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002 - Someone Else

Page 6

by Laura Kneidl


  Lucien war gerade dabei, mein Gesicht mit schwarzer Farbe zu konturieren, als uns ein Quietschen verriet, dass die Tür zum Keller geöffnet wurde.

  »Cassie!«, rief Amicia die Treppe herunter. »Dein Handy klingelt!«

  Mist, ich hatte vergessen, es stumm zu schalten. Vermutlich war es ohnehin nur Auri, der wissen wollte, ob er auf dem Heimweg beim Supermarkt haltmachen sollte.

  »Ich ruf später zurück!«

  »Sicher? Es klingelt schon seit fünf Minuten!«

  »Dann bring es runter!«, brüllte Lucien an meiner Stelle zurück.

  Es entstand eine Pause, dann erklang ein »Jawohl, Meister!«.

  Kurz darauf kam Amicia mit meiner Tasche die Treppe heruntergestampft. Wortlos ließ sie sie in meinen Schoß fallen. Als ich mich bedankte, nahm sie es lediglich mit einem Grunzen zur Kenntnis.

  Lucien verdrehte die Augen. »Ich schwöre dir, jeder Papagei ist redseliger.«

  Ich holte mein Handy aus der Tasche. Es hatte bereits wieder aufgehört zu klingeln, aber zu meinem Schreck entdeckte ich, dass es nicht Auris Anrufe waren, die ich verpasst hatte, sondern die meiner Mom.

  Shit!

  Amicia hatte nicht übertrieben. Sie hatte in den letzten sieben Minuten sechsmal versucht, mich anzurufen.

  Das war nicht normal. Ein nervöses Ziehen breitete sich in meiner Brust aus, als ich die Rückruftaste drückte.

  Meine Mom ging nach dem ersten Klingeln ran.

  »Cassie?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

  Alle Alarmglocken in mir schrillten auf. Es klang, als hätte sie geweint. »Ja«, antwortete ich zögerlich. »Was ist los?«

  Ich hörte, wie sie tief Luft holte, als müsste sie um Fassung ringen. Dabei entstand eine Pause, die nicht länger als drei oder vier Sekunden dauerte, aber vollkommen ausreichte, um Ungeduld und Angst in mir zu säen.

  Ich warf Lucien einen verunsicherten Blick zu.

  »Hermine ist tot.«

  »Was?«

  »Sie hat heute Morgen einen Giftköder gefressen«, sagte meine Mom mit einem lauten Schniefen. »Wir sind sofort mit ihr zum Tierarzt gegangen, aber der konnte nichts mehr für sie tun, und wir wollten nicht, dass sie leidet.«

  Ich schwieg.

  Hermine war tot.

  Ich konnte es nicht glauben …

  Meine Eltern hatten mir die kleine Mischlingshündin zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt, nachdem ich mir jahrelang sehnlichst ein Haustier gewünscht hatte. Ich hatte sie schweren Herzens zurückgelassen, als ich nach Mayfield gezogen war. Immerhin war Hermine auf dem Dorf groß geworden. Sie war Wiesen, Felder und Wälder gewohnt, das hatte ich ihr nicht wegnehmen wollen.

  »Cassie? Bist du noch dran?«

  Ich nickte, bis mir klar wurde, dass meine Mom mich nicht sehen konnte. »Ja.«

  »Es tut mir furchtbar leid, mein Schatz.«

  »Schon okay«, antwortete ich, obwohl der Tod meiner Hündin alles andere als »okay« war, aber was hätte ich sonst sagen sollen? Meine Mom hatte Hermine den Giftköder gewiss nicht mit Absicht zu fressen gegeben. Sicherlich machte sie sich schon genug Vorwürfe, ohne dass ich es tat.

  »Bist du dir sicher?«

  Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. »Ja.«

  Der Tonfall meiner Mom war sanft und liebevoll, als sie hinzufügte: »Dein Dad möchte sie gerne unter der Fichte im Garten begraben.«

  Eine Pause entstand.

  »Okay …«

  »Wenn du vorbeikommen möchtest, um dich zu verabschieden …«, setzte meine Mom an. »Wir können gerne auf dich warten.«

  Verdammt!

