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Don't HATE me (Die Don't Love Me-Reihe 2) (German Edition)

Page 24

by Kiefer, Lena


  »Nein, Ross ist ganz anders als mein Dad.« Finlay hob die Schultern. »Er war immer sehr auf seinen Erfolg konzentriert. Erst stand sein Training an erster Stelle, dann seine Werbeverträge und später hat er versucht, in der Firma Fuß zu fassen, aber das hat nicht geklappt. Und dann war auch schnell die Ehe mit Dora am Ende.«

  Ich runzelte die Stirn. »Aber wenn Dora gearbeitet hat und ihr Mann auch, wer hat sich dann um die beiden gekümmert? Irgendwelche Nannys?«

  »Das war Jamie«, sagte Finlay. »Er hat bei ihnen gewohnt, als Edie und Lye klein waren, weil er irgendwas studiert hat und da wenig Bock drauf hatte. Also hat er lieber die beiden bespaßt.« Er sah mich an. »Danke übrigens, dass du ihm diesen Platz in England besorgt hast. In Spanien wäre er früher oder später sicher unter die Räder gekommen.«

  »Hab ich gern gemacht.« Ich lächelte. »Diane ist eine Seele von Mensch und hat ein Händchen für Leute, die neue Wege brauchen, wie sie immer sagt. Sicher kommt er dort gut klar.«

  »Warst du mal da und hast ihn kennengelernt?«

  »Nein«, schüttelte ich den Kopf. »Ich hatte es vor, aber nach allem in Kilmore wollte ich nicht … na ja.«

  »Über Lyall reden? Verstehe ich.« Finlay nickte und stützte sich auf das Geländer, um aufs Meer zu schauen. Da man von hier aus das griechische Festland sehen konnte, strahlten Hunderte Lichter auf die Wasseroberfläche. Es war wunderschön. Und trotzdem standen wir beide hier und hatten andere Gedanken im Kopf als die Aussicht.

  Zumindest, bis hinter uns ein lautes Rascheln ertönte und anschließend ein Schnauben. Wir fuhren herum und sahen uns einem Esel gegenüber, der nur ein paar Meter entfernt an dem akkurat gemähten Rasen rupfte und dann den Kopf hob, um uns kauend anzusehen.

  »Hallo«, machte Finlay überrascht, »Wer bist denn du?«

  Der Esel nahm das als Aufforderung, zu uns zu kommen. Er war nicht allzu groß und wirkte ein bisschen abgemagert, aber sein Halfter war nagelneu. Ich streckte die Hand aus und strich ihm über den Kopf.

  »Du bist ja ein Hübscher«, sagte ich und lachte, als er mich anstieß, weil ich aufgehört hatte, sein Fell zu streicheln. Mit Pferden hatte ich so meine Probleme, aber Esel mochte ich sehr gern. Die waren kleiner und ruhiger und schlau genug, um nicht bei jedem Geräusch die Flucht zu ergreifen.

  »Was meinst du, macht er hier?« Finlay sah sich um. »Gehört er zum Inventar?«

  »Hamlet!«, rief da eine junge Frau und kam mit energischen Schritten auf uns zu. »Wie hast du es denn schon wieder geschafft, dich loszumachen?«, fragte sie auf Englisch. Kaum war sie neben uns, hob der Esel den Kopf und begann, ohrenbetäubend zu brüllen. Finlay und ich lachten. Die Frau verzog jedoch das Gesicht. »Tut mir wirklich leid, ich hoffe, er hat eure Kleidung nicht dreckig gemacht. Er ist ein echter Ausbruchskünstler, unser Hamlet.«

  Finlay winkte ab. »Ach was, gar nicht. Hamlet war eine wirklich nette Begegnung am heutigen Abend.« Er kraulte den Esel am Hals und der hob genießerisch den Kopf.

  »Seid ihr von der Eselhilfe?« Ich sah die Frau fragend an. Edina hatte erwähnt, dass diese Organisation im Zentrum des Abends stand.

