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002 - Someone Else

Page 5

by Laura Kneidl


  Ich war mir sicher, dass das nicht der Fall sein würde, aber ich konnte nicht mehr tun, als meine Hilfe anzubieten. Unter keinen Umständen wollte ich mich aufdrängen.

  »Ich bin mir sicher, du schaffst das. Und den Kurs wirst du mit Bravour bestehen!«, erwiderte ich, darum bemüht, aufmunternd zu klingen.

  Auri nickte zustimmend. »Und vergiss mein Angebot nicht.«

  Ich wurde hellhörig. »Was für ein Angebot?«

  »Ich war doch schon letztes Semester in einem dieser Social-Media-Kurse. Die Leute dort würden sich ein Bein ausreißen, um einen Instagram-Account wie den von Aliza betreuen zu dürfen. Das würde ihren Lebenslauf so was von hart aufwerten.«

  Alizas düstere Miene hellte sich bei seinem Lob für einen Moment auf. »Ich würde mich nicht wohl dabei fühlen, jemanden unbezahlt für mich arbeiten zu lassen. Und Geld hab ich gerade keins übrig, ich spar auf meine eigene Wohnung.«

  Auri nahm sich ebenfalls einen Brotstick aus dem Korb. »Ich wusste gar nicht, dass du ausziehen willst.«

  »Es wird langsam Zeit. Ich brauch eine größere Küche, die mir zur Verfügung steht, wann immer ich möchte. In der ich kochen und backen kann, ohne Angst zu haben, jemanden aufzuwecken, wenn ich den Teigkneter einschalte.«

  Die Kellnerin kam mit Alizas Tee. Vorsichtig stellte sie die dampfende Tasse vor ihr ab, bevor sie zum nächsten Tisch eilte, um eine Bestellung entgegenzunehmen.

  »Verständlich«, sagte Auri mit einem erneuten Nicken. »Ich fühl mich auch immer ganz mies, wenn um halb sechs mein Wecker losgeht.«

  Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir. Das Teil, das Auri weckte, stammte direkt aus der Hölle. Es war laut und kreischte und war selbst durch die Wand, die unsere Zimmer trennte, deutlich zu hören. In den ersten Wochen unseres Zusammenwohnens war ich jeden Morgen davon wach geworden. Inzwischen überhörte ich es meistens.

  »Für wann ist der Auszug geplant?«

  »Bald. Eigentlich warte ich nur noch auf die letzte Vorschusszahlung des Verlags für das Kochbuch, damit meine Eltern ruhig schlafen können. Sie wissen zwar, wie viel ich verdiene, aber sie machen sich trotzdem Sorgen. Alleine wohnen ist ganz schön teuer.«

  Auri sah in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Auch ohne Worte wusste ich, was ihm gerade durch den Kopf ging. Es war derselbe Gedanke, der auch mich heimgesucht hatte.

  Ich räusperte mich. »Also … wenn du möchtest, könntest du bei Auri und mir einziehen. Julians Zimmer ist immer noch frei.« Zwar war ich eigentlich nicht auf einen neuen Mitbewohner aus, aber hier ging es schließlich um Aliza.

  Sie schüttelte den Kopf. »Nett von euch, dass ihr fragt, aber ich möchte das wirklich alleine durchziehen.«

  »Falls du deine Meinung änderst, gib Bescheid, noch haben wir keine Pläne für das Zimmer«, sagte Auri und klopfte sich ein paar Krümel vom Shirt.

  Aliza bedankte sich noch einmal, dann holte sie ihre Kamera heraus und entschuldigte sich für ein paar Minuten, um Fotos vom Riccardo zu machen.

  Sie war erst ein paar Sekunden weg, als Micah und Julian zu uns stießen. Wie erhofft, hatten die beiden Poster für ihre Wohnung gefunden sowie eine Obstschale und neue Vorhänge. Die alten war Laurence in einem akuten Anfall von Kletterwut hochgesprungen und hatte Löcher hineingerissen. Ich hatte Julian noch nie so laut mit ihm schimpfen gehört wie an diesem Tag.

  Nachdem Aliza sich wieder zu uns gesetzt hatte, kam die Kellnerin mit den Speisekarten an unseren Tisch. Micah und ich beschlossen, uns eine Pizza zu teilen, während Auri sich zu Alizas Begeisterung gleich zwei Hauptgänge ohne Fleisch bestellte, sodass sie von beiden probieren konnte.

  »Hast du schon etwas von Lilly gehört?«, fragte Aliza an Micah gewandt.

