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Don't LOVE me (Die Don't Love Me-Reihe 1) (German Edition)

Page 18

by Kiefer, Lena


  Ich holte ein Messer und schnitt die Schnüre durch, bevor ich den Karton zur Seite wegzerrte. Dann trat ich ein paar Schritte zurück, um etwas zu erkennen. Es war eine Fotografie, die Aufnahme einer Felsformation. Eines von Mums Bildern, vermutlich. Warum schickte man uns so etwas? Was sollten wir damit?

  Am liebsten hätte ich Dad angerufen, aber der arbeitete gerade, und ich wusste, das hier würde ihn traurig machen, noch trauriger als eh schon. Neulich erst hatte ich ihn abends wieder weinen gehört, im Schlafzimmer nebenan. Aber ich war nicht hingegangen, diesmal nicht. Er wollte nicht, dass wir etwas davon mitbekamen. Also tat ich ihm den Gefallen, so zu tun, als würde ich es nicht hören.

  Ich wollte die Pappe wieder vor das Foto schieben, als mir etwas auffiel: eine kleine Metallplatte, unten in der Mitte. Sie war graviert.

  In Gedenken an Kaleigh Stayton, stand da, und dahinter ihre Lebensdaten.

  Ich las es einmal, zweimal, dreimal, ihren Namen, die Daten, ich konnte den Blick nicht von der letzten Zahl nehmen. Vier Ziffern. Das Jahr, in dem Mum gestorben war. Sie war in diesem Jahr gestorben. Wieder sah ich das Bild an und wusste plötzlich, was es war. Die Organ Pipes. Das Foto ihres Lebens. Das letzte Foto ihres Lebens.

  Sie war tot. Sie kam nicht mehr zurück.

  Nie mehr.

  Der Schmerz überrollte mich aus dem Nichts. So war es immer. Das Schluchzen kam hoch, kämpfte sich den Weg frei und ich presste die Hand auf den Mund, versuchte, es zu unterdrücken. Meine Finger zitterten, ich spürte, wie mein Magen sich verkrampfte und umdrehte. Schnell rannte ich zum Bad neben der Haustür, schaffte es gerade noch rechtzeitig hinein und übergab mich heftig ins Waschbecken. Mit zusammengekniffenen Augen drehte ich das Wasser auf, um nichts davon zu sehen, und würgte noch ein paarmal trocken, bevor es endlich aufhörte. Eilig spülte ich noch mehr Wasser hinterher, damit niemand etwas merkte, später am Tag, wenn die anderen nach Hause kamen. Dann drückte ich den Hebel herunter und lehnte mich kraftlos gegen die Wand.

  Es war so fürchterlich still. Niemand war hier. Wäre Eleni da gewesen oder Juliet, dann hätte ich einen Grund gehabt, so zu tun, als wäre alles okay. Aber sie waren nicht da. Und deswegen musste ich weg. So schnell wie möglich.

  Ich schnappte meine Jacke und rannte aus dem Haus, zu meinem Fahrrad, zerrte es aus der Garage und sprang auf. Dann fuhr ich los, die Auffahrt hinunter und in irgendeine Richtung. Ich musste so weit wie möglich weg von diesem Bild. Von der Tatsache, dass man eine Metallplatte graviert hatte, als wäre dieses Foto ein Grabstein, der den Tod meiner Mum besiegelte. Nur weil sie es gemacht hatte, kam sie nicht mehr zu uns zurück. Wegen eines beschissenen Fotos!

  Ich fuhr schneller, ein Auto hupte, jemand schimpfte, ich ignorierte es. Der Frühjahrswind riss an meinen Haaren, an meiner Jacke, aber ich fuhr weiter, immer weiter. Ich würde so lange fahren, bis es besser wurde.

  Aber das wurde es nicht. Egal, wie lange ich in die Pedale trat.

  Irgendwann tauchte vor mir die alte Woodbridge auf, die am Stadtrand über die Eisenbahngleise Richtung Westen führte. Sie lag allein im Wald, niemand kam hierher, weil der Weg in einer Sackgasse endete. Ich dachte nicht nach, sondern sprang von meinem Rad, ließ es fallen und ging zum Geländer.

  Einen Moment stand ich nur da, sah hinunter. Dann hob ich mein Bein und stellte zitternd den Fuß auf das Gitter, stemmte mich hinauf. Die Querstrebe war noch ein ganzes Stück über mir, aber ich schaffte es, hochzuklettern. Als ich oben war, löste ich meine Hände und richtete mich auf.