  Tränen stiegen in mir auf, aber ich durfte jetzt nicht weinen, das würde Luciens Arbeit ruinieren.

  »Nein, macht ihr nur.«

  »Wirklich? Wir bezahlen dir auch gerne den Flug.«

  »Danke, aber so ist es besser.« Die Vorstellung, nach Hause zu fahren, um ein letztes Mal meine tote Hündin zu sehen, war zu grausam. Ich wollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte, und dieses Bild nicht durch den Anblick ihres kalten, leblosen Körpers ersetzen. Allein der Gedanke daran reichte aus, ein schmerzhaftes Echo in meiner Brust zu erzeugen. Ja, sie war schon eine alte Hündin gewesen, aber sie war nicht einfach in Frieden entschlafen. Sie war vergiftet worden und hatte in den letzten Stunden ihres Lebens vermutlich schrecklich gelitten.

  »Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte ich, da ich befürchtete, doch noch in Tränen auszubrechen, wenn ich nur eine Sekunde länger mit meiner Mom sprach. »Ich ruf später noch mal an.«

  »Ich bin für dich da, mein Schatz. Ich hab dich lieb.«

  »Ich dich auch«, erwiderte ich und beendete das Telefonat.

  Benommen ließ ich mein Handy sinken und starrte auf das Display. Mit einem Klick schloss ich die Anruferoberfläche, sodass der Home-Bildschirm aufleuchtete, auf dem Hermine zu sehen war. Hin und wieder hatte ich auch ein anderes Foto als Hintergrund ausgewählt, war aber früher oder später immer wieder zu einem Bild meiner Hündin zurückgekehrt. Der Anblick ihrer geknickten Ohren und ihres struppigen Fells hatte mir einfach jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

  »Ist alles in Ordnung?« Lucien musterte mich mit besorgtem Blick.

  Ich nickte.

  Seine Skepsis war nicht zu übersehen. »Was wollte deine Mom?«

  »Ach, nichts Wichtiges«, log ich und schluckte schwer, um die Tränen herunterzuwürgen. Ich hasste es, vor anderen Menschen zu weinen. Aufgrund meiner Größe hielten mich die meisten ohnehin für zart und schwach, und ich wollte auf Lucien nicht derart verletzlich wirken. »Mach einfach weiter.«

  »Bist du dir sicher?«

  Ich nickte erneut und zwang mich zu einem Lächeln, das unmöglich echt wirken konnte. Doch nach kurzem Zögern machte sich Lucien wieder an die Arbeit.

  Irgendwann fragte ich ihn, ob er Musik anmachen könne, und einen Moment später plärrte eine seiner Lieblingsbands – Code Orange – durch den Keller. Die Musik war scheußlich, laut und aggressiv, aber genau das, was ich brauchte, um mich nicht in meiner Trauer zu verlieren.

  Endlich saß ich im Bus nach Hause. An der übernächsten Haltestelle musste ich aussteigen.

  Meine Augen brannten von den ungeweinten Tränen, die ich seit Stunden zurückhielt. Die ganze Fahrt über hatte ich aus dem Fenster gestarrt und die vorbeiziehenden Gebäude mit einer noch nie zuvor da gewesenen Aufmerksamkeit betrachtet, um nicht an Hermine denken zu müssen. Über den Dächern der Stadt zog sich die Sonne bereits zurück, und die ersten blassen Sterne, die sich um eine silberne Mondsichel scharten, waren zu erkennen. Es war der erste Tag seit über zehn Jahren, der ohne Hermine ein Ende finden würde …

  Nein, so durfte ich nicht denken!

  Ich holte tief Luft und setzte mich so aufrecht, dass die Muskeln in meinem Rücken gegen die unnatürliche Haltung protestierten. Doch zumindest lenkte mich der stechende Schmerz von der quälenden Leere ab, die der Anruf meiner Mutter in meinem Herzen zurückgelassen hatte.

