by Laura Kneidl
Lucien schnaubte nur. »Damit komm ich klar.«
»Ich will aber ein Tattoo!«
»Und ich will eine Schwester, die mir nicht auf die Nerven geht«, erwiderte er mit gelangweiltem Blick. »Siehst du, wir alle wollen Dinge, dir wir nicht bekommen können. Und jetzt iss, bevor es kalt wird.«
»Ach Mann …« Enttäuscht ließ sich Amicia auf ihrem Stuhl zurückfallen und begann mit ihrer Gabel übertrieben theatralisch eine Kartoffel zu zerdrücken.
Lucien verdrehte die Augen, als wäre es nicht das erste Gespräch dieser Art, das er mit Amicia führte. Vermutlich war er es gewohnt, der Buhmann in ihrem Leben zu sein.
Da keiner der beiden mehr etwas zu dem Thema sagte, aßen wir schweigend, bis es plötzlich an die Tür klopfte.
Lucien hob den Kopf. »Wehe, das ist Brooklyn. Ich habe dir gesagt: unter der Woche keine Besuche mehr nach acht.«
»Das ist nicht Brooklyn, sie ist bei ihren Großeltern.«
Mit misstrauischer Miene, als würde er ihr nicht unbedingt glauben, stand Lucien auf, um die Tür zu öffnen.
Ich pikte eine einzelne Erbse auf meine Gabel und schob sie mir in den Mund.
»Was willst du hier?«, hörte ich Lucien fragen.
»Das weißt du ganz genau«, antwortete eine Stimme, die mir so vertraut war wie meine eigene.
Ich versteifte mich. Dabei hätte es mich eigentlich nicht überraschen dürfen, dass Auri hier auftauchte, nachdem ich all seine Nachrichten und Anrufe ignoriert hatte.
»Ist Cassie da?«
»Nein.«
Ich spähte über die Schulter Richtung Tür. Da Lucien sie nur einen Spaltbreit geöffnet hatte, versperrte sie mir den Blick auf Auri. Aber ich konnte sehen, wie Lucien seine Arme verschränkte und die Muskeln anspannte, als wäre das hier ein Nachtclub und Auri der ungebetene Gast, der keinen Zutritt bekommen sollte.
»Lüg mich nicht an.« Auris Stimme klang kratzig und irgendwie verloren. Ich erkannte mich selbst in ihrem Klang wieder.
Mein Herz krampfte sich zusammen, und in meinen Beinen zuckte es. Ich wollte aufstehen und zu ihm gehen.
»Okay, sie ist da«, gab Lucien zurück.
Auri zögerte. »Kann ich mit ihr reden?«
»Das hab nicht ich zu entscheiden.«
»Lucien, bitte …«, drängte Auri, nun deutlich verzweifelt.
Ich kämpfte gegen die Tränen und die Erinnerungen an, die mich einmal mehr heimsuchten und erneut zu verletzen drohten.
Lucien spannte den Kiefer an. »Ich frag sie.«
»Mehr verlang ich nicht.«
Kaum hatte Auri die Worte ausgesprochen, knallte ihm Lucien die Tür vor der Nase zu. Er atmete schwer aus und wandte sich an mich. Seine Gesichtszüge wurden weicher. »Es ist Auri. Er will mit dir sprechen.«
»Ich weiß.«
»Soll ich ihn wegschicken?«
Ich war dankbar, dass Lucien die Frage auf diese Weise formuliert hatte, denn ich wusste nicht, ob ich dazu in der Lage gewesen wäre, mehr als ein Nicken zustande zu bringen. Es fiel mir dennoch schwer, aber es war das Beste. Ich brauchte noch Zeit.
Zeit, um zu heilen.
Zeit, um nachzudenken.
Zeit, um vielleicht zu vergessen.
Lucien lächelte mitfühlend, bevor er die Tür wieder öffnete und sich sein Blick erneut verdüsterte. »Sie will dich nicht sehen.«
Auri erwiderte nichts. Es war, als hätte ihm der Satz die Worte aus dem Mund geraubt.
Als das Schweigen andauerte, wuchs in mir die Furcht, dass Auri einfach auf dem Absatz kehrtgemacht hatte, ohne noch etwas zu sagen, und diese Vorstellung war aus irgendeinem Grund schrecklicher als alles andere.