  Unter mir lagen die Gleise. Wie tief war es wohl? 15 Meter? 20? Ich war nicht gut darin, so etwas zu schätzen. Aber eins wusste ich: Wenn man dort hinunterstürzte, war man tot. Genau wie sie. Hatte sie das auch gedacht, als sie an der Felswand heruntergeklettert war? Hatte sie gedacht, wenn ich jetzt abstürze, bin ich tot? Hatte sie an uns gedacht? Daran, dass wir sie brauchten? Oder war ihr nichts davon durch den Kopf gegangen?

  Ich nahm den Fuß von der Strebe und streckte ihn nach vorne, ins Leere. Mein Puls hämmerte gegen meine Rippen, mein Kummer schüttelte meinen ganzen Körper. Ich wusste, es würde aufhören. Dieses grauenhafte Gefühl in meinem Inneren würde aufhören, wenn ich mich nach vorne fallen ließ. Wenn ich einfach ging. Nie wieder würde die Erinnerung an meine Mutter mir ein Loch ins Herz reißen. Nie wieder würde ich verbergen müssen, wie weh es tat, dass sie nicht mehr da war. Nie wieder Verzweiflung, Trauer, Wut über die Ungerechtigkeit. Nie wieder Schmerz.

  Es war so grausam verlockend.

  Dann kam mir Eleni in den Sinn. Meine kleinste Schwester, der jemand das Gefühl geben musste, alles würde wieder in Ordnung kommen. Ich dachte an Juliet, die so sehr versuchte, stark zu sein, und dabei ständig an ihrem weichen Herz scheiterte. An Willa, die uns oft aufheitern wollte und sich freute, wenn man über ihre doofen Scherze lachte, obwohl sie es selbst nicht tat. An meinen Dad, der sie niemals allein aufziehen könnte. Sie hatten schon so viel verloren. Sie konnten mich nicht auch noch verlieren.

  Deswegen musste ich bleiben.

  Langsam, ganz vorsichtig zog ich den Fuß zurück, hockte mich hin. Ich zitterte am ganzen Körper, trotzdem schaffte ich es, mich hinzusetzen und nach unten zu klettern. Und dann sank ich dort auf den dreckigen, verstaubten Boden und weinte. Ich weinte, bis mir alles wehtat, und dachte an all die Momente mit ihr, die nichts Besonderes gewesen waren, als sie noch gelebt hatte – und die jetzt alles bedeuteten. An die hektischen Morgen mit hastig geschmierten Pausenbroten, auf denen immer das Falsche gewesen war. An ihre Begeisterung, wenn eines ihrer Fotos in einer Zeitschrift erschien. An Fernsehabende im Pyjama. An Hühnersuppe aus der Dose, wenn ich krank war. An die »Schlaf gut«, an die »Wenn du jetzt nicht aufstehst, ziehe ich die Decke weg«, und an jedes einzelne »Ich hab dich lieb, Schatz«.

  »Ich hab dich auch lieb, Mum«, flüsterte ich leise in den Wind.

  Dann kämpfte ich mich auf die Beine, nahm mein Fahrrad und fuhr den ganzen Weg zurück. Und ich nahm mir vor, ab jetzt würde ich stark sein.

  Für uns alle.

  »Sieht ziemlich gefährlich aus, oder nicht?«

  »Was?« Ich fuhr herum, aber es fühlte sich an, als würde ich es in Zeitlupe tun. Die Erinnerungen hatten mich aus der Realität gerissen und es fiel mir schwer zurückzukehren.

  »Das Bild.« Fiona Henderson sah an mir vorbei auf das Vermächtnis meiner Mutter. »Vielleicht wirkt es nur so, aber für mich sieht es aus, als hätte sich der Fotograf dafür ziemlich in Gefahr gebracht.«

  Meine Hände begannen zu zittern, als die Erinnerungen erneut auf mich einprasselten wie ein Hagelschauer. An den Tag, als der Anruf gekommen war, den ich entgegengenommen hatte. Es gab einen Unfall. Wie kann ich deinen Vater erreichen? Die folgenden Tage, als ihre Kollegen uns besucht hatten, um uns zu erzählen, wie es passiert war und dass sie nichts mehr hatte sagen können, bevor sie gestorben war. Ich wusste noch genau, wie es sich angefühlt hatte. Wie ich versucht hatte, meinen Schwestern zu erklären, dass sie nicht zurückkommen würde, obwohl ich es selbst nicht verstehen konnte. Wie das Gesicht von Eleni ausgesehen hatte, war in meinen Kopf gebrannt wie ein Standbild. Du lügst! Mum würde uns nie alleinlassen! Wie sie geweint hatte, stundenlang, in meinem Arm, während ich mich gefragt hatte, wie unser Leben jemals weitergehen sollte. Und wie ich schließlich auf dieser Brücke gestanden und gedacht hatte, ich würde diesen Schmerz nicht länger aushalten. All das flutete mein Herz und meinen Verstand, während ich krampfhaft versuchte, nicht darunter zusammenzubrechen. Ich hatte das alles so lange weggeschoben. Musste es ausgerechnet heute zurückkommen?

