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Don't LOVE me (Die Don't Love Me-Reihe 1) (German Edition)

Page 17

by Kiefer, Lena


  »Indem ich hier bin und die Leute daran erinnere, dass Lyall und ich zusammen schon früher Ärger bedeutet haben.« Finlays Lächeln wurde schwächer. »Du weißt das wahrscheinlich nicht, aber meine Familie hasst Komplikationen. Sie ist wie ein Uhrwerk und wehe, eines der Zahnrädchen läuft nicht rund. Dann rette sich, wer kann.« Es klang bitter, und ich ahnte, dass es nichts mit dem Einreiseverbot zu tun hatte. Ich fragte mich, was wohl passierte, wenn man bei den Hendersons nicht funktionierte.

  »Finlay!« Jemand winkte energisch zu uns herüber und ich erkannte Fiona. »Wo bleibst du?«, rief sie herrisch, als sie nahe genug herangekommen war. »Wir wollen essen und du siehst aus wie ein Penner. Also komm gefälligst rein und zieh dich um!«

  »Na, wenn ich so nett gebeten werde, kann ich ja gar nicht anders.« Finlay verdrehte die Augen in Fionas Richtung und lächelte mich dann an. »Kenzie, es war mir ein Vergnügen. Bitte behalte alle deine Körperteile, das wäre mir sehr recht.«

  »Ich bemühe mich. Hat mich gefreut, Finlay.«

  Ein letztes Grinsen, dann ging er mit seiner Cousine davon. Ich hörte noch, wie sie »Was habt ihr nur alle mit der?« keifte, aber schnell waren sie zu weit entfernt, um sie zu verstehen.

  Ich wollte mich wieder an meine Arbeit machen, schließlich war das mein einziges Mittel gegen Grübeleien über Lyall. Da leuchtete jedoch das Display meines Handys auf. Ich legte die Schleifmaschine erneut weg und klickte auf die Mitteilung. Sie war von Drew.

  Falls du noch einen Beweis brauchst, warum man sich von den Henderson-Jungs besser fernhält, stand da unter einem Foto, aufgenommen von einer Handykamera in der Dunkelheit. Ich erkannte trotzdem, wer da eng umschlungen vor dem Eingang des Henderson-Hotels in Edinburgh zu sehen war: Zunächst Finlay und eine sehr hübsche Blondine … und dann Lyall mit einem dunkelhaarigen Mädchen, seine Hände an ihrer Taille, ihre um seinen Hals, ihre Gesichter sehr dicht beieinander. Ich erkannte sie an ihren extravaganten Klamotten – sie waren ebenfalls im Liquid Room gewesen, eine ganze Gruppe von Models, die überteuerten Champagner bestellt und lautstark über ein Shooting geredet hatten. Als mir bewusst wurde, was ich da sah, schluckte ich und spürte einen scharfen Schmerz in meinem Magen.

  Lyall hatte also nicht einmal einen halben Tag, nachdem er mich geküsst hatte, eine andere mit auf sein Zimmer genommen – wohl diesmal nicht, um ihr die Ausstattung zu zeigen. Und ich stand hier und bekam ihn nicht aus meinem Kopf? Nach allem, was ich über ihn wusste? Wie dämlich war ich eigentlich?

  Ich löschte das Foto, schloss die Nachricht und griff dann entschlossen nach der Säge. Als ich den Balken teilte, fasste ich einen Entschluss. Ich hatte mir etwas vorgemacht, als ich glaubte, da wäre was zwischen uns, eine besondere Verbindung. Ich stellte mich genauso blöd an wie all die anderen Frauen, die glaubten, ausgerechnet sie könnten einen guten Kerl aus jemandem machen, der das absolute Gegenteil war.

  Und deswegen war mein Anfall von Lyallitis mit sofortiger Wirkung beendet. Es wurde dringend Zeit, mich wieder auf die Reihe zu kriegen und ihn zu vergessen. Zwischen uns war kaum etwas gelaufen, also konnte ich ihn auch aus meinem Kopf löschen.

  Ein für allemal.

  18

  Kenzie

  Ich hätte nie gedacht, dass ich so gut darin sein würde, Lyall zu ignorieren. In den folgenden zwei Wochen brachte ich jedoch meine Fähigkeiten in dieser Hinsicht auf ein ganz neues Level. Fünf Meetings hatte ich im Hotel, bei denen er anwesend war – fünfmal zwei Stunden, in denen ich es schaffte, ihn nicht öfter als unbedingt notwendig anzusehen. Er machte es mir sogar leicht, denn er äußerte sich ausschließlich zum Projekt und richtete nicht ein direktes Wort an mich. Nach außen hin war also alles so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Aber in mir sah es vollkommen anders aus. Mit der Zeit verblasste zwar die Erinnerung an den Streit mit Drew oder die an das Foto mit diesem Model in Edinburgh. Aber nicht die an unseren unglaublichen Kuss. Und obwohl ich es schaffte, Lyall nicht öfter als nötig in die Augen zu schauen, war er doch ständig in meinem Kopf. Er und die Frage, was nun sein wahres Ich war.

