake inzwischen leer war.
»Nein, kein Sex«, sagte ich. Ich haute ihr seitlich auf den Arm. »Das meintest du doch, oder?« Dann prusteten wir beide los. Damals in der Schule hatten wir zwar schon über Jungs geredet, aber so in der Art, wie man »Erwachsene« imitiert. Es war klar, dass wir noch nichts erlebt hatten. Wir schwärmten für Liam Payne und Harry Styles und ein paar ältere Jungs aus der Highschool, stritten über Taylor Swift (ich war ein glühender Fan, Jen fand sie überb
ewertet).
Als wir uns wieder beruhigt hatten und auf die Liegen zurückfallen ließen, lag natürlich noch eine weitere Frage in der Luft. Aber ich ließ Jen erst mal schmoren. »Und du?«, fragte ich sie schließlich nach einer Pause.
»Ich dachte schon, dich interessiert es tatsächlich nicht«, sagte Jen. Sie hatte ihre Sonnenbrille wieder geradegerückt und sich auf der Liege ausgestreckt, als wäre sie an einem Filmset, ein Bein leicht angewinkelt. »Boyfriend: Gehabt. Sex: Nein«, fasste sie zusammen.
»Bingo.«
Jen streckte lässig ihre Hand aus, damit ich einschlagen konnte. »Wir sind auf dem gleichen Stand.«
Das stimmte wahrscheinlich nur halb. Meine Romanze während der sechstägigen Taekwondo-Freizeit auf Norderney war bestimmt weniger intensiv gewesen als ihre.
»Noch«, fügte Jen hinzu. Sie liebte es, den Vamp zu spielen, das hatte ich in den letzten paar Stunden schon gemerkt. »Außerdem habe ich es schon bis zur Third Base geschafft.«
»Third Base?«, fragte ich verwirrt.
»Jetzt sag bloß nicht, dass du nicht weißt, was Third Base ist«, erwiderte Jen verblüfft.
»Irgendetwas mit Jungs, das verstehe ich schon«, entgegnete ich leicht eingeschnappt. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es bei uns ist. Ziemlich anders als hier«, verteidigte ich mich.
»Hey, jetzt sei doch nicht beleidigt. Du kannst es ja googeln«, sagte Jen und grinste, »aber besser nicht mit Bildersuche.« Dann wurde sie wieder ernst und musterte mich noch mal intensiv. »War alles nicht so toll bei dir, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es war eben anders. Erinnerst du dich noch an deine Bauernhofparty, wo dein Vater die ganzen Tiere in den Garten von eurem Townhouse bringen ließ? Hühner und Hängebauchschweine? Und dieses eine Mädchen vom Musikkurs hatte mal eine Party, wo man eine Puppe mit nach Hause nehmen durfte, die genauso aussah wie man selbst.«
»Die Bauernhofparty, natürlich, die war abgefahren.«
»Aber wenn ich sowas zu Hause in Ratingen erzählt habe, haben mich alle für eine Angeberin gehalten. Oder eine Lügnerin. Da habe ich lieber die Klappe gehalten.«
»Aber du musst doch ein paar Freunde gehabt haben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar.« Es waren eher meine Sportkollegen beim Taekwondo gewesen und mein Trainer, Master Ko. Sie waren nett, aber kein Ersatz für echte Freundinnen, mit denen man alles besprechen konnte oder an den Nachmittagen etwas unternahm.
Jen rieb sich sorgfältig noch ein wenig Sonnencreme auf den Handrücken, während ich weitersprach.
»Meine Mutter ist in ein totales Loch gefallen. Als Ex-Model ohne Abitur oder Ausbildung war es nicht so leicht, einen Job zu finden. Erst hat sie in einem Copyshop gearbeitet. Dann in der Verwaltung einer Realschule, seitdem geht es ihr besser.«
Jen fuhr fort, sich einzucremen. Ich ignorierte den kleinen Stich, den ihr Schweigen hinterließ. Plötzlich war ich unsicher, ob sie meine Probleme wirklich interessierten.
»Es erstaunt mich, dass du überhaupt in die Sonne gehst. Hat deine Mutter ihre Hautkrebs-Phobie nicht an dich weitergegeben? Sie ist doch ständig hinter dir hergelaufen, um dich einzucremen.« Ich wollte nicht mehr von zu Hause reden.