»Cassie!«
Sofort legte Lucien die Hand in den Türrahmen, als befürchtete er, Auri könnte sich an ihm vorbeidrängen wollen.
Doch er versuchte nichts dergleichen. »Es tut mir leid!«, fuhr er fort. Seine Worte richteten sich dieses Mal nicht an Lucien, sondern geradewegs an mich. »Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut. Aber ich will es wiedergutmachen. Bitte! Ich vermisse dich. Komm zurück.«
Meine Lippen teilten sich, doch kein Ton verließ meinen Mund. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. In meinem Kopf herrschte Leere. Der Wunsch, Auri fernzubleiben, war ebenso groß wie der, ihm wieder nahe zu sein. Ich war zerrissen zwischen den beiden Empfindungen. Es gab kein Richtig und kein Falsch. Es gab nur meine Entscheidung …
Luciens Blick zuckte von Auri zu mir und wieder zu Auri, dann schüttelte er den Kopf. »Auf Wiedersehen, Maurice.« Er schloss die Tür und verriegelte sie.
Zitternd legte ich die Gabel beiseite, an der ich mich die letzte Minute lang festgeklammert hatte wie an einem Rettungsring. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand mit weichen Knien langsam auf, um zum Fenster zu gehen. Ich wusste nicht, warum ich es tat. Es war ein Zwang, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich musste ihn einfach sehen.
Vorsichtig schob ich den Vorhang zurück.
Auri lief die Auffahrt zurück zu seinem Wagen, der am Straßenrand parkte. Seine Schultern hingen schlaff hinab, und sein Gang wirkte kraftlos. Sein Wagen blinkte, als er die Türen entriegelte, und kurz bevor er einstieg, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht. Schmerzverzerrt und gebrochen. Er sah müde aus, schrecklich müde.
Es brach mir das Herz.
34. Kapitel
Am nächsten Tag fuhr ich nach Hause zu meinen Eltern. Ich brauchte Abstand von meinem Leben in Mayfield.
In meiner alten Heimat gab es nichts, das mich an Auri erinnerte, doch das änderte nicht viel. Ich dachte ständig an ihn, und meine Eltern bemerkten schnell, dass etwas nicht stimmte. Ich erzählte ihnen, dass es einen Streit mit Micah gegeben hatte. Die Lüge kam mir nicht leicht über die Lippen, aber ich wollte nicht noch einmal die schmerzlichen Erinnerungen aus Kalifornien durchleben müssen.
Meine Mom bekochte mich, um meinen Kummer zu vertreiben, und nachdem ich zwei Tage auf der Couch verbracht hatte, gelang es meinem Dad, mich zur Gartenarbeit zu animieren. Ich packte nicht wirklich mit an, da ich einen schwarzen Daumen besaß. Aber ich leistete ihm Gesellschaft, während er in den Beeten herumhackte, und hin und wieder konnte ich ihm eine Schaufel oder einen Eimer reichen. Wir redeten über alles und nichts. Er erzählte mir von der Arbeit und seiner Kollegin Doris, die Streit mit ihrem Mann hatte. Aus seinen früheren Geschichten wusste ich allerdings, dass es keine Kollegin namens Doris gab. Er hatte meine Lüge durchschaut und versuchte mir auf seine verschrobene Art und Weise einen Rat in Sachen Liebeskummer zu geben.
Ich hatte Dad und Mom wirklich vermisst, und es fiel mir schwer, Abschied zu nehmen, als ich wieder zurück nach Mayfield musste, um ins neue Semester zu starten. Lucien ließ mich weiterhin bei sich wohnen, da ich es selbst nach der Auszeit noch nicht über mich brachte, zurück in meine alte Wohnung zu gehen, um mit Auri dort alleine zu sein.
Den ersten Tag auf dem Campus bekam ich Auri nicht zu Gesicht, obwohl mein Blick wie von selbst ständig nach ihm zu suchen schien. Ich machte einen großen Bogen um die IT-Fakultät und den Sportplatz. Und meine Mittagspausen verbrachte ich versteckt an einem Ort, den mir Micah gezeigt hatte und der sich die Oase nannte. Ein Garten, verborgen auf dem Dach des Architekturgebäudes.