  Der Bus stoppte an meiner Haltestelle, und ich stieg aus. Die Luft war warm und schwül, die Stadt schien vor Erwartung eines erfrischenden Sommergewitters geradezu zu vibrieren. Vor unserem Wohnhaus entdecke ich Mr Farmer, unseren Vermieter, der zusammen mit einem Handwerker in leuchtender Sicherheitsweste irgendetwas inspizierte. Ich grüßte die beiden und huschte dann schnell durch die bereits offen stehende Haustür. Mühsam schleppte ich mich die Stufen zur Wohnung hoch, wobei mich jeder Schritt mehr Kraft zu kosten schien als der vorhergehende.

  Im dritten Stock angekommen schwang plötzlich die Tür zu Micahs und Julians Wohnung auf.

  Ich erstarrte.

  Micah kam heraus. »Hey …« Als ihr Blick an meinem Gesicht hängen blieb, hielt sie abrupt in der Bewegung inne. Ihr Lächeln verschwand, während sie mich aufmerksam musterte. »Geht es dir gut?«

  »Klar«, log ich mit demselben falschen Lächeln, mit dem ich bereits Lucien abgespeist hatte. Ich war mir sicher, dass er mich geradewegs durchschaut hatte, aber er redete selbst nicht gerne über seine Gefühle, also war er meine Lüge schweigend übergangen.

  Micah hingegen tru
g ihr Herz auf der Zunge. »Es sieht aus, als hättest du geweint.«

  »Nein, nein, alles bestens.« Ich durchsuchte meine Tasche nach dem Wohnungsschlüssel, um möglichst schnell aus dem Hausflur flüchten zu können. »Das ist nur eine Allergie.«

  »Davon wusste ich gar nichts.« Sie klang nicht überzeugt, und ich konnte weiterhin ihren misstrauischen Blick auf mir spüren. Dabei wollte ich einfach nur ins Bett, um hemmungslos in mein Kissen zu schluchzen.

  »Wo willst du hin?«, erkundigte ich mich, bevor Micah die Gelegenheit hatte, weitere Fragen über meine erfundene Allergie zu stellen.

  »In den Comicbuchladen. Ted wollte mit mir die neusten Notizen zur Albtraumlady durchgehen.«

  »Cool. Berichte, wie es gelaufen ist.«

  »Möchtest du mit?«

  »Nein, ich nehm lieber mein Allergiemittel und leg mich etwas hin.«

  Micah ließ sich mit ihrer Antwort eine Sekunde zu lange Zeit, doch schließlich nickte sie. »Gute Besserung.«

  »Danke«, erwiderte ich und huschte an meiner besten Freundin vorbei.

  Mit zittrigen Fingern schloss ich die Tür zur Wohnung auf und schlüpfte ins Innere. Kraftlos ließ ich mich gegen die Tür sinken. Das war knapp gewesen.

  Ich ließ den Blick durch die Wohnung schweifen, aber von Auri war keine Spur zu sehen. Dankbar ließ ich die Tasche von meiner Schulter gleiten, die mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug. Dann hastete ich in mein Zimmer und ließ mich geradewegs auf mein ungemachtes Bett fallen.

  In der Erwartung von warmen, salzigen Tränen, die mir jeden Augenblick über die Wangen laufen würden, rollte ich mich zusammen. Doch mein Gesicht blieb trocken. Ich konnte die Tränen spüren, aber ich vergoss sie nicht. Es war, als wäre der Staudamm, den ich zwischen der Außenwelt und meiner Trauer errichtet hatte, zu hoch, um überwunden zu werden.

  Dennoch blieb ich im Bett liegen. Lethargisch starrte ich die Wand meines Zimmers an. Erinnerungen an Hermine tauchten auf und wurden von anderen Überlegungen abgelöst, nur um begleitet von Schuldgefühlen wieder zurückzukehren. Hätte sie den Giftköder vielleicht nicht gefressen, wäre ich da gewesen, um mit ihr Gassi zu gehen? Sie hatte sich immer so gefreut, wenn ich nach Hause gekommen war. Schwanzwedelnd hatte sie mich stets an der Tür begrüßt, noch bevor meine Eltern Gelegenheit dazu gehabt hatten, mich zu umarmen. Ich würde nie wieder auf diese Weise von ihr begrüßt werden, zumindest nicht in diesem Leben.

  Es klopfte an meine Tür, die gleich darauf geöffnet wurde.

  Verdammt, ich hatte vergessen abzusperren!