  »Ja, genau. Dieses Jahr sammelt Mrs Fraser für unsere Station Geld bei diesem Empfang. Deswegen wollte sie, dass wir mit den Eseln hierherkommen, um zu zeigen, was wir so tun. Offenbar fressen, wenn es nach Hamlet geht.« Sie verdrehte gutmütig die Augen. »Ich bin Sarah, eine der Freiwilligen, die dort arbeiten.«

  Wir stellten uns vor und Finlay kraulte weiter. »Und was ist genau eure Aufgabe? Ich hätte gar nicht gedacht, dass auf der Insel so viele Esel gerettet werden müssen.«

  »Leider schon. Esel waren in den Olivenhainen lange als Arbeitstiere beliebt, aber das wird immer weniger – und wenn sie dann alt sind oder verletzt, können ihre Besitzer nichts mehr mit ihnen anfangen. Manchmal bringen sie sie zu uns, aber teilweise setzen sie die Esel auch einfach aus. Und häufig genug gerät dann einer auf die Straße und wird angefahren … oder verhungert.«

  »Das ist ja furchtbar.« Jetzt war klar, wieso Hamlet ein bisschen zu dünn war, offensichtlich wurde er noch aufgepäppelt. »Kann man gegen diese Leute nicht vorgehen?«

  Sarah hob die Schultern. »Oft weiß man gar nicht, wem die Esel gehört haben. Und Tierschutz ist hier etwas anderes als in nördlicheren Ländern Europas.« Sie seufzte. »Umso schöner, dass jemand wie Mrs Fraser sich für uns einsetzt. Natürlich brauchen die Tiere vor allem Zuwendung und einen ruhigen Platz zum Leben und zur Erholung, aber ein Esel kostet über 2000 Euro im Jahr und wir finanzieren uns nur aus Spenden. Da wird es manchmal schon eng.«

  Ich sah es in Finlays Kopf arbeiten. »Meine Tante, Theodora Henderson, eröffnet bald ein Hotel auf Korfu. Und sie ist immer sehr interessiert daran, dass unsere Stiftung lokale Organisationen unterstützt. Ich werde mal mit ihr reden, ob sie sich nicht langfristig für euch engagieren will.«

  »Das wäre wirklich toll.« Sarah strahlte, vermutlich nicht nur wegen des Angebots. Schon seit sie Finlay gegenüberstand, konnte ich erkennen, dass sie seinem Charme genauso wenig entgegenzusetzen hatte wie der Rest der Menschheit.

  Aber plötzlich zog eine andere laute Stimme unsere Aufmerksamkeit auf sich, nur stammte sie nicht von einem Esel.

  »Wenn deine Schwester mir noch einmal in die Quere kommt, garantiere ich für nichts!«, schnauzte jemand.

  Finlay und ich wechselten einen Blick, dann entschuldigten wir uns bei Sarah und eilten zu der Terrasse, auf der wir eben gestanden hatten. Von dort aus sahen wir auf die untere Gartenebene, wo die Rasenfläche von Strahlern in einen Mix aus Licht und Schatten getaucht wurde.

  »Fuck, das ist Davidge«, stieß Finlay aus. Und es gab nicht viele Möglichkeiten, wer mit ihm da unten war. Denn hier war nur eine Schwester, die ihm heute Abend in die Quere gekommen war. »Dieser elendige Steinzeitmensch, weiß der denn nicht, dass man keinen öffentlichen Stress bei solchen Veranstaltungen anfängt, sondern höchstens ein paar subtile Andeutungen fallen lässt?«

  »Vorsicht, Mister Davidge«, antwortete Lyall da schneidend. »Ich könnte Ihre Worte als Drohung gegen Edina verstehen. Und entsprechend darauf reagieren.«

  Finlay nickte anerkennend. »Siehst du, so macht man das.«

  »Vor dir habe ich keine Angst, Bürschchen!«, schnauzte Davidge weiter.

  »Oh, wirklich nicht?« Lyall lachte leise auf. »Wollen Sie sich wirklich mit uns anlegen? Wissen Sie nicht genug über unsere Familie, um das für eine schlechte Idee zu halten?«

  »Eure Familie«, schnaubte der Hotelier. »Wie weit ist es denn damit her? Ich habe euch monatelang ausspioniert, ohne dass ihr es gemerkt habt!«

  »Dafür haben wir Ihre Baustelle dichtgemacht. Und das auch noch ganz legal.«

  Ich blickte mich um, ob außer uns noch jemand zuhörte. Davidge war deutlich lauter als Lyall, der in solchen Situationen schon immer eher die Leise-aber-gefährlich-Schiene gefahren war. Wenn wir sie jedoch hören konnten, dann garantiert auch andere. Und ich wusste, was öffentliche Skandale bei den Hendersons bedeuteten. Falls Davidge Lyall auf einer Wohltätigkeitsgala angriff, fand das sicher seinen Weg in die Zeitungen.

  Finlay schien das ähnlich zu sehen.