Doch mein Glück währte nicht ewig. Das erste Mal sah ich Auri auf dem Parkplatz. Er stand dort mit Jeremy und einigen anderen Jungs aus dem Team. Das zweite Mal entdeckte ich ihn vor der Mensa, und das dritte Mal stand er im Gang einer Fakultät und unterhielt sich mit seinem Professor. Von da an schienen wir uns ständig ungewollt über den Weg zu laufen, und jedes Mal zog es mir aufs Neue den Magen zusammen. Zwar war meine Wut auf Auri allmählich abgeklungen, aber meine Zweifel waren geblieben.
Ich liebte ihn, und vermutlich führten wir in Tausenden Paralleluniversen eine glückliche Beziehung, aber in dieser Welt – in meiner Welt – war mein Vertrauen in Auri noch immer zerrüttet. Und ich wusste einfach nicht, wie es mit uns weitergehen sollte.
»Aliza kommt heute nicht mit«, sagte Micah, die mit unglücklicher Miene und tropfendem Haar vor mir stand.
Ich trat einen Schritt vor, damit
sie mit unter meinen Schirm schlüpfen konnte. Es goss seit dem Morgen in Strömen, und der dicken Wolkendecke nach zu urteilen, würde es auch nicht so bald wieder aufhören.
»Wieso nicht?«
»Sie hat einen Telefontermin mit ihrem Agenten. Wir sind heute also mal wieder nur zu zweit.«
Wir verließen den Campus und liefen in Richtung Wild Olive – ein vegetarisches Restaurant, das Micah und Aliza während ihres ersten Semesters entdeckt hatten und in dem sie seither regelmäßig ihre Pausen verbrachten.
»Schade. Ich hab sie wahnsinnig lange nicht mehr gesehen.«
Micah zuckte mit den Schultern, aber ich kaufte ihr das Desinteresse nicht ab.
»Konntest du inzwischen noch einmal mit ihr über ihren Workload reden?«, fragte ich und drängte mich enger an Micah, da mein linker Ärmel bereits vom Regen durchnässt war.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat ja nie länger als fünf Minuten Zeit.«
»Das wird sich wieder ändern«, versicherte ich ihr, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Ich kannte Aliza nicht so gut wie sie, aber irgendwann musste auch bei ihre eine Wende kommen. Es konnte schließlich nicht ewig gleich weitergehen.
Um Micah abzulenken, fragte ich sie nach ihren neuen Kursen, nun da sie offiziell Kunst studierte.
Sie war von jedem einzelnen restlos begeistert und sprach mit einer Hingabe über das Studium, wie sie es zu Jura-Zeiten nie getan hatte.
Wir erreichten das Wild Olive. Ich schüttelte meinen Schirm aus und stellte ihn in den Ständer im Eingang, ehe wir uns an unseren Stammplatz an dem Fenster setzten, das nicht ganz dicht war. Kühler Wind pfiff durch die Ritzen. Der Herbst war im Anmarsch, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Blätter bunt färbten und von den Ästen fielen.
Ich klappte die Speisekarte auf, obwohl ich sie mittlerweile auswendig kannte, aber ich konnte mich einfach nie entscheiden. Es schmeckte alles gut, und ich war ausgehungert von meinem Power-Vormittag mit drei Kursen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hatte, meinen Stundenplan so vollzupacken. Vermutlich hatte ich während der Kursbelegungen an Unterzucker gelitten, anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb ich mir diese Folter freiwillig antat.
»Cassie.« Micahs Stimme klang so schrill, dass sie mich sofort in Alarmbereitschaft versetzte.
Ich sah von der Speisekarte auf. »Was ist?«
Mit weit aufgerissenen Augen streckte sie mir ihr Handy entgegen. »Hast du Auris neusten Insta-Post schon gesehen?«
»Nein«, antwortete ich, ohne zu erwähnen, dass ich seine Beiträge bereits vor einer Weile stumm geschaltet hatte, genau wie seine Nachrichten. Ihn ständig unerwartet in meinem Feed zu sehen, hatte mir ziemlich zugesetzt, und irgendwann hatte ich die kluge Entscheidung getroffen, ihn zu blockieren. Es hatte nicht viel geholfen, aber immerhin etwas.
Kommentarlos reichte Micah mir ihr Handy, sodass mir gar keine andere Wahl blieb, als mir Auris neusten Beitrag anzuschauen.