  Ich wollte Auri zurufen, dass er draußen bleiben sollte, aber da stand er bereits in meinem Zimmer.

  »Hey, ich hab dir dein Insulin aus der Apotheke …« Auri hielt mitten im Satz inne, als er mich auf dem Bett liegen sah. »Ist alles in Ordnung?«

  »Ich bin nur müde«, erwiderte ich. Meine Stimme klang rau und brüchig von den Minuten – oder waren es bereits Stunden? –, in denen ich nicht mehr gesprochen hatte.

  Auri neigte den Kopf und musterte mich. Es war, als könnte er geradewegs durch meine Lüge hindurchschauen. »Was ist los?«

  »Nichts, es geht mir … gut.« Der Staudamm, der bis zu diesem Augenblick meine Tränen zurückgehalten hatte, beschloss mit dem letzten Wort zu brechen. Dicke Tränen rollten mir über die Wangen und erschütterten meinen Körper.

  Fuck!

  Ich wandte mein Gesicht von Auri ab, aber natürlich hatte er längst bemerkt, was vor sich ging. Mit fünf großen Schritten war er bei mir. Ohne zu zögern, nahm er mich in die Arme.

  »Sch-sch, alles ist gut«, murmelte er in mein Ohr und wiegte mich sanft hin und her.

  Innerhalb eines Herzschlags brachte er damit jeden Fluchtinstinkt in mir zum Erliegen. In seinen Armen zu weinen, fühlte sich auf merkwürdige Art und Weise richtig an. Als hätten meine Tränen nicht auf das Alleinsein gewartet, sondern auf Auri, um Trost in seiner Berührung zu finden. Ich konnte es ihm in diesem Moment nicht sagen, aber seine Stimme zu hören, beruhigte mich ungemein. Und plötzlich war ich froh darüber, meine Zimmertür nicht abgeschlossen zu haben.

  Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Erst jetzt bemerkte ich, dass sein Shirt nass war. Es roch nach Regen und feuchtem Gras. Ich klammerte mich daran fest, um Halt zu finden, als die Trauer mich tiefer und tiefer zu ziehen drohte. Plötzlich vermisste ich Hermine mit einer Intensität, wie ich sie die letzten Wochen nicht verspürt hatte. Der Wunsch, noch einmal mit ihr über eine Wiese zu jagen, war plötzlich übermächtig und ließ meine Tränen noch heftiger strömen. Ich bekam kaum mehr Luft, und es fühlte sich an, als würde etwas von innen gegen meinen Kopf drücken. Ein pochender Schmerz machte sich hinter meinen Schläfen breit.

  Auri strich mir zärtlich über den Kopf und flüsterte beruhigende Worte in mein Ohr.

  Nach einer Weile ebbten meine Tränen ab, und zurück blieben nur vereinzelte Schluchzer.

  Ich hörte ein Rascheln, dann reichte mir Auri mit fragendem Blick ein Taschentuch.

  Ich putzte mir die Nase und sah zu ihm auf. »Danke.«

  Er lächelte schwach. Der Ausdruck in seinen braunen Augen wirkte gequält, als bereitete es ihm körperliche Schmerzen, mich so verzweifelt zu sehen. Zaghaft legte er eine Hand an mein Gesicht, um die letzten Tränen wegzuwischen.

  Als ich unwillkürlich meine Wange in seine Handfläche schmiegte, huschte eine Regung über sein Gesicht, die ich nicht ganz deuten konnte.

  »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«

  Ich atmete tief durch. »Hermine ist tot.«

  »Scheiße«, fluchte Auri. Er hatte meine Hündin nie persönlich getroffen, aber er kannte all meine Geschichten über sie und jedes Video von ihr, das auf meinem Handy gespeichert war. »Das tut mir furchtbar leid, Cassie. Kann ich etwas für dich tun?«

  »Du bist hier, das ist genug«, antwortete ich und wünschte, er würde mich noch einmal in den Arm nehmen.

  Auri schien meinen Gedanken zu lesen. Doch statt mich einfach nur zu umarmen, rutschte er auf die andere Seite meines Bettes und legte sich hin. Auffordernd streckte er mir eine Hand entgegen.