  »Ja, sie hat mir vorhin geschrieben, dass sie gut in New Jersey gelandet sind. Link ist noch bei ihrer Mom. Die beiden reisen übermorgen nach, damit Tanner und sie vorher Zeit haben, in Ruhe die Wohnung herzurichten.«

  Lilly war Micahs beste Freundin aus Schulzeiten. Sie war mit fünfzehn schwanger geworden und hatte die Highschool erst vor wenigen Wochen beendet, was es ihr endlich ermöglichte, mit ihrem Verlobten – Links Vater – zusammenzuziehen und gemeinsam in Princeton zu studieren. Ich hatte keine Ahnung, wie man es schaffen konnte, Studium und Familie unter einen Hut zu bringen, aber ich wusste, dass es ihr gelingen würde, und dafür bewunderte ich sie sehr.

  Micah erzählte noch etwas mehr von Lillys und Tanners Plänen für das kommende Semester und dass Julian und sie bereits ihre Flüge für den ersten Besuch in New Jersey gebucht hatten. Anschließend wandte sich das Gespräch der bevorstehenden SciFaCon zu. Micah wollte ebenfalls ein Cosplay machen, aber sie konnte sich für keine Superheldin entscheiden.

  »Ich würde gerne als Wanda und Vision gehen, aber Julian weigert sich.«

  »Ich werde mich nicht von Kopf bis Fuß rot anmalen«, warf Julian ein. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgeschoben, sodass die Narbe, welche die Penoid-Operation an seinem linken Unterarm zurückgelassen hatte, zu erkennen war. Früher hatte er sie immer versteckt aus Angst, sich dadurch versehentlich als trans Mann zu outen. Inzwischen schien ihm das mehr oder weniger egal zu sein, solang er nicht dumm angemacht wurde.

  Micah verdrehte die Augen. »Du müsstest dich nicht von Kopf bis Fuß rot anmalen. Nur dein Gesicht, deinen Hals und deine Hände, alles andere wäre von deinem Kostüm bedeckt.«

  Julian schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«

  »Sei nicht so ein Spielverderber. Auri verkleidet sich auch.«

  »Na und? Du kannst auch als Wanda gehen, ohne dass ich Vision bin.«

  Micah verschränkte die Arme vor der Brust. »Wanda ohne Vision ist kein richtiges Kostüm.«

  »Da hat sie recht«, pflichtete Auri ihr bei. »Das ist wie Star-Lord ohne Gamora.«

  Micah richtete sich so plötzlich in ihrem Stuhl auf, als hätte sie einen Geistesblitz gehabt. »Würdest du als Star-Lord gehen? Dafür brauchst du nur eine schwarze Lederhose, eine rote Lederjacke und einen Walkman.«

  Skeptisch hob Julian die Augenbrauen. »Das ist alles?«

  Micah nickte. »Und ich würde mich dafür grün anmalen. Was sagst du?«

  Julian schürzte die Lippen und dachte einen Augenblick nach. »Ich denke, das wäre in Ordnung.«

  »Yeah!« Micah klatschte in die Hände und beugte sich zu Julian, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Du wirst es nicht bereuen. Die SciFaCon wird großartig. Versprochen!«

  »Das werden wir noch sehen«, erwiderte Julian trocken. Doch jeder am Tisch konnte das Lächeln sehen, das an seinen Mundwinkeln zerrte. Julian hätte einfach alles für Micah getan und sich vermutlich früher oder später auch dazu bereit erklärt, als Vision auf die SciFaCon zu gehen, nur um sie glücklich zu machen.

  Ich freute mich, dass die beiden einander gefunden hatten, und ich war mir beinahe sicher, dass sie mich eines Tages zu ihrer Hochzeit einladen würden.

  5. Kapitel

  Manchmal hasste ich mein Vergangenheits-Ich. Warum hatte ich Lucien zugesagt, heute zu ihm zu kommen? Auri war unterwegs, und ich hätte die Wohnung für mich alleine haben können.

  So gerne ich auch mit ihm zusammenlebte, hin und wieder genoss ich die Einsamkeit und die Möglichkeit, für ein paar Stunden tun und lassen zu können, was ich wollte. Ungestört lange baden und in Unterwäsche durchs Wohnzimmer flitzen, ohne Angst zu haben, jemandem in die Arme zu laufen. Mir Folgen meiner »Guilty Pleasure«-Serien angucken, ohne mir irgendwelche Sticheleien oder Genörgel anhören zu müssen. Ich mochte Unsere kleine Farm , na und? Die Serie erinnerte mich an die Zeit, die ich mit meinem Opa vor dem Fernseher verbracht hatte. Sie war wie eine Umarmung, wärmend und wohltuend, und jedes Mal, wenn ich eine Folge guckte, fühlte ich mich danach ruhiger und gelassener. Doch heute würde ich nichts davon tun, denn ich hatte Lucien versprochen, für ihn Modell zu stehen.