Ich nahm ihr das Telefon aus der Hand.
#throwbackthursday. Meine beste Freundin und ich, nur wenige Monate nachdem wir zusammengezogen sind.
Das Bild, das mir vom Display entgegenleuchtete, ließ mich schwer schlucken. Es war vor knapp zwei Jahren entstanden. Meine Haare waren damals noch wesentlich kürzer gewesen, und Auri hatte auf dem Foto ein Pflaster am Kinn, da er kurz zuvor in der Dusche ausgerutscht war.
Ich konnte mich noch lebhaft an den Tag erinnern. Ich hatte auf der Couch gelegen, als ich plötzlich einen lauten Knall aus dem Badezimmer hörte. Ich war aufgesprungen und hatte panisch gegen die Tür geschlagen aus Angst, Auri könnte ohnmächtig mit dem Gesicht voraus in einer Wasserlache liegen. Doch er hatte mir geöffnet und versichert, dass alles gut sei, während sich ein Rinnsal Blut einen Weg über seine nackte Brust gebahnt hatte. Ich hatte ihn verarztet, und kurz darauf war dieses Bild entstanden, als eine Art Andenken an den Tag.
Ich konnte nicht glauben, dass Auri es noch immer abgespeichert hatte, und noch weniger konnte ich glauben, dass er es gepostet hatte. Es war das erste Foto seit Jahren auf seinem Profil, das nichts mit Football zu tun hatte.
Ich öffnete die Kommentare und war überrascht von den Rückmeldungen seiner Fans, die fast durchgehend positiv waren. Ich scrollte wieder hoch zu dem Bild und blickte in Auris lustig verzogenes Gesicht. Ich hatte damals wahnsinnig über das Foto gelacht, und auch jetzt musste ich schmunzeln.
»Das ist wirklich ein süßes Bild von euch«, kommentierte Micah. »Ich vermisse es, euch beide zusammen zu sehen.«
»Ich auch«, gestand ich.
Micah nahm mir das Handy wieder ab. »Du solltest wirklich mit ihm reden. Und das sag ich nicht nur, weil ich mit Julian und euch auf ein Doppel-Date gehen möchte.«
Ich lachte und zupfte nervös an der Laminierung der Speisekarte, die sich an einer Ecke gelöst hatte. »Diese Idee lässt dich wirklich nicht mehr los, oder?«
»Ich will euch einfach wieder glücklich sehen«, sagte Micah und griff nach meiner Hand, um meine Finger ruhig zu halten. »Auri geht es miserabel. Ich hab ihn noch nie so erlebt. Und ehrlich gesagt warst du auch schon mal fröhlicher.«
Ich senkte den Blick. »Ich weiß.«
»Dann rede mit ihm.«
Die aufrichtige Besorgnis in ihrer Stimme ließ mich zusammenfahren. Ich wünschte mir, es wäre so leicht gewesen. Ich wünschte mir, ich hätte einfach zu Auri marschieren und mit ihm reden können, so wie früher, aber da war nun eine Barriere zwischen uns, und noch fehlten mir die Kraft und der Mut, sie zu überwinden.
Ich presste die Lippen aufeinander und begann angestrengt zu blinzeln, um nicht loszuweinen. In letzter Zeit war ich sehr nah am Wasser gebaut.
»Bitte«, drängte Micah und drückte meine Hand fester. »Denk zumindest darüber nach. Ihr beide braucht das. So kann es nicht weitergehen.«
Ich würgte meine Tränen hinunter und nickte, aber nur weil ich ohnehin an nichts anderes denken konnte als daran, endlich wieder mit Auri zu reden. Ein Teil von mir wünschte sich, einfach »Fick dich« sagen und ein glückliches Leben ohne ihn führen zu können. Aber so einfach war es nicht. Auri zu vergessen, war alles andere als leicht – es war unmöglich. Er war in den letzten Jahren fester Bestandteil meines Lebens geworden, und ich spürte seine Abwesenheit deutlich, vor allem in den kleinen Momenten. Beim Zähneputzen am Morgen. Tagsüber beim Abwasch. Oder am Abend, wenn ich zum Einschlafen ein Hörbuch hörte. Langsam, aber stetig hatte er sich in den letzten Jahren zuerst in meinem Verstand und schließlich in meinem Herzen eingenistet. Und dort saß er jetzt. Vielleicht für immer.