  Fiona stand noch neben mir und sah mich an, wartete auf eine Antwort.

  »Meine … meine Mum hat das Bild gemacht«, stammelte ich.

  Fionas Augen wurden groß. »Deine Mutter? Ist sie nicht …« Ihr wich alle Farbe aus dem Gesicht.

  »Doch«, sagte ich leise. »Das hier war ihr letztes Foto.«

  »Oh Gott. Kenzie, es tut mir so leid, ich wollte nicht taktlos sein.« Zum ersten Mal, seit ich Fiona kannte, war sie freundlich zu mir, aber ich bekam es kaum mit.

  Ich muss hier raus. Das war alles, woran ich d
enken konnte. Genau wie damals musste ich weg, weg von dem Bild und meinen Erinnerungen, die ich damit verband. Weg von der Trauer, die sich in mir ausbreitete wie ein tödlicher Virus, und von der Wut, die sich daruntermischte. Ich brauchte dringend etwas, um beides zu betäuben, und einen Ort, um das zu tun. So schnell wie möglich.

  Ich machte kehrt, steuerte mit eiligen Schritten auf die Bar zu und nahm mir ohne zu fragen eine ganze Flasche Whiskey. Wie durch Nebel sah ich die Leute, aber für mich gab es nur die rettende Tür nach draußen. Ich stolperte über die Schwelle, fing mich noch ab, lief auf den Rasen, knickte um. Wütend schleuderte ich Amys Schuhe von meinen Füßen und ging barfuß weiter, die Flasche fest in meiner Hand.

  Vor mir glitzerte der See, und ich lief, rannte irgendwann und blieb auch nicht stehen, als ich den groben Sand des Strandes am Ufer unter den Fußsohlen spürte. Ich lief weiter, immer am Loch entlang, bis ich irgendwann den Wald erreichte. Der Kloß in meinem Hals war größer als jemals zuvor, ich hatte das Gefühl, ich müsste daran ersticken, an ihm und den Gedanken an meine Mum. Wie sie einfach nicht mehr da gewesen war. Wie sie uns alleingelassen hatte. Wie sie mich alleingelassen hatte. Aber ich kämpfte gegen den Drang, an Ort und Stelle zusammenzubrechen, bis ich weit genug gelaufen war. Genau wie damals.

  Und erst dann, als ich auf einem schmalen Streifen Ufer auf meine Knie fiel und die Flasche zitternd in den Kies glitt, hörte ich auf, mich zu wehren. Gegen die Tränen, gegen den Schmerz. Ich ließ alles zu, ließ mich davon überrollen, brach darunter zusammen, gab auf. Schließlich wusste ich, wann ich verloren hatte.

  Das hatte ich schon immer gewusst.

  19

  Lyall

  »Lye? Hast du kurz Zeit?« Meine Schwester, die erst ein paar Stunden vor dem Event angekommen war, unterbrach mein Gespräch mit dem Auktionator. Ich entschuldigte mich und ging mit ihr beiseite.

  »Was ist los?«, fragte ich.

  »Hast du Kenzie gesehen? Ich war nur kurz drüben und habe Mum daran erinnert, dass hier jemand auf sie wartet, aber als ich zurückkam, war sie weg.« Edina sah sich um und ich tat es ebenfalls, aber ich konnte Kenzie nirgendwo entdecken.

  »Nein, keine Ahnung.« Dabei hatte ich sie kaum aus den Augen gelassen, seit sie angekommen war. Es war ziemlich riskant, aber ich konnte mich nicht davon abhalten, schon gar nicht, wenn sie so aussah wie heute. Auch in ihren normalen Klamotten fand ich sie heiß, aber dieses schwarze Kleid sorgte dafür, dass ich mich kaum auf die Gespräche konzentrieren konnte, die ich führte. Als ich jedoch den Auktionator begrüßt hatte, war ich kurz abgelenkt gewesen und hatte sie verloren.