  »Ich kümmere mich drum. Warte hier, okay?«

  »Nein, ich mache das. Vertrau mir.« Finlay als weiterer Henderson würde die Stimmung nur noch mehr anstacheln, vor allem, da Davidge Edina bedroht hatte. Da war es besser, jemand ging dort runter, der neutral war. Haha. Weil du ja so neutral bist.

  Trotzdem ging ich die Steintreppe hinunter und suchte mir einen Weg über die abwechselnd nachtschwarze und dann wieder in helles Licht gehüllte Rasenfläche. Als ich nahe genug war, hatte ich mir eine Strategie überlegt.

  »Lyall?«, kam es recht kläglich aus meinem Mund. »Lyall, bist du hier?« Kaum hörte er meine hilflosen Worte, nahm er Abstand von Davidge und kam auf mich zu.

  »Kenzie, was ist los?«, fragte er weich. Ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht aus meiner Rolle zu fallen, als ich diesen fürsorglichen Ton hörte.

  »Mir geht’s irgendwie nicht so gut«, murmelte ich. »Ich glaube, ich vertrage keinen Champ
agner.« Ich legte einen astreinen Fake-Stolperer hin – Eleni wäre stolz gewesen – und wurde prompt aufgefangen.

  »Ich hab dich.« Lyall schlang seinen Arm fest um meine Taille. »Komm, ich bring dich hier weg.«

  Ich sah zu Davidge, mit hoffentlich glaubhaft verschleiertem Blick. »Oh, ihr wart gerade mitten in einem Gespräch, oder? Tut mir sehr leid, Sir.« Ich wagte ein entschuldigendes Lächeln, aber er ignorierte mich und fixierte stattdessen Lyall.

  »Richte deiner Mutter aus, wenn sie sich noch einmal einmischt, wird sie mich kennenlernen.«

  »Verzeihung«, gab er zurück. »Für Botengänge bin ich überqualifiziert. Aber ich würde Ihnen dringend raten, diesen Empfang zu verlassen. Sonst erfahren vielleicht noch mehr Leute von Ihrem kleinen Bodenproblem.«

  Davidge stieß einige unschöne Flüche aus, dann suchte er das Weite. Ich atmete zeitgleich mit Lyall aus, klärte ihn aber nicht sofort über meine kleine Schauspieleinlage auf. Seine Nähe fühlte sich zu gut an, und ich war heute nicht stark genug, um zu widerstehen. Nicht an diesem Abend, in dieser Kulisse und der Dunkelheit, wo alles so viel einfacher wirkte als sonst.

  Lyall steuerte mit mir im Arm eine Bank an, die im dunklen Abschnitt des Gartens an einem Geländer stand. »Okay, ich glaube, du kannst aufhören.«

  Ich war so überrascht, dass ich mich nicht hinsetzte. »Du wusstest, dass ich nur so tue? Und ich dachte, ich könnte es in Zukunft mal mit Schauspielerei versuchen.«

  Er lachte leise. »Ich weiß, wie trinkfest du bist, schon vergessen? Wenn dich eine solche Menge Whiskey wie damals nicht umhaut, dann erst recht keine zwei Gläser Champagner.«

  »Gut, du hast mich erwischt.« Ich lächelte.

  »Du verhinderst, dass ich mich mit Davidge anlege?«, fragte er. »Ich hätte gedacht, du würdest es begrüßen, wenn ihm mal jemand ein paar aufs Maul haut.«

  »Von mir aus hättest du ihn gerne verhauen können – ich hätte dir sogar geholfen. Aber nicht in aller Öffentlichkeit. Es wäre doch blöd, wenn sich Jamies Schicksal wiederholen würde.« Ich hob die Schultern.

  »Also bist du gekommen, um mich zu retten?«, fragte Lyall mich.

  »Sozusagen. Irgendjemand muss dich ja vor Dummheiten bewahren.«

  »Eigentlich ist Finlay dafür zuständig.« Er grinste.

  »Ja, der wollte seinen Job auch erfüllen. Aber ich glaube, dann hättet ihr euch beide mit Davidge geprügelt. Was der Mission doch irgendwie geschadet hätte.«

  Lyall lachte leise, und ich konnte erkennen, wie die Anspannung sich aus seinem Körper löste. »War eine gute Show, das muss man dir lassen. Auch wenn die hilflose Frau dir nicht besonders gut steht, man kauft sie dir ab. Zumindest, wenn man nicht ich ist.«

  »Aber mitgemacht hast du trotzdem.«

  »Ja.« Er senkte den Blick, dann sah er mich jedoch wieder an. »Es war zu verlockend«, gab er zu.