  Lucien wohnte auf der anderen Seite der Stadt in einem zweistöckigen Haus mit hellblauer Fassade und schwarzem Dach, aus dem mehrere Erkerfenster ragten. Es gab auch einen kleinen Garten mit einer großen Ulme und süßen Blumenbeeten, die sich um die Terrasse re
ihten. Es war ein Haus wie jedes andere, und jeder, der daran vorbeikam, würde vermuten, dass dort eine gewöhnliche Familie lebte. Aber das stimmte nicht. Nicht mehr. Inzwischen wohnten darin nur noch Lucien und seine fünfzehnjährige Schwester, für die er das Sorgerecht trug, seit ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Der Unfall war damals groß durch die Presse gegangen: Lkw drängt Ehepaar von der Brücke .

  Ein Schauder lief mir über den Rücken, wie jedes Mal, wenn ich daran dachte. Schnell schob ich die Erinnerung beiseite, zumal Lucien es hasste, darüber zu reden. Erst Wochen nach unserem Kennenlernen hatte er mir die Wahrheit erzählt und mich darum gebeten, es nicht an die große Glocke zu hängen.

  Ich drückte auf die Klingel und betätigte sie erneut, als mir niemand öffnete. Schließlich hörte ich Schritte, und Amicia, Luciens Schwester, öffnete mir die Tür.

  »Hey«, begrüßte ich sie. Mit ihren kantigen Gesichtszügen und den schwarzen Haaren erinnerte sie mich entfernt an Micah. Doch da hörte die Ähnlichkeit zwischen den beiden auch schon auf, denn während Micah stets ein Lächeln auf den Lippen trug, wirkte Amicias Miene für gewöhnlich verschlossen wie ein Wandsafe. »Wie geht’s dir?«

  »Gut.«

  Ich trat an ihr vorbei in die Wohnung und hängte meine Tasche an die Garderobe. »Hast du schöne Ferien?«

  Sie zuckte gelangweilt mit den Schultern, dann drehte sie sich um und brüllte laut: »Lulu! Cassie ist da!«

  »Danke«, murmelte ich und fragte mich, ob ich als Teenager auch so wortkarg und anstrengend gewesen war. Andererseits war Amicia schon so gewesen, als ich sie vor knapp eineinhalb Jahren kennengelernt hatte, was man ihr in ihrer Situation wohl nicht verdenken konnte.

  Polternde Schritte waren zu hören, dann wurde die Tür, die in den Keller hinabführte, aufgestoßen.

  Lucien war wie immer vollkommen in Schwarz gekleidet. Es war seine Lieblingsfarbe, und ich war mir ziemlich sicher, ihn noch nie ein Shirt tragen gesehen zu haben, das heller war als Dunkelgrau.

  »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht so rumbrüllen?«, rief Lucien seiner Schwester hinterher, die bereits wieder ins Wohnzimmer verschwunden war, aus dem schaurige Laute erklangen.

  Lucien stieß ein Seufzen aus, bevor er sich zu mir umwandte. »Sorry, ich hab dich nicht gehört.«

  »Nicht schlimm, Amicia und ich haben eine nette Unterhaltung geführt.«

  Er stieß ein Grunzen aus, das vermutlich so viel bedeuten sollte wie »Schön wär’s«, bevor er fragte: »Wollen wir gleich anfangen?«

  »Klar, dafür bin ich hier.« Obwohl ich am Morgen keine Lust gehabt hatte, mit dem Bus quer durch die Stadt zu fahren, war ich nun gespannt, was Lucien für mich vorbereitet hatte.

  Ich folgte ihm hinab in den Keller, der sein Reich war. Er hatte ihn gemeinsam mit seinem Vater ausgebaut und vor dessen Tod auch darin geschlafen. Inzwischen lag sein Schlafzimmer im ersten Stock, aber seine Werkstatt hatte er noch immer hier unten.

  Tageslichtlampen leuchteten den fensterlosen Raum bis in die letzte Ecke aus. Schränke voller Dosen, Gläser und Kisten, die allesamt etikettiert waren, säumten die Wände ebenso wie Regalbretter, auf denen Büsten standen, die Lucien nutzte, um die Masken auszustellen, die er mit den Jahren entworfen hatte. Die meisten waren ziemlich schaurig und mit jeder Menge Kunstblut versehen.