  Immerhin gab es genug zu tun, um tagsüber von den Grübeleien abgelenkt zu werden. Der Neubau des Hotels kam gut voran, schon in zehn Tagen würde man den Dielenboden im Erdgeschoss und den Teppich in den Zimmern verlegen. Der Raumteiler, an dem ich neben anderen Projekten und all den Terminen für das Grand in meiner Freizeit gearbeitet hatte, war beinahe fertig, und ich war ziemlich aufgeregt, dass ich ihn am nächsten Montag Moira und Paula präsentieren würde. Denn zeitgleich entschied sich, ob Lyalls geänderter Grundriss ihren Segen bekam oder nicht.

  Am Samstag davor fand jedoch noch eine Ausstellung im Neubau statt, bei der Exponate von schottischen Künstlern präsentiert und für einen guten Zweck versteigert werden sollten. Es war Lyalls Idee gewesen, zumindest hatte Moira das gesagt. Ich wusste nicht, ob das Teil seiner Mission war, wie Finlay es genannt hatte. Aber seit man die Veranstaltung angekündigt hatte, war das Getuschel in der Stadt etwas leiser geworden.

  »Wir würden übrigens gern zwei Fotos deiner Mutter ausstellen«, sagte Moira zu mir, als für diesen Tag alles besprochen war und ich gerade meine Sachen zusammenpackte. »Sie kam schließlich von hier und ihre Bilder sind großartig. Aber nur, wenn du damit einverstanden bist.«

  »Natürlich.« Ich lächelte etwas gezwungen. Das bedeutete, es würden noch mehr Erinnerungen über meine Mutter an die Oberfläche kommen, mehr Fragen danach, was mit ihr passiert war. Aber ich würde es schon schaffen. Das hatte ich in den letzten sechs Jahren schließlich auch – und mich hier in Kilmore sogar daran gewöhnt, dass jeder etwas dazu sagen wollte. Es tat immer noch weh, aber es warf mich nicht mehr aus der Bahn. Stattdessen versuchte ich, mich einfach darüber zu freuen, dass sie so viele in guter Erinnerung behalten hatten.

  »Bist du sicher?« Plötzlich stand Lyall neben mir, so nah, wie er mir seit zwei Wochen nicht gekommen war. Sein Tonfall war so neutral wie immer in der letzten Zeit, aber die Worte erinnerten mich an sein Mitgefühl, als wir über meine Mutter gesprochen hatten.

  »Ja«, sagte ich und sah ihn nicht an. »Bin ich.«

  »Okay.« Er nickte, wandte sich ab und war bereits verschwunden, als ich mich noch fragte, warum er überhaupt etwas gesagt hatte. Moira und ich besprachen kurz, wann mein Raumteiler für die Präsentation im Neubau platziert werden konnte, dann überließ ich sie Paula und machte mich auf den Weg ins Erdgeschoss des Hotels, um zurück in die Werkstatt zu gehen.

  »Kenzie?«, ertönte da eine dunkle Stimme hinter mir. Ich hatte fast vergessen, wie es klang, wenn er meinen Namen sagte. Wie er ihn zuletzt gesagt hatte, mitten in unserem Kuss.

  »Ja?« Ich drehte mich um, straffte die Schultern und hob das Kinn. Die widersprüchlichen Gefühle für Lyall fuhren Achterbahn in meinem Magen, als er seine schwarzen Augen auf mich richtete. Zwei Wochen hin oder her, dieser Blick hatte nichts von seiner Wirkung eingebüßt.

  »Meine Mutter wird morgen Abend bei der Ausstellung sein«, sagte er. »Ich hatte dir doch gesagt, ich stelle dich vor, wenn sie herkommen sollte.«

  »Deine Mutter?« Sofort war ich aufgeregt. Theodora Henderson zu treffen, war eine Chance, die ich nicht ablehnen konnte, egal, wie ich zu Lyall stand.

  »Ja. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mein Versprechen leider nicht halten kann.«

  »Oh … klar. Kein Ding.« Ich war wohl nicht die Einzige, die das zwischen uns einfach hinter sich lassen wollte. Nur war er offenbar besser darin als ich. »Okay. Ich habe noch was zu tun, also –«

  »Meine Schwester wird das übernehmen«, unterbrach er mich.