  Darauf wusste ich nichts zu sagen, also schwiegen wir, dicht beieinander, allerdings ohne uns zu berühren. Wir standen am Geländer, das den Garten des Achilleion vom Rest der Welt zu trennen schien, in der Dunkelheit, fast schon unsichtbar. Ich wusste, Lyall war nah, gefährlich nah. Ich spürte seine Wärme in der aufkommenden Kühle, aber das war nicht der Grund, warum ich mich nicht von ihm wegbewegte, obwohl ich es hätte tun sollen.

  Lyall sah mich an, dann hob er die Hand und schob mir sanft eine Strähne zurück. Ich schauderte, als seine Finger meine Schulter streiften, aber nicht, weil es unangenehm war. Ganz im Gegenteil. Es war, weil ich mehr davon wollte.

  »Vielleicht sollte jetzt jemand kommen und uns retten«, sagte er leise.

  »Vielleicht aber auch nicht«, flüsterte ich und legte meine Hand auf seine Brust, spürte seinen schnellen Herzschlag unter meinen Fingern. Und da hielt ich es nicht mehr aus.

  Ich ließ meine Hand nach oben gleiten, über Lyalls Schulter in seinen Nacken. Dann überwand ich das letzte bisschen Distanz zwischen uns und küsste ihn. Ich wusste, wie dumm das war. Aber ich konnte einfach nicht anders.

  Es war ein vorsichtiger Kuss, fast schon zaghaft, kein Vergleich zu allem, was wir voneinander gewohnt waren. Und ich spürte, dass Lyall es nicht wagte, ihn zu vertiefen, genauso wenig wie ich. Aber gerade die Sanftheit des Kusses war es, was tief in mir etwas weckte, das ich längst verloren geglaubt hatte: Hoffnung. Verzweifelte, sehnsüchtige Hoffnung. Von Lyall getrennt zu sein, war so schrecklich, dass es sich anfühlte, als würde dieser Kuss mich wieder ganz machen. Als würde er den ganzen Schmerz der letzten Monate heilen. Als wäre endlich alles wieder in Ordnung.

  Aber das war es nicht.

  Denn in der nächsten Sekunde endete es.

  Lyall löste sich von mir, seine Hände bebten, als er mich an den Schultern fasste und vorsichtig auf Abstand ging. Ich sah den Schmerz in seinen dunklen Augen und mir blieb die Luft weg, weil es genau der gleiche war, den ich auch fühlte. Und ich wusste, was als Nächstes kam. Ich wusste es und konnte es trotzdem nicht verhindern.

  »Entschuldige«, flüsterte er. »Das war falsch von mir.« Dann berührte er mich kurz an der Wange, drehte sich um und war wenige Sekunden später in den Schatten verschwunden. Ich blieb zurück, allein in der Dunkelheit, die jetzt keinen Schutz mehr bot, sondern mich zu verschlingen drohte.

  Tränen sammelten sich in meinen Augen, als ich der Leere nachspürte, die Lyall hinterlassen hatte, die er schon vor Monaten hinterlassen hatte. Aber es wurde mir erst in diesem Moment wirklich bewusst. Weil die Wut auf ihn in den letzten Wochen immer leiser geworden war und Platz gemacht hatte für den Kummer, der darunter verborgen lag. Für die Sehnsucht, die kein bisschen schwächer geworden war, obwohl ich wusste, was er getan hatte. Obwohl er mich angelogen hatte. Ich hätte alles dafür gegeben, das einfach nur vergessen zu können. Aber stattdessen hatte er mich erinnert. Daran, dass wir beide nie wieder das sein würden, was ich mir wünschte. Dass wir es gar nicht sein konnten, weil er es zerstört hatte. Und plötzlich brachte ich es nicht mehr fertig, die Verzweiflung fernzuhalten. Also gab ich ihr nach.

  Ich sank auf die Bank, so kraftlos und schwach, wie ich mich nie wieder hatte fühlen wollen. Und dann verbarg ich mein Gesicht in den Händen und weinte um etwas, das ich längst verloren hatte.