  Lucien hatte eine Vorliebe für Horrorfilme und schon früh entschieden, dass er später einmal gerne als Effekt-Maskenbildner an diesen mitarbeiten wollte. Sein Traum, eine Ausbildung zum Make-up-Artist zu machen, war nach dem Tod seiner Eltern erst einmal geplatzt, aber das hielt ihn nicht davon ab, stetig weiter an seinem Portfolio zu arbeiten.

  »Setz dich.« Er deutete auf einen Stuhl, der vor einem Tisch mit gewaltigem Spiegel stand. Darauf hatte er bereits allerlei Utensilien ausgebreitet. Von regulärem Make-up über Kunstblut bis hin zu flüssigem Latex war alles dabei. Ich war schon gespannt darauf, wie mein Gesicht später aussehen würde.

  Ich setzte mich auf den Stuhl, und Lucien zog einen Hocker für sich heran.

  »Danke, dass ich an dir üben darf.«

  »Gerne. Verrätst du mir, was du geplant hast?«, fragte ich, so wie jedes Mal.

  Und wie jedes Mal gab mir Lucien dieselbe Antwort: »Nein, das ist eine Überraschung.«

  Ich schmunzelte und machte es mir bequem, da ich vermutlich einige Stunden hier sitzen würde.

  Lucien rutschte mit seinem Hocker näher, sodass wir nur noch eine halbe Armlänge voneinander entfernt saßen. Aufmerksam studierte er mein Gesicht, bevor er sich an die Arbeit machte.

  Anfangs hatte ich es kaum ertragen, seinen Blick zu erwidern. Lucien war mit Abstand der schönste Mann, der mir je begegnet war. Ihn anzusehen, tat beinahe weh. Sein markantes Gesicht wirkte fast unnatürlich symmetrisch, wie von einem Bildhauer geschlagen. Seine wohlgeformten Lippen, seine schmale Nase und seine braunen Augen waren in perfektem Einklang. Sein schwarzes Haar war dicht und voll, und obwohl ich Lucien noch nie ohne Shirt gesehen hatte, ließ sich erahnen, dass sich unter dem Stoff eine sportliche Figur verbarg.

  Schließlich griff Lucien nach einer Tube und begann mein Gesicht mit einer Art Feuchtigkeitscreme einzuschmieren. Sanft massierte er sie in meine Haut ein, die ohnehin immer viel zu trocken war.

  »Ist das ein neues Tattoo?«

  Lucien folgte meinem Blick zu seiner Hand. Auf dem Knöchel seines rechten Zeigefingers waren zwei kleine schwarze Kreise zu sehen, die mir zuvor noch nie aufgefallen waren.

  »Ja, hab es mir letzte Woche stechen lassen.«

  »Schlicht. Aber es gefällt mir.«

  Ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu fragen, ob es eine Bedeutung hatte. Dies war nicht Luciens erstes, zweites oder drittes Tattoo, sondern vermutlich sein fünfzigstes, und die wenigsten seiner Körperbilder hatten einen tieferen Sinn. Er mochte einfach, wie die schwarze Tinte auf seiner Haut aussah. Seine Arme waren beide komplett bedeckt, und auch an seinen Beinen saßen vereinzelte Motive.

  Ich erzählte ihm vom Crooked Ink und dass ich dort möglicherweise schon bald arbeiten würde.

  Lucien war begeistert, und ähnlich wie Auri wollte er direkt einen Termin mit mir vereinbaren, als wäre ich diejenige, unter deren Nadel sie sich legen würden. Doch zumindest verlangte Lucien nicht von mir, das Motiv für ihn auszusuchen. Wobei ich mich bei ihm sogar wohler damit gefühlt hätte. Nicht weil er mir mehr bedeutete als Auri, sondern weil das Gegenteil der Fall war. Und außerdem besaß Lucien viel mehr Tattoos, sodass ein weiteres kaum auffiel.

  »Wirst du dir auch eines stechen lassen, wenn du schon an der Quelle sitzt?«, fragte Lucien, während er meine Haut mit einem Wattepad abtupfte, das er mit irgendeiner Flüssigkeit getränkt hatte.

  »Ich denke nicht.« Wenn ich mir irgendwann einmal ein Tattoo stechen lassen würde, dann weil ich es wirklich wollte und es mir ein wichtiges Anliegen war. Denn ich konnte nicht einfach wie ein gesunder Mensch in ein Studio marschieren und mir aus einer Laune heraus ein Arschgeweih verpassen lassen. Mein Diabetes war hinderlich für den Heilungsprozess, der mit einem Tattoo einherging. Das hieß nicht, dass ich mir niemals ein Tattoo stechen lassen konnte, aber es bedeutete für mich ein größeres Risiko als für andere. Ein Risiko, das ich mit meinem Arzt besprechen sollte und das es vielleicht einfach nicht wert war.