  »Deine … was?« Ratlos starrte ich ihn an.

  Lyall verzog keine Miene. »Meine Schwester. Edina wird ebenfalls da sein, und es ist sicher klüger, wenn sie dich Mum vorstellt, als wenn ich das vor den Augen der gesamten Stadt tue. Edie weiß Bescheid, sie wird dich am Abend im Neubau treffen.«

  Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, dass er seine Schwester um diesen Gefallen gebeten hatte. »Danke«, brachte ich daher nur heraus. »Das ist nett von ihr. Und dir, natürlich.«

  »Kein Problem. Wir sehen uns dann.« Ein
nüchternes Nicken, dann war er weg. Er ließ mich zurück mit dem Blick auf seinen Rücken, einem riesigen Haufen Verwirrung und der wichtigen Frage: Was zog man an, wenn man einem seiner Idole begegnete?

  Die Antwort war gar nicht so leicht, denn alles, was ich dabeihatte, gefiel mir nicht. Nach einer FaceTime-Krisensitzung mit Willa ging ich in den winzigen Klamottenladen neben der Kiltschneiderei, um mir ein klassisches kleines Schwarzes zu kaufen. Es endete knapp über dem Knie, war eng geschnitten und hatte kurze Ärmel, die mein Tattoo nicht verdecken würden. Aber ich ging davon aus, dass Theodora Henderson nicht spießig genug war, um darüber die Nase zu rümpfen.

  Amy lieh mir die passenden Stilettos zu dem Kleid, danach brauchte ich nur noch einen streng nach hinten gebundenen Knoten und war eine neue Version meiner selbst. Eine Version, die schrecklich angespannt war, als sie am Abend über den improvisierten Steinweg lief, der zum Neubau führte.

  Das Erdgeschoss war mit Teppichbahnen ausgelegt worden, aber die Gemälde und Fotografien hingen an den nackten Betonwänden und die Skulpturen standen vor den Fenstern. Ich begrüßte Moira und Paula, die sich auf ein Glas Champagner mit dem Bürgermeister von Kilmore an die Bar gestellt hatten, dann lief ich von einem Kunstwerk zum nächsten und schaute sie mir an, wohlweislich die Ecke meidend, in der die Fotos meiner Mutter hingen.

  Während ich umherging, war ich mir Lyalls Anwesenheit bewusst, der sich heute zum ersten Mal halbwegs wohl in Kilmore zu fühlen schien, obwohl er in dem perfekt sitzenden Anzug irgendwie fremd für mich aussah. Als er im Gespräch mit einer älteren Frau, die in einem abenteuerlich blauen Tweedkostüm steckte, seinen Blick schweifen ließ, blieb der an mir hängen. Ich hob kurz grüßend die Hand, und er erwiderte die Geste mit einem knappen Nicken, das genauso gut seiner Gesprächspartnerin gegolten haben könnte. Ich spürte einen Stich in meinem Magen. Okay, Botschaft angekommen.

  »Hi. Du bist Kenzie, richtig?« Eine junge Frau stand mit einem Mal vor mir, als hätte sie sich aus dem Nichts materialisiert. Doch wahrscheinlicher war wohl, dass ich zu abgelenkt gewesen war, um ihr Kommen zu bemerken.

  »Ja, stimmt.« Ich lächelte und ergriff die angebotene Hand, um sie zu schütteln.

  »Ich bin Edina. Oder Edie, wie du magst. Mein Bruder meinte, du bräuchtest einen Chaperon.« Lyalls Schwester musterte mich mit kaum verhohlener Neugier. Ich tat das Gleiche. Auf dem Familienbild war offenbar kein Photoshop am Werk gewesen: Das ebenmäßige Gesicht, diese schier porenfreie Haut, sie sah aus, als könne sie in ihrem dunkelgrünen, kurzen Kleid direkt auf irgendeinen Laufsteg spazieren. Die Gene dieser Familie waren wirklich nicht von dieser Welt.

  »Einen was ?«, fragte ich verwirrt. Das Wort hatte ich noch nie gehört.

  »Einen Chaperon. Das war früher so eine Art Anstandsdame. Ich vergesse immer, dass es Menschen gibt, die in der wunderbar normalen Welt leben, wo man so einen Mist nicht lernt. Entschuldige.« Sie verdrehte die Augen.