  Ich kuschelte mich zu ihm, meinen Kopf auf seine Brust gebettet. Wir lagen öfter auf diese Art vor dem Fernseher, weil es die einzige Position war, in der wir beide bequem während eines Serien- oder Filmmarathons liegen konnten.

  »Wie war dein Tag?«, fragte ich, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

  »Gut. Ich habe zwei der neuen Spieler kennengelernt.«

  »Und?«

  »Bridger und Zayn, scheinen nette Typen zu sein. Aber ich glaube, sie hatten etwas Angst vor mir.«

  »Wie kommst du darauf?«

  »Bridger hat mich die ganze Zeit ›Sir‹ genannt.«

  Ein Lächeln zerrte an meinen Mundwinkeln. »Du könntest sie zu uns einladen«, schlug ich vor. »Wenn ihr abseits des Spielfelds ein bisschen Zeit verbringt, lockert das sicherlich die Stimmung.«

  »Gar keine schlechte Idee. Danke.« Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.

  »Gerne«, erwiderte ich und kuschelte mich enger an ihn.

  Es fühlte sich wunderbar an, ihm so nahe zu sein, und für einen kleinen – einen klitzekleinen – Moment vergaß ich, warum ich traurig war. Bis es mir wieder einfiel und ich erneut zu weinen begann. Nicht laut und verzweifelt wie zuvor, sondern leise und andächtig trugen die Tränen meinen Schmerz von innen nach außen.

  Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich Hermine nie wiedersehen würde. Ich würde nie wieder mit ihr durch den Park spazieren, nie wieder einen Ball für sie werfen, den sie mir mit wedelndem Schwanz zurückbrachte. Und wenn ich in wenigen Wochen nach Hause kam, wäre ihre Hundehütte leer, und ihre Näpfe, die mein halbes Leben lang in der Küche gestanden hatten, wären weg. Genau wie sie.

  6. Kapitel

  Meine Augenlider waren verklebt von meinen Tränen, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich sie öffnen konnte.

  Ich blinzelte. Langsam klärte sich mein Blick, und ich starrte an die Decke meines Zimmers, bemüht, meinen Verstand leer zu halten. Es funktionierte nicht. Bereits wenige Sekunden später holte m
ich die Erinnerung an den gestrigen Tag ein. Abermals formte sich ein Kloß in meinem Hals.

  Ich rollte mich in meinem Bett herum und schluchzte in mein Kissen. Es roch nach Auri. Er war die ganze Nacht über bei mir geblieben. Am Morgen hatte sein Wecker im Zimmer nebenan so laut Alarm geschlagen, dass wir beide davon wach geworden waren. Mit einer leise gemurmelten Entschuldigung hatte er sich aus dem Bett gequält, um zum Training zu gehen.

  Ich bewunderte Auri für seine Disziplin. Um diese Uhrzeit stand ich höchstens auf, wenn ich aufs Klo musste, und das auch nur, wenn es sich um einen superdringenden »Ich kann keine zehn Minuten länger warten«-Notfall handelte.

  Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen, ehe ich die Energie aufbrachte aufzustehen. Ich maß meine Blutwerte und tauschte meine Insulinpumpe aus, ehe ich mich ins Badezimmer schleifte. In Zeitlupe schälte ich mich aus den muffigen Klamotten, die ich bereits seit dem Vortag trug, und stieg unter die Dusche. Das Wasser stellte ich so warm, dass es dampfend auf mich herabregnete, so wie ich es mochte. Da Auri bereits gegangen war, konnte ich hier so lange bleiben, wie ich wollte.

  Den Kopf in den Nacken gelegt, damit das Wasser die getrockneten Tränen von meinem Gesicht waschen konnte, blieb ich reglos unter dem Strahl stehen, bis die Duschkabine einer Sauna ähnelte.

  Schließlich stellte ich das Wasser ab und wickelte mich in ein Handtuch. Der Dampf hatte die Luft im Badezimmer feucht und schwer werden lassen. Ich rubbelte mein Haar trocken, bevor ich ans Waschbecken trat. Gerade wollte ich nach meiner Zahnbürste greifen, als ich entdeckte, dass auf dem beschlagenen Spiegel eine Nachricht stand, die erst der Dampf sichtbar gemacht hatte.

 

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