  »Ich frage mal Henry, vielleicht weiß er etwas.« Edina ging, redete mit dem Barkeeper und kam nach einer Minute zurück.

  »Was ist?«, fragte ich, als ich ihren besorgten Gesichtsausdruck sah.

  »Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber … Kenzie hat sich wohl vorhin mit Fiona unterhalten, da drüben bei den Fotografien, und dann ist sie förmlich aus dem Raum geflüchtet. Und vorher hat sie Henry eine volle Flasche Scotch abgenommen.« Sie deutete zum Barkeeper.

  Mit einer ganzen Flasche Whiskey zu fliehen – direkt, bevor sie meine Mutter kennenlernen sollte? Das ergab doch keinen Sinn. Ich drehte mich zu der entsprechenden Ecke um und erkannte, dass es die Aufnahmen von Kaleigh Stayton waren, die dort an der Wand hingen. Ein richtig mieses Gefühl beschlich mich.

  »Weiß er, wo sie hin ist?«, drängte ich meine Schwester.

  »Nein, nicht genau. Willst du sie suchen?«

  Ich presste die Lippen aufeinander. Eigentlich hätte ich Edina darum bitten sollen, oder Drew anrufen lassen. Immerhin hatte ich zwei Wochen in Kilmore hinter mich gebracht, ohne in Kenzies Nähe zu kommen – zumindest nicht auf die Art, wie ich es eigentlich wollte. Das zusammen mit dieser Wohltätigkeitsveranstaltung hatte meinen Ruf in der Stadt so weit verbessert, dass ich mit einem weiteren Monat offensiver Harmlosigkeit wahrscheinlich aus dem Schneider war. Aber es ging hier um Kenzie. Kenzie, die ständig in meinen Gedanken herumgeisterte, obwohl mir das verboten war. Schon seit diesem Abend in Edinburgh machte es mich rasend hilflos, sie anzusehen und zu wissen, was sie von mir dachte. Dass sie glaubte, die hätten alle recht. Aber auch wenn es für uns beide besser gewesen wäre, konnte ich die Suche nach ihr nicht jemand anderem überlassen. Nein, falsch. Ich wollte sie niemand anderem überlassen.

  »Kannst du dir was ausdenken, warum ich weg bin?« Ich sah meine Schwester bittend an.

  »Hat die Queen einen eigenen Balkon? Natürlich kann ich das.« Edina zeigte unauffällig zu einer der Haupttüren, die in den Park führten. »Sie ist dort raus. Wenn du sie nicht bald findest, sag Bescheid, dann trommle ich einen Suchtrupp zusammen.«

  Besorgt sah ich zu besagter Tür. »Ich hoffe, sie ist einfach nur zu ihrem Camper gegangen. Sie kennt sich hier nicht gut genug aus und in einer halben Stunde ist es stockdunkel draußen.« Schnell zog ich mein Handy heraus und schaute nach, ob ich noch genug Akku hatte. »Ich melde mich.« Dann ließ ich meine Schwester allein und trat nach draußen.

  »Lyall?« Fionas Stimme hinter mir bremste mich auf meinem Weg durch den Park. »Was ist mit Kenzie? Geht es ihr gut?«

  Ich drehte mich wütend um. »Was hast du zu ihr gesagt?«, herrschte ich sie an.

  »Nichts! Ich habe nur gesagt, dass es bestimmt gefährlich ist, diese Bilder zu machen. Ich hatte doch keine Ahnung, dass sie von ihrer Mutter sind. Dass es ihr letztes Foto war!«

  Ich sah Fiona an. »Dann bete lieber, dass ihr nichts passiert ist.« Meine Stimme war nur noch ein Zischen. »Denn wenn doch, schwöre ich dir, mach ich dich fertig.«

  Ich durchquerte den Park und wandte mich in Richtung See. Kaum war ich außer Sichtweite der Gäste, begann ich zu laufen, die wenige Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit im Nacken. Mein Puls schlug schnell und hart, aber nicht wegen der Anstrengung, sondern vor Sorge. Wenn Kenzie ein Treffen mit meiner Mutter verschmähte, dann war es ernst. Ich hatte gesehen, wie ihr Gesicht aufgeleuchtet hatte, als ihr klargeworden war, mit wem ich da verwandt war. Wie sie sich gefreut hatte, dass sie Mum kennenlernen würde. Nein, da stimmte etwas nicht. Ganz gewaltig nicht.