  Ich lachte. »Nicht nötig. Ich stehe auf Zeug, mit dem ich später irgendwo angeben kann.«

  »Dann halte dich an mich.« Edina verneigte sich spöttisch. »Ich bin ein unerschöpflicher Quell unnützen Wissens.« Sie hakte sich bei mir ein. »Komm, wir brauchen etwas zu trinken. Anders lassen sich diese langweiligen Abende nicht ertragen. Außerdem ist Mum noch drüben bei Moira im Haus, sie lässt sich nie von Anfang an auf solchen Veranstaltungen blicken.«

  Ich folgte Edina zu der Bar, die man dort aufgebaut hatte, wo später der Empfangstresen für den Concierge-Service stehen würde. Lyalls Schwester orderte Whiskey für sich und sah dann mich fragend an.

  »Für mich das Gleiche«, sagte ich und erntete doppelt anerkennendes Nicken, vom Barkeeper und Edina.

  »Du bist nach meinem Geschmack.« Sie grinste. »Aber pass lieber auf, Schotten vertragen wesentlich mehr als ihr Engländer.«

  Ich stieß mit ihr an. »Hey, ich bin immerhin halbe Schottin.«

  »Im Ernst? Hört man gar nicht. Bist du deswegen für das Praktikum hier?«

  »Sozusagen.« Ich nahm einen Schluck Whiskey und genoss den Moment, als er meine Kehle hinunterrollte. Warum hatte ich so lange keinen mehr getrunken? »Eigentlich hatte ich einen Sommerjob bei einer großen Agentur in London ergattert, aber den hat man in letzter Minute gecancelt, also ist uns Paula eingefallen. Sie ist eine Freundin meiner Familie.«

  Edina nickte. »Verstehe. Und, wie gefällt es dir hier?« Es klang nicht so leicht dahingesagt, wie sie es wohl vorgehabt hatte.

  »Gut«, antwortete ich unbestimmt. »Die Landschaft ist umwerfend, das Projekt interessant und die Leute sind sehr … um mich besorgt.«

  »Ja, das kann ich mir denken«, murmelte Edina in ihr Glas. »Kilmore ist echt Idylle pur. Bis du Scheiße baust, dann wird es zur Hölle auf Erden.«

  »Scheint so.« Ich warf wie automatisch einen Blick zu Lyall, der gerade mit seiner Tante sprach und dabei die Stirn in Falten legte, weil wohl irgendetwas nicht so lief wie geplant. Vielleicht hätte ich Edina ein paar Details über Ada entlocken können. Aber was brachte mir das? Was auch immer mit ihr passiert war, es würde mir nicht bei meinem Plan helfen: das Praktikum erfolgreich zu beenden und Lyall dann endlich zu vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn, so sagte man doch.

  »Du stehst auf meinen Bruder, oder?«, fragte Edina. Ich verschluckte mich am nächsten Schluck Whiskey und sie klopfte mir hilfsbereit – und kräftiger als man erwartet hätte – auf den Rücken.

  »Und du bist ziemlich direkt, hat dir das mal jemand gesagt?« Ich röchelte ein bisschen und kippte den Rest des Whiskeys hinterher. Ganz miese Idee. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

  Edina grinste. »Direkt? Du hast meine Grandma noch nicht erlebt. Also?«

  »Glaub mir, ich will nichts von Lyall«, sagte ich, so überzeugend ich konnte. Eigentlich war es ja auch die Wahrheit. Was immer da beinahe begonnen hatte, war längst wieder vorbei. Total vorbei.

  »Ach nein?« Edina richtete den Laserblick ihrer blauen Augen auf mich, als wäre ich ein Chip, den man auslesen könnte. »Gut«, sagte sie dann erleichtert. »Das ist gut.«

  »Warum, weil dann andere freie Bahn haben?«, entfuhr es mir, und ich hatte den Whiskey in Verdacht, meine Zunge gelockert zu haben. Tückisches Zeug. Wenn ich Theodora nicht betrunken begegnen wollte, sollte ich mir dringend ein Wasser besorgen. Oder ein paar von den Häppchen, die so dekorativ durch die Gegend gereicht wurden.

  »Was meinst du damit?« Edina sah mich ratlos an, aber dann schien ihr ein Licht aufzugehen. »Ah, diese Models in Edinburgh, oder? Er hat mir davon erzählt. Aber Gott, nein, doch nicht deswegen. Vergiss diese Modepüppchen, das hat nichts zu bedeuten.«

  Ich hätte ihr erklären können, dass Sex mit jemand anderem am gleichen Tag wie ein Kuss mit mir durchaus etwas zu bedeuten hatte. Aber da redete Edina schon weiter. »Es ist nur … dieser Sommer in Kilmore ist wichtig für ihn. Dass er ihn sauber über die Bühne bringt, verstehst du? Den Leuten keinen Grund zum Reden gibt. Und du bringst das in Gefahr.«