»Das ist Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor und Selbstbräuner. In ein paar Minuten ist alles eingezogen und wir können an den Strand.« Jen richtete sich auf und zupfte ihren Bikini zurecht. Dann fixierte sie mich mit eindringlichem Blick. »Ich verspreche dir jetzt was, Emma. Diesen Sommer wirst du alles nachholen. Es wird so sein, als wärst du nie weg gewesen. Nein, es wird sogar noch viel besser sein als früher. Es tut mir leid, was du alles mitmachen musstest. Aber ich werde dafür sorgen, dass du den Sommer deines Lebens hast.«
Ihre Stimme klang entschlossen.
»Es gibt nur eine Bedingung. Du musst alles mitmachen, was ich sage, okay? Keine Ausreden.« Ein kleines Lächeln erschien in ihrem Mundwinkel. »Versprochen?«
Sie hielt mir ihren kleinen Finger hin. Ich musste lachen und hakte meinen hinein. Den Kleinen-Finger-Schwur hatten wir als Kinder immer gemacht. »Versprochen.«
»So, dann geht’s jetzt zum Strand. Ich habe nämlich ein Gerücht gehört. Wir wollen den Sommer schließlich nicht allein verbringen und wenn das Gerücht stimmt …« Sie lächelte geheimnisvoll.
»Ich verstehe gar nichts. Aber ich habe gleich noch ein Vorstellungsgespräch für einen Sommerjob in einem Café.«
»Du sollst am Strand liegen und nicht arbeiten! Willst du nicht den letzten Sommer vor dem Uni-Stress genießen und entspannen?«, erwiderte Jen.
»Ich will mich nicht den ganzen Sommer von meinem Dad aushalten lassen«, entgegnete ich. »Außerdem weiß er noch gar nicht, dass ich ein Stipendium habe. Also verplappere dich nicht.« Mein Vater war der Meinung gewesen, dass ich wegen der hohen Studiengebühren in den USA lieber in Deutschland studieren sollte. Aber jetzt hatte ich das Stipendium für die New York University bekommen. Und für meinen Unterhalt würde ich auch noch aufkommen, sodass ich ihm nicht auf der Tasche liegen würde. Ich hatte schon vorab etwas an die Uni zahlen müssen und hatte meinen Vater nicht nach Geld fragen wollen, bevor ich überhaupt angekommen war. Er sollte nicht denken, dass ich nur auf sein Geld aus war. Und ich wusste ja, dass es nicht mehr so locker saß wie früher. Aber jetzt war ich völlig pleite.
»Und es war sauschwer überhaupt einen Laden zu finden, der so spontan noch jemanden sucht.«
»Er ist dein Dad, Emma. Daddys lieben es, einen auszuhalten. Hoffentlich wirst du nicht von einem schmierigen Koch angemacht.«
»Glaub mir, ich kann mich wehren.«
»Du kannst ja deinen schwarzen Gürtel bei der Arbeit tragen«, scherzte Jen.
Ich hatte meinem Dad auch noch nichts von dem Job erzählt. Aber er würde beeindruckt sein, dass ich selbst Verantwortung übernahm. Das wusste ich.
»Schaffen wir es vorher noch zum Strand?«
»Ich muss erst in zwei Stunden da sein, das Café ist in Southhampton.«
Ein paar Minuten später fuhren wir mit dem quietschroten VW-Käfer, den Jen zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatte, zum Strand. Wir öffneten das Verdeck und ließen unsere Haare im Wind flattern. In New York brauchte man kein Auto, aber sobald man die Stadt verließ, war man ohne Auto verloren.
»Ich werde diesen Sommer den Führerschein machen«, rief ich über den Wind hinweg.
»Du hast noch keinen?«, schrie Jen zurück.
»In Deutschland fährt man erst ab achtzehn und der Führerschein ist sauteuer. Ich muss nur noch mit Schaltung üben, damit ich das Auto von meinem Vater nehmen kann. Ein bisschen kann ich auch schon fahren, mein Vater hat es mir einmal in den Ferien auf einem Übungsplatz beigebracht.«
»Gott, du warst echt zu lange in Deutschland.«
Mit Jen im Auto zu sitzen fühlte sich herrlich an. Ich war endlich zurück. So lange hatte ich mich nach dieser Rückkehr gesehnt. Ich war nie so richtig in Deutschland angekommen, immer hatte ich mich fremd gefühlt. Hier fühlte ich mich nun zwar auch ein wenig fremd, aber das würde sich legen. Dafür wüder ich alles tun. Ich hielt meine Hand in den kühlen Fahrtwind. In mir kribbelte alles voller Vorfreude auf den Sommer, auf die neue Freiheit, auf Long Island. Der Sommer meines Lebens – vielleicht würde Jen ja recht behalten.