  31

  Lyall

  »Hey, Mann.« Finlay war der Erste, auf den ich traf, nachdem ich aus dem Garten zurückgekommen war. Er klopfte mir zufrieden auf die Schulter. »Davidge ist gerade wutentbrannt verschwunden. Mission erfüllt. Wir sollten abhauen und das im Hotel anständig feiern.« Er musterte mich. »Alles okay?«

  Ich nickte, brachte kein Wort raus. Mein Herz hämmerte heftig gegen meine Rippen, so sehr, dass es in meinen Ohren klopfte.

  »Lye?« Finlays Tonfall wurde alarmiert. »Du hast dich doch nicht mit ihm geprügelt? Kenzie meinte, sie –«

  »Nein«, ich schüttelte den Kopf. »Habe ich nicht.« Stattdessen hatte ich jede Vorsicht fallen lassen und einfach nur auf mein Gefühl gehört, auf die Sehnsucht, die mich beherrschte, seit ich auf der Insel war. Den Abstand aufgegeben, den ich gehalten hatte, wochenlang. Kenzie und ich waren endlich wieder klargekommen, sie hatte sich in meiner Gegenwart nicht mehr unwohl gefühlt, wir hatten sogar wieder lachen können, zumindest manchmal. Aber das war heute alles zerstört worden. Mit einem einzigen Kuss. Dem besten Kuss aller Zeiten, weil er mir für ein paar Augenblicke die Illusion gegeben hatte, alles würde gut werden. Und dem schrecklichsten, weil ich nur Sekunden später gewusst hatte, dass es eine Lüge war.

  »Wo ist Kenzie?« Finlay sah an mir vorbei zu der Treppe, die ich hochgekommen war. »Hast du sie unterwegs verloren?«

  Nein, ich hatte sie bereits vor Monaten verloren. Sie da unten im Garten stehen zu lassen, das war nur das Ende eines Weges gewesen, den ich sehr viel früher eingeschlagen hatte. Einfach zu gehen war grausam gewesen und ich wusste es. Aber es war die einzige Chance gewesen, immerhin sie zu retten, wenn es für mich schon zu spät war.

  »Sag mal, was ist los mit dir?« Finlay sah mir besorgt in die Augen. »Du bist ja völlig durch den Wind. Ist was passiert?«

  »Nein«, sagte ich abweisend. »Davidge hat mich aufgeregt, das ist alles


  »Ich glaub dir kein Wort.« Aber in dem Moment wurde Finlays Aufmerksamkeit von jemand anderem abgelenkt. »Ah, da ist Kenzie ja. Gut, dann können wir gehen.«

  Ich fuhr herum und begegnete Kenzies Blick. Einem Blick, der mich in seiner Intensität so heftig traf, dass mir die Knie weich wurden. Sie hatte geweint, das erkannte ich sogar auf diese Entfernung, weil ich genau wusste, wie sie dann aussah. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen, hätte ihr gesagt, dass es eine Lösung für uns gab. Aber das konnte ich nicht. Mein Fehler war viel älter als das zwischen uns beiden. Und obwohl ich nie gewollt hatte, dass sich mein Schatten auf sie ausbreitete, wusste ich in diesem Moment, dass es trotzdem geschehen war.

  Deswegen konnte ich nichts tun. Ich konnte nur den Blickkontakt unterbrechen, mich abwenden und Richtung Ausgang gehen. Die Autofahrt überstehen, bei der sie mir gegenübersaß und während der ich sie nicht ein einziges Mal ansah, mir ihrer Nähe jedoch grausam bewusst war. Ich hielt durch, als ich mit den anderen ins Hotel ging, wehrte die Einladung zu einer Privatparty in Elliotts Bungalow ab, schob Müdigkeit vor, lächelte sogar auf die Frage meiner Schwester, ob ich okay war.

  Aber kaum stand ich allein in meinem Zimmer, war die Anzugjacke losgeworden und hatte die Fliege abgenommen, da zerbrach etwas in mir, so endgültig, dass mir die Luft wegblieb. Ich hatte seit Jahren nicht geweint, ich hatte gedacht, ich würde es nicht verdienen, mir diesen Schmerz zu erlauben, wo ich doch selbst dafür verantwortlich war. Aber jetzt konnte ich es nicht mehr verhindern. Also erlaubte ich mir, zu weinen – um alles, was kaputtgegangen war, vor Jahren und vor allem in letzter Zeit. Um die Chance auf Glück, die mit Ada gestorben war. Um meine Freiheit, die ich deswegen nie haben würde. Und um Kenzie, die ich liebte und deren Liebe ich mehr gewollt hatte als irgendetwas anderes auf der Welt. Aber sie war für mich unerreichbar.

 

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