  Nach dem, was Fiona zu ihr gesagt hatte, war wahrscheinlich alles zurückgekommen. Es passte zu Kenzie, denn Leute wie sie ergaben sich nicht ihrem Schmerz, sondern verdrängten und machten weiter. Wahrscheinlich hatte er sie gerade wieder eingeholt. Hoffentlich machte sie nicht irgendetwas Dummes deswegen.

  Am Strand, der zum Hotel gehörte, war sie nicht, also lief ich weiter am Wasser entlang bis zum Campingplatz. Der blaue Van stand an seinem Platz, darin war es dunkel. Ich ging zum Auto und klopfte vorsichtig an das Fenster in der Schiebetür.

  »Kenzie? Hey, bist du da?« Nichts. Ich klopfte noch mal. Wenn dich jemand hier sieht, wie du nach ihr suchst, bist du geliefert , mahnte etwas in meinem Hinterkopf. Na und? Scheiß drauf.

  Der Wagen war abgeschlossen, und auch als ich mein Ohr an das Blech drückte, war nichts zu hören. Also musste sie woanders hingelaufen sein, wahrscheinlich irgendwohin, wo sie ihre Ruhe hatte. Ich schaute auf die Uhr, es dämmerte bereits. Wenn ich sie finden wollte, dann musste ich mich beeilen.

  Ich lief, bis ich in den bewaldeten Teil des Ufers eintauchte und es mit einem Mal dunkel war. Da ich hier so oft spätabends gewesen war, fand ich mich blind zurecht, aber mein Ziel kannte ich trotzdem nicht. Wo zur Hölle war sie, verdammt noch mal?

  Mein Kopf rechnete hastig. Wie lange brauchte man, um so viel zu trinken, dass es gefährlich wurde? Kenzie war nicht klein, aber zierlich, und sie hatte schon mit Edina einen Drink gehabt. Außerdem hatte sie sicherlich zwanzig Minuten Vorsprung. Reichte das aus?

  Ich blieb stehen, mitten auf dem Pfad. Dann holte ich Luft und ließ jede Vorsicht fallen.

  »Kenzie!«, brüllte ich in den Wald. »Kenzie, wo bist du?« Keine Antwort. Mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen, als ich weiterlief und immer wieder nach ihr rief, ohne eine Reaktion zu bekommen. Und je weiter ich in den Wald vordrang, desto mehr verabschiedete sich meine Vernunft und Panik übernahm das Ruder. Scheiße. Das wird genauso enden. Genauso wie vor drei Jahre
n, dachte ich, während ich Ausschau nach ihr hielt. Das stimmt nicht , widersprach der rationale Teil in mir. Das hier ist anders als bei Ada. Es ist nicht deine Schuld, dass Kenzie abgehauen ist. Nein, aber wenn ich sie nicht finden konnte, dann spielte das keine Rolle.

  Ich war schon fast an den Ferienhäusern angekommen, als mein Handy klingelte. Auf dem Display war das Gesicht meiner Schwester zu sehen.

  »Ist Kenzie wieder da?«, fragte ich hastig.

  »Leider nein. Also hast du sie nicht gefunden?«

  »Nein. Ich bin am Nordufer, weil ich dachte, sie ist vielleicht hierhergelaufen, aber keine Spur von ihr.«

  »Dann komm zurück. Wir werden ein paar Leute fragen, ob sie suchen helfen.«

  »Edie, was wenn …?« Der Rest des Satzes blieb mir vor Angst im Hals stecken.

  »Hör auf damit, Lye«, sagte meine Schwester ruhig. »Kenzie ist ein kluges Mädchen, sie wird keinen Blödsinn anstellen. Bestimmt finden wir sie bald.«

  Ich drehte mich um und atmete aus. »Okay. Ich bin gleich da. Sag niemandem etwas, bevor ich zurück bin.«

  Eilig setzte ich mich wieder in Bewegung. Auf dem Hinweg war ich gejoggt, auf dem Rückweg rannte ich wie der Teufel. Ich musste so schnell wie möglich zurück, damit die Suche angeleiert werden konnte. Bitte mach, dass sie in Ordnung ist.

  Am Waldrand wurde ich langsamer, als mein Blick vom Uferstreifen angezogen wurde, weil irgendetwas dort nicht ins Bild passte. Das kleine Stück Strand, vor allem mit Kies bedeckt, leuchtete hell im aufkommenden Mondlicht – abgesehen von einem dunklen Schatten auf dem Boden, direkt am Wasser.

 

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