Zwei
Wir fuhren zum Cooper’s Beach, wo man 50 Dollar fürs Parken zahlen musste, wenn man keinen Wohnsitz in den Hamptons hatte. Meine finanziellen Verhältnisse waren definitiv nicht Hamptons-kompatibel. Jens Vater besaß ein supermodernes Haus direkt am Strand in Southhampton und natürlich hatte sie eine Parkgenehmigung. Auf der windgeschützten Terrasse war es heiß gewesen, hier blies ein kühler Wind. Wir liefen über Holzplanken vom Parkplatz an den Strand und er war noch schöner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er war tatsächlich unendlich lang und extra breit. Der feine, weiße Sand liebkoste meine Füße. Als Kind war ich mit meinen Eltern einmal hier gewesen. Der Wind sorgte für kräftige Wellen, die sich aufbäumten und weit auf den Strand aufschlugen. Wegen des starken Windes und der Wellen war der Strand trotz Hauptsaison nicht sehr voll.
 
; »Das hatte ich gehofft«, sagte Jen zufrieden, nachdem sie den Strand gescannt hatte.
»Was hattest du gehofft?«
»Die Wellen …«
Ich folgte ihrem Blick, der nicht aufs Meer hinausging, sondern seitlich zum Strand zu einer Gruppe, die in einiger Entfernung ihr Lager aufgeschlagen hatte.
»Die hohen Wellen locken die Surfer an«, grinste sie. »Komm mit. Ich will dir ein paar Leute vorstellen.«
In unseren kurzen, wippenden Röcken liefen wir nah am Wasser auf dem nassen Sand entlang. Ich spürte die Blicke von ein paar Männern und Jungs am Strand. Das war immer noch merkwürdig. Ich wusste gar nicht, wann es angefangen hatte, dass ich dieses Kribbeln im Nacken spürte, wenn ich über eine Straße ging und sich Männerblicke an mich hefteten wie jetzt, als ich zwischen den Handtüchern und Strandstühlen durch den Sand stapfte. Meine Zahnspange war weg, ich hatte ein T-Shirt und einen weiten Rock mit Gummizug an, den ich schon ewig besaß, nur war er inzwischen sehr kurz geworden. Meine Sommergarderobe kam mir ziemlich farblos und langweilig vor, mein schwarzer Bikini war aus der vorletzten Saison von H & M und am Rand lösten sich Fäden. Ich freute mich auf mein erstes Gehalt. Es würde schon klappen mit dem Job. Hoffentlich gab es auch in den Hamptons ein paar Läden, die nicht so teuer waren. Hinter den Surfern war der Strand leer. Weil es am Strand keine Liegen gab wie in Europa, brachte jeder seine Sonnenschirme, Handtücher, Kühlboxen und Strandstühle selbst mit. Scheinbar hatte niemand Lust, sie besonders weit vom Parkplatz zu tragen.
Wir breiteten unsere gestreiften Handtücher in einiger Entfernung zu den Surfern auf dem Sand aus. Ein paar Meter hinter uns schlief jemand. Ein Paar Männerbeine ragten unter einem als Decke verwendeten Handtuch hervor. Ein Sweatshirt und ein Buch mit dem Titel Philosophie für Dummies lagen über dem Gesicht des Schlafenden. Sonst war niemand in der Nähe. Jen stellte sich breitbeinig hin, fuhr sich durch die Haare und zog mit einer ausladenden Bewegung ihr T-Shirt über den Kopf, wobei sie den Rücken durchstreckte und den Bauch einzog, obwohl der so flach war, dass es nicht viel zum Einziehen gab. Sie zupfte einen Moment umständlich ihren Bikini zurecht. Ich hatte mich, so wie ich war, auf mein Handtuch gelegt und sah ihr zu. Als sie sich endlich neben mich legte, hatte sie den gewünschten Effekt erzielt. Zwei der Surfer schauten herüber. Zwar konnte man ihre Augen hinter den verspiegelten Sonnenbrillen nicht sehen, aber es war ziemlich klar, dass sie Jen genau beobachtet hatten. Sie mussten der Grund sein, wieso wir hergekommen waren.