  Ich schaute sie verwirrt an. »Ich? Warum?«

  »Na, weil du sein Typ bist«, sagte sie geradeheraus. »Das weiß jeder hier in der Stadt, da bin ich sicher.«

  »Ich? Das ist lächerlich.« Zwar hatte ich wahrgenommen, dass man ganz besonders besorgt um mich war, aber ich hatte es darauf geschoben, dass ich fremd war und Lyall vorher nicht gekannt hatte. »Falls du das nicht bemerkt haben solltest, aber ich bin nicht gerade das Beuteschema der oberen Zehntausend. Geschweige denn ein Model.«

  Edina schnaubte. »Die Models, das ist Finlays Ding, nicht Lyalls«, sagte sie abfällig. »Mein Cousin geht nur mit Mädchen ins Bett, deren liebste Beschäftigung es ist, sich schminken zu lassen und Kleiderständer zu spielen. Er hat einen regelrechten Fetisch, was das angeht. Todsicher hat er sie angeschleppt.«

  »Meinst du? Er wirkte gar nicht so oberflächlich.« Ich nahm zwei Lachsschnitten von einem Tablett und gab eine davon Edina. Sie hielt sie vor den Mund, biss aber nicht direkt hinein.

  »Du hast Finlay kennengelernt?«, fragte sie stattdessen, in ihrem Blick etwas, das ich nicht richtig deuten konnte.

  »Nur sehr kurz. Abe
r er ist wirklich nett.«

  »Ja, ist er.« Sie lächelte. »Nichts gegen Lye, aber Finlay ist mit Abstand das Netteste, was meine Familie zu bieten hat. Trotz dieser Model-Sache.«

  Ich verzog das Gesicht. »Du machst mir Mut für das Gespräch mit deiner Mutter.«

  Edina sah auf ihre Uhr. »Wo wir davon reden, ich sorge mal dafür, dass sie herkommt. Wie ich sie kenne, hat sie sich hingelegt, obwohl sie immer behauptet, dass Jetlag in ihrem Wortschatz nicht vorkommt. Sie wird echt sonderbar mit dem Alter.«

  Ich musste lachen, weil Theodora Henderson noch nicht einmal fünfzig war. Doch da hatte Edina schon ihr Häppchen verdrückt und war auf und davon. Während ich darauf wartete, dass sie zurückkam, lief ich ziellos und hibbelig zwischen den Bildern hin und her. Ich hatte mir Fragen überlegt, ich hatte sogar Theodoras aktuellen Artikel gegoogelt, um gut vorbereitet zu sein, aber reichte das? Oder würde sie mich für ein Mädchen aus der Provinz halten, das es in Sachen Innendesign nie zu etwas bringen würde? Oh Gott, bitte nur das nicht. Ich drehte eine weitere Runde, wischte meine feuchten Hände am Saum des Kleides ab – und landete versehentlich direkt vor einer der Fotografien meiner Mutter. Schlagartig schnürte sich mein Brustkorb zu, als ich das Motiv erkannte.

  Es war eine atemberaubende Aufnahme von den Organ Pipes in Tasmanien, einer Felsformation, die aussah wie die Pfeifen einer Orgel. Der Nebel zog über die senkrecht zerklüfteten Felsen, und auf einem einzelnen schmalen Vorsprung stand ein Tier, dessen Umrisse nur schwach zu erkennen waren. Man konnte förmlich die kalte, feuchte Luft spüren, die Höhe und die Gewalt der Natur. Es war ein Meisterwerk. Aber das war nicht der Grund, warum mir sämtliches Gefühl aus dem Körper wich, als ich es betrachtete.

  Es lag daran, dass es das letzte Foto war, das sie je gemacht hatte. Das letzte, bevor sie nur eine Stunde später abgestürzt und gestorben war. Und mit einem Mal war ich wieder 14 Jahre alt und sah genau dieses Bild vor mir.

  Das Paket war wirklich riesig, stellte ich fest, doppelt so groß wie unser Fernseher. Zwei Männer von einem Kurierdienst hatten es für meinen Vater gebracht und mir ein Klemmbrett hingehalten, damit ich unterschrieb. Ich hatte das getan und sie gebeten, den großen, flachen Karton ins Wohnzimmer zu bringen, weil er für mich zu schwer und ich allein zu Hause war. Sobald sie sich verabschiedet hatten, war ich jedoch zu neugierig. Mit aller Vorsicht bog ich eine Ecke der Pappe auf, aber ich konnte nichts erkennen. Ob Dad böse war, wenn ich es öffnete? Nein, bestimmt nicht.

 

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