35. Kapitel
Eine Woche später …
Football ist nicht meine einzige Leidenschaft. Seit ein paar Jahren besuche ich regelmäßig LARPs und mache Cosplays – zusammen mit meiner besten Freundin. Gemeinsam waren wir als Ciri und Geralt auf der diesjährigen SciFaCon. Ich finde, wir sehen gut aus!
Maurice Remington, Starspieler des Footballteams, war ein Cosplayer. Das Geheimnis war aus dem Sack. Und Auri selbst hatte es gelüftet. Ich traute kaum meinen eigenen Augen.
Gedankenlos hatte ich an diesem Morgen noch vollkommen verschlafen nach meinem Handy gegriffen, um noch etwas Zeit zu vertrödeln, ehe ich aufstehen musste. Ich hatte Auri vor ein paar Tagen wieder freigeschaltet, nachdem er das Selfie von uns gepostet hatte, und ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.
Ich starrte das Bild von uns an und empfand dabei so viele unterschiedliche Dinge, dass mir schwindelig wurde. Mein Verstand versuchte noch die Bedeutung hinter dem Beitrag zu verstehen, während mein Herz so aufgeregt pochte, als wollte es mir aus der Brust springen und schnurstracks zu Auri rennen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben musste, diesen Beitrag abzuschicken. Jemand anderem wäre es vielleicht wie eine Nebensächlichkeit erschienen, aber das war es nicht. Nicht für Auri. Er offenbarte damit der Welt seine verletzlichste Seite, und die Kommentare unter dem Bild zeigten deutlich, dass seine Angst, ausgelacht zu werden, nicht ungerechtfertigt war. Viele Leute bestärkten ihn und posteten Komplimente für unsere Kostüme, einige andere jedo
ch zogen ihn gnadenlos auf, so wie Cornell es getan hatte. Sie verstanden es einfach nicht …
Micah: OMG, hast du es gesehen?
Micah: Cassie?!
Micah: Warst du schon auf Instagram?
Micah: Geh auf Instagram!!1!!elf!
Micah: Cassie?????
Die Nachrichten von Micah ploppten im Sekundentakt auf meinem Display auf.
Ich öffnete den Messenger.
Cassie: Ja, hab ich.
Micah: Und?
Cassie: Was und?
Micah: Verzeihst du ihm?
Cassie: Nein.
Micah: Nein?
Micah: O_____O
Micah: Wieso nicht?
Micah: Der Beitrag ist so süß!
Micah: Erklärung!!!
Ich antwortete Micah mit einer Sprachnachricht. Sie hatte recht, der Beitrag war süß, und ich konnte nicht in Worte fassen, was es mir bedeutete, dass Auri endlich zu seiner nerdigen Seite stand. Auch wenn ich hoffte, dass er die Entscheidung, sich zu offenbaren, nicht nur meinetwegen getroffen hatte, sondern auch für sich selbst. Denn er würde damit leben müssen, egal, wie sich die Dinge zwischen uns entwickelten. Doch auch wenn ich noch nicht bereit war, ihm zu verzeihen, war ich immerhin bereit für ein Gespräch.
Kaum hatte ich Micah dies mitgeteilt, öffnete ich die Kontaktliste meines Telefons. Ich hatte so wenige Leute eingespeichert, dass Auri noch immer unter den zuletzt angerufenen Personen gelistet war, obwohl wir seit gut drei Wochen nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Es fühlte sich viel länger an.
Ich setzte mich auf mein Bett und holte tief Luft, ehe ich den Anruf-Button drückte. Meine Hand zitterte so stark, dass ich das Handy nicht ans Ohr hielt, sondern auf das Laken legte und den Lautsprecher anschaltete.
Es klingelte.
Und klingelte.
Und klingelte.
Und klingelte.
»Yo, ich kann gerade nicht ans Handy. Allerdings hör ich meine Nachrichten nie ab, also ja … hinterlass besser keine.«
Ich legte auf. Kurz überlegte ich, ihm zu schreiben, entschied mich dann aber dagegen. Ich wollte ein persönliches Gespräch mit ihm führen und keine Chat-Nachrichten austauschen.