  Lucien erzählte mir von ein paar Ideen, die er für seine nächsten Tattoos gesammelt hatte, und zeigte mir Beispiele auf seinem Handy. Er hatte eine Vorliebe für realistische Motive mit vielen Schattierungen und Lichtreflexen. Wenn ich die Gesichter seiner Eltern ansah, welche die Unterseite seiner Unterarme zierten, hatte ich das Gefühl, ein altes Schwarz-Weiß-Foto zu betrachten und kein Körperteil.

  »Wie war eigentlich die Smith-Hochzeit?«, fragte ich und versuchte mich nicht davon stören zu lassen, dass Lucien gerade dabei war, mein linkes Auge mit einem Stück Latex zu verkleben, um den Anschein einer Wunde zu erzeugen. Auf meiner Stirn hatte er bereits ein paar Hörner befestigt, weshalb ich es kaum mehr wagte, mein Gesicht zu verziehen.

  »Ganz gut«, antwortete er, die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. »Allerdings hat di
e Braut eine halbe Stunde vor der Hochzeit mal wieder so heftig das Flennen angefangen, dass ich ihr Make-up danach in Rekordzeit noch mal komplett neu machen konnte.«

  »Was fällt der Frau ein, am wichtigsten Tag ihres Lebens emotional zu werden!«, sagte ich empört.

  »Du weißt, wie ich das meine.« Er lehnte sich auf seinem Hocker zurück, um mein neues, gehörntes Gesicht zu betrachten. »Ihr Make-up sah einfach nicht so gut aus, wie es hätte aussehen können, hätte sie nicht geweint. Was bedeutet, dass die Fotos von ihr vermutlich nichts für mein Portfolio sind.«

  »Du hast genug Bilder in deiner Mappe«, versicherte ich ihm. Nach dem Tod seiner Eltern hatte Lucien damit begonnen, seine Dienste als Make-up-Artist anzubieten. Meistens wurde er für Hochzeiten gebucht, aber immer häufiger bekam er auch Aufträge für Fotoshootings. Was nicht verwunderlich war, denn er war verdammt gut. Ich kannte niemanden, der besser Eyeliner auftragen und schneller künstliche Wimpern ankleben konnte als Lucien, nicht einmal Aliza. »Und wenn nicht, steh ich dir gerne zur Verfügung.«

  Luciens rechter Mundwinkel zuckte, seine Version eines dankbaren Lächelns. »Das wird nicht nötig sein. Ich bin die nächsten drei Wochenenden für Hochzeiten gebucht, da ist sicher was für mein Portfolio dabei.«

  »Wer heiratet denn?«, fragte ich, woraufhin er mir noch ein bisschen mehr über die Hochzeiten, die Bräute und das Make-up verriet, das sie sich für ihren großen Tag wünschten. Es war nicht Luciens Traumjob, andere Leute hübsch aussehen zu lassen, dafür liebte er Kunstblut zu sehr, aber die Aufträge brachten gutes Geld.

  Er erzählte mir auch, dass Amicia jetzt eine Freundin hatte. Sie hieß Brooklyn. Die beiden hatten sich während des Nachsitzens in der Schule kennengelernt. Alles, was er über die beiden sagte, klang zuckersüß und unschuldig, aber es war deutlich herauszuhören, dass er sich Sorgen machte, weil er nicht wollte, dass Amicia das Herz gebrochen wurde.

  Ich versuchte ihm seine Angst zu nehmen, indem ich ihm erklärte, dass dies eine Erfahrung war, die jeder früher oder später einmal machen musste, aber davon wollte er nichts hören. Was nicht verwunderlich war, denn er setzte alles daran, jede Art von emotionalem Schmerz von sich und seiner Schwester fernzuhalten. Dafür hatte er sogar selbst der Liebe den Rücken gekehrt. Seit wir uns kannten, war er nur auf drei Dates gewesen, und mit keiner dieser Frauen hatte er sich ein zweites Mal getroffen. Er bemühte sich auch nicht, jemanden kennenzulernen, und hatte schon mehrmals behauptet, ich sei seine Freundin, um Flirtversuchen aus dem Weg zu gehen. Die größte Anstrengung, einer Frau näherzukommen, hatte er wohl vor knapp eineinhalb Jahren unternommen, als er mich geküsst hatte. Doch uns war beiden schnell klar geworden, dass zwischen zwei Staubkörnern mehr sexuelle Spannung herrschte als zwischen uns.

 

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